ein Vorhaben stemmen können –, und dann brachten die wiederum Bekannte mit. Vielleicht werde ich später sagen dürfen, hier einige gute, neue Freunde gefunden zu haben. Immerhin befinden wir uns nun auf einer Basis, auf der man sich nicht voreinander verstellt. Wir stoßen täglich an unsere Grenzen, das kann schon ganz schön zusammenschweißen. So ein Teamwork wie hier lernt man in den teuersten Seminaren nicht – und auch nicht, wie man die Zähne zusammenbeißt.
Doch bevor ich nach Hause gehen kann, muss ich erst ein paar andere nach Hause schicken. Ein Blick in das fahle Gesicht einer Mitstudierenden genügt: „Du brauchst eine Pause!“
Sie seufzt: „Nein, ich muss das hier noch fertig machen.“
Ich schüttle vehement den Kopf: „Du musst jetzt eine Pause einlegen, sonst kippst du um.“
Sie seufzt wieder, resigniert aber dann und hört schließlich auf mich. Ich bin einer der Teamleiter hier und fühle mich mittlerweile wie der Chef eines mittelständischen Unternehmens. Da empfinde ich schon etwas Wehmut – natürlich packe ich an, aber wirklich die Finger schmutzig mache ich mir nicht. Ich kenne meine Produkte und meine Mitarbeiter, doch wie kommen die alle da draußen an im Krisengebiet? Bevor auch ich mich auf den Weg nach Hause mache, beschließe ich, morgen mal wieder einen Bezug zu den Dingen vor Ort herzustellen.
Nach einer kurzen Nacht kehre ich nicht an den Rechner zurück, sondern ziehe mir meine orangefarbene Weste mit der Aufschrift „Team Deggendorf räumt auf“ über. Besser als mit diesem Wort – „Team“ – kann man nicht auf den Punkt bringen, welcher Zusammenhalt in diesen Tagen vorherrscht. Die Menschen kommen von überall her, um anzupacken, nicht nur aus ganz Bayern, sondern auch aus anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. Unser Beitrag zur Fluthilfe ist schließlich, den Helfer gut zu betreuen. Findet dieser online keine Infos, wird er nicht losfahren. Kommt dieser an und findet keine Aufgabe, wird er frustriert sein.
Viele Betroffene sind überfordert. Ich plaudere mit ihnen, während ich als „Späher“ in Fischerdorf unterwegs bin. Zu Fuß, denn mit dem Auto ist es wegen des ganzen Schutts noch sehr schwierig, voranzukommen. Von meiner gelegentlichen Schüchternheit und Zurückhaltung keine Spur mehr – gewisse Dinge müssen nun einfach erledigt werden. Inzwischen kann man diesen Stadtteil wieder zu Fuß durchqueren, doch es riecht noch immer nach dem braungelben Brackwasser, das alles verschluckt hat, bis hin zu ganzen Verkehrsschildern und natürlich alles, was größenmäßig darunter lag. Obwohl viele Häuser kaum mehr bewohnbar sind, leben noch Menschen dort. Wo sollen sie auch sonst hin? Nun heißt es, das wieder aufzubauen, was die Flut ihnen genommen hat. Doch für viele wird es zu spät sein. Diese beklemmende Atmosphäre mag lähmen, doch uns ist es ein Bedürfnis, etwas dagegen zu tun, die Ärmel hochzukrempeln und das Beste aus einer furchtbaren Situation zu machen. Ich schirme meine Augen vor der Sonne ab, dieser unerbittlich brennenden Sonne.
Im Angesicht der Flut spürt man Demut. Wenn die Isar von einem ruhigen Gewässer zu einem reißenden Fluss geworden ist und man selbst verschont bleibt, wird einem klar, wie gut es einem geht. Und wie kann man nur ruhig herumsitzen, während andere leiden? Da mag es noch so heiß, und man selbst noch so müde sein. So beschäftige ich mich den Vormittag über damit, per Funk Benzin für Notstromaggregate klarzumachen, Schaufeln, Handschuhe zu besorgen. Als ich in unser kleines Büro zurückkomme, wo die Infrastruktur bestens ist, bin ich frisch motiviert.
Solche Begegnungen sind wichtiger als die mit VIPs. Vor ein paar Tagen stand plötzlich der Staatssekretär bei uns im Büro, und ich schickte ihn einfach weiter zu einer Kollegin, damit die sich mit ihm beschäftigte – im ganzen Stress hatte ich ihn nicht erkannt. So bin ich auch nicht allzu erpicht auf das Treffen mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck – denn das wird eineinhalb Stunden wertvolle Arbeitszeit füllen. Und das sage ich auch nur so halb im Scherz.
Natürlich ist sein Lob schon sehr nett, als wir alle im Büro zusammensitzen und es dort sehr eng wird – Platz für die Presse ist da zum Glück keiner. Während es in meinen Fingern nach einem schnellen Statusupdate juckt, wird der Politiker sehr persönlich.
Er ist ja auch stark couragiert und pusht uns für die letzten Tage – glücklich sei er, dass es, wenn es drauf ankommt, Leute gibt, die nicht abstumpfen. Vor allem junge Leute, bei denen es immer heiße, die lägen nur noch auf der faulen Haut rum, allen voran die Studenten. Er sei stolz darauf, sagt er fast großväterlich, diese Geschichte noch in fünfzig Jahren als mustergültiges Beispiel hernehmen zu dürfen. Beppo guckt ernst, ich reibe mir die Augen. Bald ist es geschafft. Doch dann geht der Trubel weiter, die Prüfungsphase steht uns bevor.
Oh, und ein weiteres Ereignis kündigt sich in den nächsten Tagen an: Ich werde vierundzwanzig.
Für eine große Feier hätte ich ohnehin nicht die Energie gehabt, und so machen wir zum ersten Mal das Beste aus dem sonnigen Wetter und setzen uns am vorletzten Tag unserer Aktion abends in den Biergarten. Das ganze Team ist anwesend; es ist wie ein Abschlussessen.
Mit hintergründigem Blick erhebt sich Beppo, um dem Team zu Ehren eine Rede zu halten. Er redet laut und mit stolzgeschwellter Brust, als er sich für die letzten Tage bedankt.
„Habe ich richtig gehört?“, erhebt sich in diesem Moment ein Herr vom Nachbartisch, „Ihr habt die Hilfsaktion durchgeführt?“
Überschwänglich schüttelt er uns nacheinander die Hand und stellt sich als Chef einer Firma vor, die komplett untergegangen ist.
„Was ihr getan habt, war brutal gut! Ohne euch wäre unser Betrieb so schnell nicht mehr auf die Beine gekommen!“ Ein paar seiner Mitarbeiter kommen hinzu, bedanken sich. Er fährt fort und treibt mir fast die Nässe in die Augen, so tief rein ins Herz gehen seine Worte: „Es ist nicht nur wichtig, dass ihr helft, sondern dass die Leute auch merken, dass sie nicht alleine sind!“
Für unsere Solidarität bekommen wir von ihm Freigetränke. Weniger wegen des Biers, mehr wegen seiner Worte hätte ich mir einen besseren Geburtstag kaum vorstellen können.
Das Blitzlichtgewitter und die Aufmerksamkeit der Leute endeten abrupt, als wir uns für zwei Tage zurückzogen, um uns auszuruhen und neue Kräfte zu tanken. Ich fuhr zu meinen Eltern in den Bayerischen Wald. Dort gab es zwar eine Grillparty, aber nicht mir zu Ehren, und ich wurde auch nicht wie ein Lokalmatador behandelt. Ich konnte mich gleich aufs Lernen konzentrieren.
Das Benefizkonzert auf dem Campus der Hochschule mit Xavier Naidoo und viertausend Besuchern, die um die vierundvierzigtausend Euro spendeten, verwischte vor meinen Augen, zu sehr musste ich mich auf den versäumten Studienstoff konzentrieren. Aber es war wohl schon ganz nett.
Und nun stehen wir hier. Es ist ein kühler Dezembertag. Wir tragen keine orangefarbenen Westen mehr, aber ganz überwunden haben wir die Ereignisse immer noch nicht. Die damalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder überreicht uns den Sonderpreis des Deutschen Engagementpreises. Fünftausend Euro. Noch ahnen wir nicht, dass das Geld auf dem Haufen der anderen Preisgelder landen und später einmal der Hochschule zukommen wird – irgendwann einmal, wenn alles dazu geklärt ist.
Als Sportler, wie ich einer bin, befasst man sich wenig mit solchen Rechtslagen – und findet Preisverleihungen auch gar nicht mehr so spannend, dennoch steht man nicht jeden Vormittag vor rund vierhundert Menschen im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Dies ist der inzwischen dritte hochoffizielle Preis. An solche Auszeichnungen mit solchen Titeln hatten wir keinen Gedanken verschwendet, denn wir wollten weder angeben noch irgendjemandem irgendetwas beweisen. Doch es ist trotzdem schön, sie jetzt verliehen zu bekommen – vor allem, weil es auch eine Anerkennung für jeden einzelnen Helfer ist. Noch immer unterstützen wir online Helfer und Opfer. Ich traf und treffe auf so viel berührende Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft und einen so großen Zusammenhalt, dass ich gar nicht mehr anders kann, als mich zu engagieren.
Ich habe recht behalten – ich stehe zwischen einer großen Anzahl guter, neuer Freunde. Auch mein seitdem bester Freund, den ich in dem kleinen, chaotischen Büro kennengelernt habe, ist dabei – mit dem mache ich mich in den Semesterferien auf, um den Opfern des Taifuns Haiyan, der vor einem Monat auf den Philippinen gewütet hat, zu helfen. Dieser hat im November sechsmal so viele Häuser zerstört wie das