Ulrike A. Kaunzner

Die Stimme als Zeitzeugin – Werberhetorik im Hörfunk


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so sei auf eine Reihe an jüngeren Werken (Herausgaben und einzelne Aufsätze) verwiesen, die zum Großteil im Zusammenhang mit dem RAW entstanden sind: Reimann, 2006; 2007; Greule & Reimann, 2007; Stöckl, 2007; Reimann, 2008a,b; Reimann & Sauerland, 2010; Reimann & Šichová, 2011; Falk, 2019.2

      Das Anhören und die Analyse der historischen Spots lässt die Zeit in der BRD ab den 1950er Jahren wach werden und den gesellschaftlichen Wandel nachvollziehen, wenn man den Medien und dem WerbefunkWerbefunk einen Platz im „kulturellen Gedächtnis“ einräumt (Marßolek & Saldern, 1999, S. 11). Die Werbespots zeigen die Gesellschaft der damaligen Zeit: die Menschen mit ihren Träumen und Bedürfnissen in ihrem gesellschaftspolitischen Kontext. Die Stimmen der Sprechenden dokumentieren die Entwicklung von Sprache und GesellschaftGesellschaft und damit einen Teil der Geschichte der Bundesrepublik.

      Obwohl [die Werbung] sich grundsätzlich der vorhandenen Werte, Normen, moralischen Vorstellungen und des spezifischen Alltagswissens der Rezipienten bedient, spielt sie zum Zweck der werblichen Inszenierung auch mit diesen und kann sie so sowohl reproduzieren als auch aufweichen. (Siegert & Brecheis, 2017, S. 72)

      Über die gegenseitige Beeinflussung von Werbung und gesellschaftlichen TrendsTrends, über Werbung als Ausdruck des soziokulturellen, wirtschaftlichen, politischen, kunst- und kulturgeschichtlichen Profils einer Epoche gibt es ausführliche Abhandlungen (Bau, 1994; Bolten, 1996; Cölfen, 1999; Fährmann, 2006; Jia, 2002; Klüver, 2009; Kriegeskorte, 1995; Schmidt & Spieß, 1996; Siegert & Brecheis, 2017; Zurstiege, 2016).3 So orientiert sich Werbung nicht nur am Zeitgeist, Moden und Trends, sie fungiert auch als Trendsetter. Zurstiege (2016, S. 80) bringt es auf den Punkt:

      Werbung orientiert sich am Zeitgeist, an den Moden und Vorlieben der Menschen, an allem, was in ist. Sie folgt Trends, in manchen Fällen setzt sie sie sogar. Die Werbung ist ein einflussreicher und aussagekräftiger Kulturfaktor moderner Gesellschaften, daran besteht weder bei Praktikern noch bei Forschern Zweifel.

      Jeder Werbespot hat das Ziel, die Verbraucher zu erreichen; umgekehrt bestimmen die Gewohnheiten der Menschen die WerbeindustrieWerbeindustrie der jeweiligen Epoche. Das, womit man sich verführen lässt, ändert sich im Laufe der Zeit: die Formen der Persuasion, verbale Mittel (die gesprochene Sprache) und paraverbale Mittel (Stimme und Sprechweise). Dabei geht es zum einen die Frage nach der Art und Weise, wie Aufmerksamkeit geweckt wird (es muss auffallen), wie PersuasionPersuasion erfolgt (das wiederum muss gefallen) und schließlich, was die Beeinflussung auslöst (wie man es verkaufen kann).

      In den 1950er Jahren erschien das jahrzehntelange Referenzwerk des Amerikaners Vance Packards Die geheimen Verführer4 und trug dazu bei, Werbung als unterschwellige BeeinflussungBeeinflussung in ein negatives Licht zu stellen. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, in der die Angst vor Manipulation und Verschwörung die Gesellschaft zeichnete, und Packard machte auf die Manipulationsmöglichkeiten über das Unterbewusstsein aufmerksam. Diese Werbe- und Konsumkritik hat laut Zurstiege (2015, S. 21) in den 1960er/1970er Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Die sodann verstärkt einsetzende Internationalisierung wirkte sich auch auf Produktion und Vertrieb und somit auf die Werbung aus. Der Schritt zur Globalisierung der Wirtschaft wird mit Beginn der 1980er Jahre angesetzt (Zohlnhöfer, 2009), und seit dieser Zeit verfolgen Werbetreibende dementsprechend neue Kommunikationsstrategien, die sich durch eine weltweite Vernetzung auszeichnen.

      Es gibt immer wieder Stimmen, die im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Diskussion um Globalisierungstendenzen die Werbung als Datenquelle ablehnen, die hierin eine Verzerrung von Nationalkulturen sehen und die Dominanz des Englischen kritisieren. Diese Kritik fasst Montiel Alafont (2012, S. 402–403) zusammen:

      Das Englische, heißt es etwa, beeinflusse oder dominiere in manchen Fällen sogar weltweit die WerbekommunikationWerbekommunikation, wobei Werbekommunikate, so wie sie von nordamerikanischen internationalen Werbeagenturen gestaltet würden, sich nicht nur der Sprache, sondern besonders des Lebensstils der Vereinigten Staaten bedienten. [Auch] sei Werbung als Datenquelle ungeeignet, da sie schlicht und einfach nicht authentisch sei, sondern zugunsten wirtschaftlicher Interessen der (überwiegend US-amerikanischen) Industrie verfälscht werde. In verallgemeinerter Form läuft diese These auf den Vorwurf hinaus, dass nicht nur eine Art nordamerikanischer Kulturimperialismus, sondern der gesamte Globalisierungsprozess die Authentizität oder gar den Fortbestand der Kulturen bedrohe […] Nationalkulturen lägen demzufolge im Sterben: Sie würden mithilfe der Werbung allmählich durch die globale Kultur ersetzt.

      Zu erwähnen ist auch, dass die kommerzielle MarktforschungMarktforschung seit den 1950er Jahren an Bedeutung zugenommen hat, was sich auf die Argumentationspraxis von Werbetreibern auswirkt. Naab & Schlütz (2016, S. 224) sprechen von einem „Paradigmenwechsel“, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu erkennen sei:

      Das aktive Publikum rückte in den Vordergrund der Betrachtung. Die Nutzerinnen und Nutzer wurden nicht mehr ausschließlich als Objekte kommunikativer Bemühungen, sondern als intentional nach ihren Bedürfnissen handelnde Subjekte verstanden, die sich Kommunikationsinhalten absichtsvoll zuwenden – oder, wie gelegentlich im Fall von Werbung, auch bewusst davon abwenden. […] Ihre Auswahl wird von Wissen und Absichten geleitet (Intentionalität) und führt sie zu Angeboten, von denen sie die Befriedigung von Bedürfnissen erwarten (Nützlichkeit).

      Werbung heute zeichnet sich durch ein zum Teil völlig anderes Vorgehen aus, das zum einen auf Unterhaltung, Dienstleistung und Information ausgerichtet ist, aber auch gezielt den Spaßfaktor befriedigt und mit Übertreibung und Täuschung offen umgeht; die Erwartungen und Gewohnheiten der Konsumenten haben sich gewandelt und wir erkennen eine immer härtere Konkurrenz der Marken, wobei Kopieren und Nachahmen bewährte Mittel des Erfolgs darstellen.

      Für die ZielgruppeZielgruppenansprache vor allem von Kindern und Jugendlichen werden heute die Neuen MedienMedienNeue mit TikTok, Twitter, Facebook, YouTube, Google+ gewählt.

      Im Kontext der neuen Medien entstehen heute neben den klassischen Werbeformen im raschen Wandel viele neue: In-game-Advertising und Advergames (Werbespiele), Branded Entertainment (Werbung in Unterhaltungsangeboten), Viral Marketing (Konsumenten verbreiten die Werbebotschaft weiter), Word of Mouth (»Mundpropaganda«) und Mobile Marketing (Werbung über mobile Endgeräte) lauten nur einige der Etiketten, die diesen neuen Werbeformen angeheftet werden. (Zurstiege, 2015, S. 18)

      Ziel der vorliegenden Arbeit kann es nicht sein, die vielfältigen Problematiken der Werbung umfassend darzustellen, da eine Vielzahl an theoretischen und angewandten Wissenschaftsdisziplinen einbezogen werden müsste. So wird zwar immer wieder ein Blick auf interdisziplinäre Zugänge5 (z.B. die MedienwissenschaftMedien-wissenschaft, die MedienlinguistikLinguistikMedien-, die MedienpädagogikMedien-pädagogik, die WerbepsychologieWerbepsychologie, MarketingMarketing oder KulturgeschichteKulturgeschichte) geworfen. Diese Passagen sollen als Ergänzungen zur sprechwissenschaftlichen Analyse betrachtet werden, die im Mittelpunkt des Interesses steht.

      Diese Arbeit will den gesellschaftlichen Wandel anhand der Stimme und des Sprechstils beim Werbeträger Hörfunk in Westdeutschland über drei Jahrzehnte rekonstruieren, wobei das RAWRAW als Quelle für das Korpus dient (Untersuchungsobjekte sind digitalisierte Rundfunk-Werbespots). Ein breit angelegtes Online-Experiment mit Ausschnitten dieser Spots soll ihre Stimm- und Sprechwirkung heute erfassen. Beim Vorgehen stehen als Forschungsziele folgende zwei Fragenkomplexe im Mittelpunkt der Analysen:

      1 Welche PersuasionsstrategienPersuasionsstrategien, Themen und Topoi werden seit den 1950er Jahren in der Hörfunkwerbung eingesetzt, und wie werden sie von Stimme und Sprechweise aufgenommen?

      2 Wie nehmen heutige Hörerinnen und Hörer Stimme und Sprechweise in der Hörfunkwerbung seit den 1950er Jahren wahr?

      Nachdem zunächst in diesem ersten Kapitel der Untersuchungsgegenstand umrissen wurde, widmet sich das zweite Kapitel einem Überblick über die Geschichte des Radios und der Rundfunkwerbung bis zu den 1950er Jahren. In einem Exkurs über das Medium Hörfunk in der Werbung (2.1) geht es sowohl um den Wandel der Technik als auch um den Wandel der HörgewohnheitenHörgewohnheiten. Dem folgen grundlegende Gedanken zum Thema Medienrhetorik als Form von Wirtschaftsrhetorik (2.2) und Radiorhetorik (2.3). Ein Blick auf Persuasionsstrategien in der Hörfunkwerbung (2.4) schließt das zweite Kapitel mit einem