übersetzte Fieberkurve eines Patienten, dessen Krankheit niemand erkennt. Bis in die Anfänge der Kindergartenzeit bleibt Robi das «gefreute, lustige Kind, das nicht aus dem Rahmen falle und sich durchaus normal entwickle», das sogar «vom Kindergarten begeistert sei», auch wenn es «das Leben von der gemütlichen Seite nehme» und «nicht viele Stricke zerreisse». Auch die Einschulung schafft der Bub «besser als erwartet, ist für den Stoff interessiert, macht nett mit». Dann aber, nach dem ersten Schuljahr, beginnen die kritischen Bemerkungen: «[…] arbeitet nicht immer fleissig», «[…] ist in der Schule oft in Gedanken abwesend», «[…] hat Mühe sich zu konzentrieren», und wenig später, als Drittklässler, kassiert er dann im Halbjahresrapport die ersten gröberen Vorwürfe: «Robi ist faul, leistet in der Schule zu wenig […] man muss ihn immer wieder ermahnen, im Übrigen häufig launisch.» In den Jahren darauf wandeln sich die Beobachtungen zu abwertenden Urteilen: «[…] hat in der Schule Mühe zu folgen», nun wird er als «Pflegma» und als «wahrscheinlich nicht sehr intelligent» abqualifiziert. Zudem wird eine «Lügengeschichte» als «hoffentlich einmalige Verfehlung» dominant in der Akte vermerkt. Sie ist zusätzlich in einem eigenen Untersuchungsbericht vom 28. Mai 1960 dokumentiert und im Heimarchiv abgelegt. Der Bericht erzählt, dass der elfjährige Robi bei einem Diebstahl mit einer Schadenssumme von zehn Franken mitwirkte und anschliessend seine Kumpels nicht verraten wollte. Die Sache war aufgeflogen, weil die drei Buben im Dorf beim Eisessen beobachtet wurden und alle wussten, dass Heimkinder kein Taschengeld besassen. Der Anführer des kleinen Coups hatte überdies schon einmal einen Fünffränkler stibitzt, nun galt es dringlich, unter Federführung der Heimmutter, mit Visitation des Tatorts und Befragung der Lehrerschaft und der Schulkameraden, die Sache aufzuklären. Es gab Verhöre und Verdächtige, und nach «langem, einzelnen in sie hineindringen» und dem Einsatz von Schlägen kamen schliesslich die erhofften Geständnisse: «Robi brach zuletzt, nach langem, hartnäckigem Leugnen und als ihn der Hausvater durchprügelte, innerlich zusammen und gestand alles», steht im Untersuchungsbericht. Zwei Jahre später wagt sich Robi noch einmal an einen kleinen Schwindel: Er verlängert eine Darmgrippe mit ein bisschen Schmerzsimulation und einer Manipulation des Fieberthermometers, um sich so einen zusätzlichen Tag Krankenfürsorge zu sichern. Die Inszenierung fliegt auf, Robi brütet anschliessend über einem fünfseitigen Aufsatz zur Frage «Warum ich lüge». Der Aufsatz ist ebenfalls im Archiv abgelegt.
Die Lügengeschichte bekommt dem bis anhin so umgänglichen Robi schlecht. «Von ihm hatten wir das zuallerletzt erwartet und wir waren sehr enttäuscht», steht im Bericht des Hausvaters. Die böse Tat findet im Telefonrapport mehrmals Erwähnung, auch noch Jahre später, und schlägt sich direkt in der Bewertung von Robi als Schüler nieder. Aus dem lustigen Lausbuben wird ein schwacher Schüler, der knapp die Realschule wird besuchen können, denn die «Leistungen seien nicht sehr gut» und «Robi wenig begabt», berichten die Heimeltern nach Basel. Bemerkenswert ist, dass diese Einschätzungen keineswegs mit dem Schulzeugnis korrespondieren. In der dortigen Notenskala wird Robi nur im Kopf- und Ziffernrechnen als knapp ungenügend bewertet, in allen anderen Fächern sind seine Leistungen in Ordnung, und im Zeichnen, Singen und Turnen glänzt er sogar mit drei Ausreissern nach oben. Doch sie werden, genauso wenig wie sein sehr gutes Betragen, im Rapport der Furrers erst gar nicht erwähnt.
Zu Beginn der 1960er-Jahre entstehen im Packeis auf dem Wiesengrund mit seinen Abgründen ein paar feine Risse. Robi bricht sein Schweigen. In den Weihnachtsferien, die er bei seiner inzwischen wieder verheirateten Mutter verbringen darf, erzählt er dieser von den Misshandlungen, von den Schlägen bis zur Bewusstlosigkeit. Die Mutter alarmiert die Jugendfürsorge. Einige Monate später wird der ahnungslose Robi überraschend aus der Schule geholt, mitten am Tag. In der Heimstube sitzt Robis Fürsorgerin Frau Seliner, die er in all den Jahren, seit er hier ist, ein einziges Mal sah, Jahre zuvor, bei einem angekündigten Musterbesuch. Diesmal ist Frau Seliner unangekündigt gekommen, zusammen mit seiner Mutter, die das erste Mal im Wiesengrund ist. Die beiden sitzen neben dem Heimelternpaar Furrer in ihrem Büro, Vater Anton ist eigens von der Arbeit nach Hause geholt worden, Mutter Rosmarie sitzt blass und mit zuckendem Kinn daneben. Robi soll sich dazusetzen, soll erzählen, was war. Gelähmt vor Angst, was ihn danach erwartet, schafft er es dennoch, von der Misshandlung zu berichten. Was anschliessend gesprochen wird, überhaupt, was geschieht, weiss Robi Minder heute nicht mehr, er erinnert sich einzig an die unerwartete Blässe im Gesicht der Heimmutter, an ihre zitternden Lippen und an eine grosse Angst in ihren Augen. Viel später erzählte ihm jemand, die Basler Jugendfürsorge habe die Platzierung von Kindern in den Wiesengrund danach eingestellt. Überprüfen konnte er die Aussage nicht. Und der Vorfall selbst ist, anders als etwa Robis Lügengeschichte, im sonst akribisch geführten Heimarchiv nirgends dokumentiert. Das Leben im Wiesengrund geht weiter wie zuvor. Das Packeis friert wieder zu. Und die Minder-Kinder haben zu bleiben.
Doch Robis Mutter, bis anhin die ferne Abwesende, bleibt alarmiert. Und da sie noch immer das Sorgerecht für ihre Kinder hat, stellt sie im Januar 1962 ein erstes Gesuch um Umplatzierung, zurück nach Basel in ihre Nähe. Fürsorgerin Seliner beginnt, sich um das Anliegen zu kümmern, ihre Klärungen sind in verschiedenen Berichten und einer Menge Korrespondenz nachzulesen. Die Heimeltern stellen sich in all ihrer Mächtigkeit gegen einen Wechsel, sehen dadurch ihren ganzen Erziehungserfolg in Gefahr. Robi selbst wird durch die Bewegung um ihn herum etwas aus seiner Starre gelöst, die Aussicht auf einen Wechsel motiviert ihn, er schafft zum Erstaunen der Heimeltern den Übertritt in die Sekundarschule. Und nun hilft er sich erst einmal selbst, greift nach dem einzigen für ihn sichtbaren Strohhalm und bittet um eine Umplatzierung in jene Bauersfamilie im Dorf, bei der er seit Jahren während der Schulferien als fleissige Arbeitskraft im Einsatz ist. Für zwanzig Rappen Stundenlohn, die Hälfte wird direkt dem Heim zugeführt, die andere kommt in ein vom Heim verwaltetes Kässeli, zu dem er keinen Zugriff hat. Robi weiss, wie sehr seine Hilfe auf dem Hof willkommen ist, begründet seinen Wunsch altruistisch, er möchte die Bauersfrau und ihren invaliden Mann in der Not unterstützen, kombiniert dies mit einem Berufswunsch und deklariert, er wolle Bauer werden. Das kinderlose Bauernpaar begrüsst die Pläne erfreut und stellt gar eine spätere Adoption in Aussicht.
Bei Bauer Ammann
Nach einigem Zögern stimmt Robis Mutter dem Wechsel zu. Und so kommt es, dass der Jugendliche als 13-Jähriger zum Sommeranfang des Jahres 1962 sein kleines Bündel packt, nach fast zehn Jahren des Schreckens und der Qual den Wiesengrund verlässt und zu Familie Ammann zieht. Seine Schwester wird gleichzeitig über Umwege ins Mädchenheim Bachgraben in Basel umplatziert. Die Heimeltern Furrer hadern mit dem Entscheid, ihre Korrespondenz zeugt von Kritik und Missfallen, sie ärgern sich über die Pläne und darüber, dass eine Frau wie die liederliche Mutter Minder noch immer das Sorgerecht und damit das Sagen über das Geschick der Kinder hat. «Sie werden staunen, beide Minderli sind nicht mehr bei uns, wir haben die Versetzung nicht verstanden. […] Elisabeth ging nicht gerne weg, und wir haben sie nicht gerne weggegeben», so schreiben sie reihum. Die beiden Kinder verlassen den Wiesengrund ohne wirklichen Abschied. Die elfjährige Elisabeth setzt sich apathisch in ein unbekanntes Auto, das sie abholt, sie ist gefangen in ihrer Trostlosigkeit, kränkelnd, und hat das Körpergewicht einer Siebenjährigen; Robi dagegen tritt seinen Weg zu Fuss an, getrieben von der Hoffnung auf ein Leben ohne Schläge und ein bisschen familiäre Wärme.
Sein Wechsel zu Bauer Ammann scheint vorerst zu glücken. Die künftigen Adoptiveltern haben «grosse Freude» an ihm, denn «Robi selber mault nicht herum, zeigt sich anhänglich und selten frech, hilft fleissig mit in Haus und Hof». Auch fällt es ihm «erstaunlich leicht, in der Schule zu folgen», wie seine Fürsorgerin in Basel festhält und dabei Robis Lehrer zitiert, der ihn als «guten Sekundarschüler, dem das Lernen keine besondere Mühe bereite», lobt. Doch bereits nach vier Monaten ist der Höhenflug vorbei. Robi fühlt sich bei den Ammanns nicht mehr wohl, hat «Heimweh nach der Kindsmutter und nach der Schwester», möchte in «Mutters Nähe» wohnen, so notiert Fräulein Seliner. Sie fährt nach Auwil, um den Wandel aufzuklären, spricht mit dem Lehrer, mit Robi, mit der Pflegefamilie. «Robi redet ruhig, sachlich, überlegt», liest man in ihrem ausführlichen Bericht zu seinen Klagen. Darüber, dass man ihn nicht als Pflegesohn, sondern als Angestellten behandle, dass er keinerlei Wärme verspüre und so gar nicht heimisch werde. Die Bäuerin sei wenig mütterlich, sei überfordert, der invalide Vater oft unbeherrscht und verärgert. Was er der Fürsorgerin nicht