Lisbeth Herger

Lebenslänglich


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verdient sich mit der Kastration von Kaninchen, Schweinen und Hunden ein Zubrot. Er macht es mit einer Rasierklinge, ohne Betäubung, und der junge Robi muss ihm assistieren und die Tiere im Jutesack festhalten. Es sind Schreie und Bilder, die den Siebzigjährigen bis heute verfolgen, seinen Herzschlag beschleunigen, seine Hände zittrig werden lassen. Doch davon verrät er dem Fräulein aus Basel nichts, bezichtigt sich stattdessen selbst, er habe sich «blenden» lassen, habe Illusionen aufgebaut, hier Vater und Mutter zu finden, dass das Bauernpaar ihm aber fremd geblieben sei. Weiter erzählt er von den beengenden Entwürfen der Pflegeeltern zu seiner Zukunft, dass Frau Ammann enttäuscht sei, weil er weiterhin zur Schule wolle, dass der Pflegevater Robis Zukunft schon fest in seinem Kopf ausgelegt habe, erst die landwirtschaftliche Ausbildung, dann den militärischen Grad, den er abverdienen soll, und auch vom Heiraten sei bereits die Rede. Und weiter betont der Bericht Robis erstaunliche Reife, die sich auch darin zeige, dass der Junge trotz seiner erst 14 Jahre grosses Verständnis für den invaliden Pflegevater zeige, der an seiner Untätigkeit bestimmt leide und ihn wohl auch deshalb öfters anschreie. Auch der Leistungsabfall in der Schule lässt sich in den Gesprächen klären. Der Arbeitstag beginnt morgens um 6 Uhr mit Stallarbeiten, erzählt Robi seiner Fürsorgerin, Bettruhe sei gegen 23 Uhr, Hausaufgaben sind erst nach dem Nachtessen zu erledigen, Zeitfenster für Freundschaften bleiben kaum. Robis Sicht der Dinge wird von der Pflegefamilie sogar bestätigt, hält Fräulein Seliner in ihrem Bericht fest. Frau Ammann stimmt zu, dass er überbeansprucht werde, da es schwierig sei, für die Landwirtschaft Leute zu finden, zudem sei ihr Knecht mit dem Umbau der Scheune voll beschäftigt, zusammen mit der Bäuerin müsse Robi den ganzen Hof alleine bewirtschaften. Jedoch bestreiten die Ammanns den monierten Zeitmangel für Schularbeiten und zeigen sich wenig erfreut, ihren Pflegesohn in den Weihnachtsferien zu seiner Mutter zu entlassen. Sie fürchten, der städtische Einfluss zerstöre den Wunsch des Buben, Bauer zu werden.

      Noch wissen sie nicht, dass der Pflegesohn diese Pläne längst begraben hat. Robi will auf keinen Fall auf Dauer bei Familie Ammann bleiben, zeigt sich aber bereit, noch ein halbes Jahr auszuhalten, um in Auwil die Schule abzuschliessen. Selbst die Tatsache, dass bei seiner Mutter kein Platz für eine Rücknahme sei – sie lebe mit ihrem neuen Freund zusammen und sei beruflich sehr belastet – und auch der Vater keine Kapazität habe, da er in seiner neuen Ehe und mit den zwei zusätzlichen Kindern ebenfalls in prekären Verhältnissen lebe, kann ihn nicht von seinem Wunsch nach einer Rückkehr nach Basel abbringen. Die Mutter möchte ihn erneut in einem Heim platzieren, das enttäuscht ihn zwar, aber alles ist besser, als zu bleiben, wo er ist. Immerhin unterstützt seine Mutter seine Pläne. Seine Klagen decken sich mit ihren Impressionen anlässlich eines eigenen Besuchs auf dem Hof, und sie zeigt sich fest entschlossen, den Knaben nach Basel ins Waisenhaus zu holen, will ihn dort weiter schulen und fördern lassen. Sie verspricht den Behörden, sich bei einer Umplatzierung nach Basel um ihren Sohn zu kümmern, wann immer sie frei hat, und dabei ihr Leben im damals noch anrüchigen Konkubinat vor dem Halbwüchsigen möglichst zu verbergen.

      Der endgültige Abschied von Auwil ist wiederum ein unbegleiteter, nüchterner Akt, den Robi alleine zu leisten hat. Ein Händeschütteln mit der enttäuschten Bäuerin, die ihn nur ungern ziehen lässt, ein kleines Kleiderbündel am Rücken, ein grosser Packen Skrupel im Kopf und im Herzen, weil er die überforderten Bauern im Stich lässt – derart beladen macht sich Robi auf den Weg zum Bahnhof. Und macht sich wieder auf in eine neue Zukunft, diesmal nach Basel.

      Im Waisenhaus in Basel

      Im städtischen Waisenhaus, einem ehemaligen Kloster an der alten Stadtmauer, wird ihm vorerst nichts geschenkt. Die Stadtkinder mokieren sich über Robis breiten Stiefelgang, sie reiben ihm seinen Stallgeruch unter die Nase, und auch sein St.-Galler-Dialekt bringt ihm keine Sympathien ein. Robi, unsicher, verletzt, in allem blockiert, wird zum Sonderling. Und doch macht ihn die neue, unbekannte Welt neugierig und auch etwas mutiger. Immerhin ist es eine Welt ohne Strafen und ohne lebensfeindliche Bibelzitate. Und man darf sogar über die riesengrossen Turnschuhe des Waisenvaters lachen. Im grossen Haus mitten in der Stadt, wo nicht mehr das Auge Gottes wacht, sondern jenes des Staates, ist man vor Willkür weit besser geschützt als früher in der Villa Wiesengrund. Und ausserdem gibt es nun plötzlich eine echte Mutter, die manchmal sonntags zu Kaffee und Kuchen lädt, die einen Freund hat – ein Verdingkind auch er –, einen, der Robi wohlgesonnen ist und der ihn ab und an zusammen mit der Mutter in seinem schicken Auto auf ein Fährtchen mitnimmt, zu seiner eigenen Pflegefamilie, in die hintersten Hügel des Juras.

      In dieser neuen Welt trifft Robi, inzwischen im letzten Schuljahr angekommen, endlich mit seinem Zeichentalent auf aufmerksame Resonanz. Ein schulisches Zwischenjahr soll die Berufswahl weiter klären, mit 16 beginnt er dann in einem grösseren Ingenieurbüro eine Lehre als Bauzeichner. Die vielen Leute, die vielen Büros und die vielen Chefs machen dem Heimbuben Angst. Einmal duckt er sich, kurz danach schiesst er weit übers Ziel hinaus, Geltungsdrang und Gefühle absoluter Minderwertigkeit jagen ihn durch den Tag. Er ist halt- und orientierungslos. Einzig seine Arbeiten sind konstant gut und finden Anerkennung. Die Abschlussprüfung nach drei Lehrjahren quält ihn mit ungeahnten Ängsten, doch er schafft das Diplom. Und zwar mit Bestnote und Auszeichnung.

      Kurz vor Weihnachten 1968, einen Monat vor seiner Volljährigkeit, verlässt Robi nach insgesamt 17 Heimjahren das städtische Waisenhaus Richtung Freiheit. In seiner Tasche stecken die Einberufung in die Armee und ein Mietvertrag für ein WG-Zimmer, sein ausgezeichneter Lehrabschluss, ein Goldvreneli, das ihm der Waisenvater für die Bestnote gab, und an seinem Arm glänzt eine Herrenuhr, das Geschenk seines Lehrmeisters als Anerkennung für den glanzvollen Abschluss. Dieser hofft, dass der begabte Zeichner nach der Rekrutenschule zurück in den Betrieb kommt. Er hat sich entschlossen, den mittellosen jungen Mann zu fördern, und bietet ihm an, ihm auf Betriebskosten ein Studium an der Technischen Hochschule zu finanzieren. Doch allein die Vorstellung davon jagt Robi das Blut in den Kopf und lässt ihn schwindlig werden. Denn der mit Rang ausgezeichnete Bauzeichner bleibt ein schwer traumatisierter ehemaliger Heimbub, der vor jeder Prüfung, jedem kleinen Auftritt monströsen Ängsten ausgeliefert ist und der für sich beschlossen hat, solche Situationen künftig radikal zu vermeiden. Deshalb auch will er sich von seinem erlernten Beruf verabschieden, der hohe Erwartungsdruck als Folge seines prämierten Abschlusses ist für ihn entsetzlich, da gibt es nur eins, so schnell wie möglich zu fliehen, Neustart auf Feld eins, wo keinerlei Erwartungen ihn bedrängen. Überraschend schlägt er deshalb das Angebot seines Meisters aus und erzählt ihm von seinen Plänen, ins Gastgewerbe zu wechseln. In jene Branche, wo weder nach der Kinderstube noch nach Abschlüssen gefragt wird. Doch das verrät er seinem konsternierten Chef natürlich nicht und lässt diesen mit seiner Kündigung ratlos und auch enttäuscht zurück.

      In der Gastronomie

      1970, nach der Rekrutenschule, während der ein begeisterter Leutnant den braven Soldaten mit seiner vorbildlichen Disziplin zum Offizier machen will und er selbst das Unglück gerade noch zu verhindern weiss, beginnt Robi Minder seine Karriere in der Welt der Gastronomie. An einer durch seine Mutter vermittelten Stelle, im Restaurant Safran Zunft, mitten in Basels Altstadt. Schon bald wird der Quereinsteiger auch hier gefördert. Der Chef steckt ihn in einen schwarzen Anzug mit Fliege und schickt ihn als sein Aide du Patron in die oberen Säle, wo er rauschende Feste und Bankette zu organisieren und das Personal zu führen hat. Damit aber gerät Robi Minder erneut in jene Hölle, die er zwingend zu vermeiden sucht: Nun wird jeder Tag ein Prüfungstag, wird jede Serviererin, die er für ein Bankett engagiert, zu einer Prüfungsexpertin. Und immer muss er das Beste liefern, muss es allen recht machen. Hinter dem galanten jungen Bankettmanager versteckt sich ein hochsensibler, zutiefst verletzter Bub, der täglich durch die Schleuder seiner Ängste geworfen wird. Robi Minder ist immer auf Draht, immer unter Stress, Entspannung kann der Gehetzte nur noch mithilfe von Alkohol finden. Und so beginnt er zu trinken. Regelmässig. Wohldosiert über den Tag verteilt. Der Stoff ist immer greifbar, er selbst ein äusserst kontrollierter Mensch, dem abgestufte Mässigkeit leichtfällt. Die verräterische Fahne aus seinem Mund lässt sich mit Mineralwasser ausschwemmen. Und den Menschen kommt Robi Minder sowieso nicht zu nahe. Mit etwas Alkohol bleibt das gefürchtete Zittern seiner Hände aus. Und sein instabiler Schritt wird sicherer.

      Noch ein weiterer Trick hilft ihm über seine täglichen