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Gottes Sehnsucht in der Stadt


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      Es ist erstaunlich. Mit dem Reifen dieser Ideen und dieser ökumenischen Visionsgemeinschaft öffnete sich ein katholischer Kairòs: es wurde möglich, in hohem Konsens mit allen Beteiligten eine Projektstelle für ein innovatives Projekt in Hannover-Linden zu schaffen. Dass das Experiment einer „Kirche für Suchende“ – so der „schräge“ Projekttitel – so viel positive Fantasie weckt, macht die Dringlichkeit für solche Aufbrüche deutlich. Evangelisierung begibt sich auf neue Wege.

      Denn die vergangenen zwei Jahre lassen eine erstaunliche Wende erkennen. Wenn auf der einen Seite der Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche zum einen deutlich machte, dass der Verlust der Glaubwürdigkeit die schleichende Auflösung einer klassischen Kirchenkonfiguration immens beschleunigt, wird zugleich ein wachsendes Interesse an kirchlichen Aufbrüchen und Experimenten deutlich: was bislang eher Exoten und spirituellen Charismatikern in geduldeten Randgebieten kirchlicher Normalität vorbehalten war, rückt in den Fokus des Interesses: wie kann Kirche ohne die bisher für selbstverständlich gedachten Prämissen gegebener Volkskirchlichkeit wachsen?

      Im katholischen Bereich werden an dieser Stelle die Charismen und Orden neu in den Blick rücken, wie auch die im deutschsprachigen Bereich bislang problematisch empfundenen geistlichen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen. In evangelischer Perspektive gilt es, sowohl die Bewegungen und freien Werke innerhalb der Kirche als auch unterschiedliche Netzwerke wahrzunehmen, die sich um kategoriale Arbeitsbereiche wie z. B. das Frauenwerk bilden. Die Frage nach der notwendigen Erneuerung der kirchlichen Landschaft ist gewiss ein pneumatisch-charismatischer Prozess, der hoffentlich durch die Strukturmaßnahmen deutscher Bistümer ermöglicht und nicht verhindert wird. In der Tat: Nebenwirkungen der größeren pastoralen Räume könnte die Ermöglichung einer größeren Vielfalt kirchlicher Sozialgestalten sein – und eine Kultur des Kircheseins, die sowohl die katechumenale Gestalt kirchlicher Orte wie auch die Taufberufung und das mit ihr verknüpfte gemeinsame Priestertum der Gläubigen neu in den Fokus rückt. Dies ist auch eine verheißungsvolle Perspektive für evangelische Regionalisierungsprozesse, wenn sie die entsprechenden Umstrukturierungen in religionssoziologischer und theologischer Perspektive begreifen.

      Soul Side Linden – das Experiment in Hannover-Linden lebt durch seine Protagonisten. Mit der Leidenschaft und Energie von Annette Reus und ihrer Mitstreiterinnen – viele Namen wären hier zu nennen – entstanden Erfahrungsräume und erste Werkstücke einer Kirchengestalt, die tatsächlich erst anfänglich sind: „Seht ich schaffe neues, schon sprosst es auf – merkt ihr es nicht“, so fragt Jahwe durch den Propheten Jesaja (vgl Jes 43,18 f). In der Tat: man muss nicht, aber man kann erkennen, wie Gemeinde sich bildet und wie Kirche ein neues Antlitz gewinnt. Eine Kirche, die präkonfessionell zu nennen ist, eine Kirche, die sich im Stadtteil inkulturiert, eine Gemeindeform, die koexistiert mit der klassischen Gemeindegestalt – viele Fragen, anstrengendes und begeisterndes Abenteuer des Geistes.

      Kirche neu entdecken und denken

      Nicht nur Neugier und vielerlei Fragen löst dieses kleine anfängliche Projekt in Hannover aus, sondern auch eine massive theologische Herausforderung. Der Start dieses Projektes fiel zusammen mit den intensiven Vorbereitungen zur ersten Londonreise, die wir gemeinsam mit unseren evangelischen Mitstreitern im Herbst 2009 unternehmen wollten. Diese theologischen Fragen standen im Mittelpunkt der beiden Studientage, die im Januar 2009 und im Frühjahr 2010 die Reise umrahmten. Die Beiträge von Bischof Finney, Professor Gerhard Wegner, Volker Roschke und Professor Medard Kehl versuchten, die weiße Landkarte wenigstens von ihren theologischen, soziologischen und praktischen Eckfahnen zu beschreiben – die Erfahrungen aus England kolorieren und präzisieren das unbekannte und verheißungsvolle Land der Evangelisierung.

      Immer deutlicher wird aber, dass diese Aufbruchsbewegung zu einem neuen Hinschauen auf die geistvolle Kirchenentwicklung jenseits der alle Aufmerksamkeit raubenden Umstrukturierung der deutschen Kirche führt.

      Denn auf einmal wird deutlich, dass wir uns schon mitten in einem massiven Umformatierungsprozess befinden, und dass die Erfahrungen mit eigenen Projekten wie Soul Side Linden und der Blick auf anglikanische Aufbrüche in London und „elsewhere“ neu sehen lässt, wie Kirche sich hierzulande entwickelt und dabei die eigene Ekklesiologie in ein neues Licht rückt. Das ist die eigentliche Pointe der eigenen Bemühungen um ein neues – deutsches – Antlitz der Kirche: vieles ist schon unbemerkt da – und Ekklesiologie wird plötzlich zu einem erregenden Abenteuer: endlich nämlich wird nicht nur theoretisch eingeholt und wiederholt, was eine vergangene Gemeindetheologie sein sollte und nicht mehr ist – schon gar nicht normativ, endlich wird gelebte Spiritualität und Ekklesiopraxis zum Ausgangspunkt einer Ekklesiologie, und endlich wird die prophetische Dimension nicht rezipierter konziliarer Ekklesiologie erfahrbar, greifbar und formulierbar sowie das Gestaltungspotential der grundlegenden evangelischen Bekenntnistexte für unterschiedliche soziale Formen von Gemeinde ausgeschöpft.

      Aus der theologischen Perspektive konziliarer Ekklesiologie gilt ja: wenn Lumen Gentium 1 davon spricht, dass die Kirche in Christus „gleichsam Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug der Einheit Gottes mit der Menschheit und der Menschen untereinander ist“, dann ist im Blick auf eine existenzielle Wendung dieser Ekklesiologie zu sagen, dass Kirche dann erfahrungsorientiert und praktisch überall dort erfahrbar wird, wo dies geschieht. Aus evangelischer Sicht ist hinzuzufügen: Da die Confessio Augustana das Wesen und die Identität der Kirche an den grundlegenden Vollzügen von Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung festmacht (CA 7), bietet dieses weite ökumenische Kirchenverständnis einen entsprechenden hermeneutischen Rahmen für unterschiedliche soziale und liturgische Formate, in denen sich Kirche ereignet. Den ekklesiologischen Status solcher Kirchenwirklichkeiten tiefer zu durchdenken – das ist das Thema einer erfahrungssatten Lehre von der Kirche der Zukunft.

      Die sakramentale Mitte der Kirche steht hier nicht in Frage – die Eucharistie ist Mitte, Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens. Dies gilt in gleicher Weise für die protestantischen Alleinstellungsmerkmale von Wort und Sakrament, die ihrerseits Ausdruck der verborgenen Christuswirklichkeit sind. Wohl aber ist angesichts der evangelisierenden und katechumenalen Gestalt vieler dieser neuen und schon bewährten Kirchenbildungen zu fragen, wie die Mitte des Kircheseins und die sakramentale Fülle des Kircheseins nicht auf Kosten ihrer katechumenalen und evangelisierenden Dynamik zu denken ist: es geht um die klassisch gewordene Hierarchisierung, die vom vermeintlichen Mittelpunkt der klassischen Kirchengemeinde ausging und diese faktisch identifizierte mit dem Ganzen des Kircheseins, wie es sich in der Feier der Eucharistie bzw. in Wort und Sakrament zuhöchst darstellt. Dies aber ist eine Verwechselung: auch die Gemeindebildungen klassisch geprägter Christen sind eine, aber lediglich eine der vielen Sozialgestalten, die zusammen mit anderen Formen und Gestalten der Kirche die eine Kirche in der Vielfalt darstellen.

      Aufbruch zu einer neuen Kultur des Kircheseins

      Aber je tiefer wir gemeinsam den neuen Formen und fresh expressions nachforschten, desto deutlicher wurde auch, dass es gemeinsame Wasserzeichen dieser Kirchenbildungen gibt. Sie beinhalten eine Umkehrvision der Kirchenentwicklung und sind doch zugleich Konkretisierungen und Rezeption jener prophetischen Intuitionen des II. Vatikanums und einem kerygmatischen Kirchenverständnis, das davon ausgeht, dass Gott durch das Wort Glauben wirkt wo und wann er will. Gemeinsam ist allen Neuaufbrüchen, dass sie nicht „geplant“ sind: sie sind charismatischer Aufbruch und sie entstammen alle den Visionen von Christen, die selbst aus einer tiefen Spiritualität leben. Die zeigt sich dort besonders, wo Christen gemeinsam das Wort Gottes hören, und wo sie ihre Glaubenserfahrungen teilen: wo Christen gemeinsam aus diesen Quellen schöpfen, da wächst Kirche. Damit ist auch ein zweiter Akzent mitbenannt: in allen Aufbrüchen lässt sich eine Neuentdeckung des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen konstatieren. Die eigene Berufung zum Christsein, die Sensibilität für das eigene Charisma: das ist einer der großen Reichtümer der neuen geistlichen Bewegungen und kirchlichen Aufbrüche weltweit: Christsein ist heute nicht mehr gegebenes Erbe, sondern jeder und jede, die sich auf das Christsein einlassen, lebt aus einer Berufung, einer Begabung, einem Charisma. Christsein leben ist heute eine existenzielle Entscheidung, eine Antwort auf einen persönlichen Ruf und eine Sendung mit einer persönlichen Gabe. Diese biblische Wahrheit neu zu entdecken,