und Bewohner dieses Landes nicht um Mehrsprachigkeit bemühen würden. Gerade die jungen Schweizerinnen und Schweizer, ob «AOC» oder mit Migrationshintergrund, reisen viel. Sie sprechen im Durchschnitt besser Englisch als ihre Eltern und Grosseltern, und immer häufiger beherrschen sie Spanisch, Russisch, Chinesisch und Japanisch. Studien haben gezeigt, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes regelmässig mehrere Sprachen benutzen. Nur: Es sind eben nicht unbedingt unsere Landessprachen. Die Globalisierung führt zu einer sprachlichen Vielfalt, wobei immer mehr Sprachen unsere nationalen Landessprachen konkurrenzieren. Natürlich unternehmen die öffentlichen Schulen nach wie vor grosse Anstrengungen, um den Schülerinnen und Schülern die Kenntnis einer zweiten Landessprache und wenn möglich sogar einer dritten zu vermitteln. Aber der Erfolg dieser Anstrengungen ist ein beschränkter. Denn sie reiben sich an der soziologischen Tatsache, dass immer mehr Menschen sich weniger für die nationalen Sprachnachbarn interessieren als für die ferneren Kulturen dieser Welt.
Soll man dies bedauern? Ja und nein. Natürlich wäre es ein Jammer, wenn immer weniger Schweizerinnen und Schweizer sich für die anderen Sprachregionen des Landes interessieren würden. Aber gleichzeitig ist es auch gut, dass die Fenster zur Welt weit aufgemacht werden, auch in sprachlicher Hinsicht. Und selbst die viel beklagte Tendenz, sogar im Kontakt zwischen Schweizern verschiedener Sprache auf Englisch auszuweichen, muss ja nicht gleich das Ende einläuten. A tout prendre ist es besser, die Schweizer verständigen sich in Englisch als überhaupt nicht.
Aber damit es nicht so weit kommt, dass sich die viersprachige Schweiz nur noch dank einer fünften Sprache verständigen kann, sollte man sich in den an der Nahtstelle zwischen Deutschschweiz und Romandie gelegenen Agglomerationen Freiburg und Biel umsehen, wo Deutsch und Französisch in meist friedlicher Koexistenz zusammenwohnen. Diese Agglomerationen sind Labors, die zeigen, wie Schweizer Mehrsprachigkeit auch in Zukunft funktionieren könnte. Deshalb kommt das vorliegende Buch gerade zur rechten Zeit.
Alltagssprache
Das Bieler und das Freiburger Modell
In Biel ist es üblich, dass man auf der Strasse oder in einem Restaurant in der Muttersprache des Gegenübers angesprochen wird. Meistens passt man sich sprachlich an. Nicht so in Freiburg: Dort ist Französisch Trumpf. In den Läden geht das Personal davon aus, dass auch Deutschsprachige Französisch verstehen und sprechen.
April 2018 in Biel, in einem Warenhaus: «Bonjour», sagt die Verkäuferin zum Kunden. Dieser antwortet in Schweizerdeutsch, er suche einen Schreibblock. Die Verkäuferin antwortet in Hochdeutsch, Papeterieartikel befänden sich etwas weiter hinten im Laden, ungefähr dort, bei den weissen Regalen. Sie zeigt mit dem Finger in jene Richtung. Der Kunde geht hin, wählt einen Schreibblock und zahlt an der Kasse.
September 2018 in Freiburg, ebenfalls in einem Warenhaus: Ein Kunde fragt im Sensler Dialekt – das Senslerdeutsche ist die in und um Freiburg geläufige Variante des Schweizerdeutschen und hat seinen Namen vom Sensebezirk, der früher grösstenteils zur Stadt Freiburg gehörte – eine junge Verkäuferin, ob sie Deutsch verstehe. Die Frau schaut den Kunden entgeistert an und antwortet nicht. Sie hat offensichtlich nichts verstanden. Der Kunde nimmt einen zweiten Anlauf und formuliert sein Anliegen in Französisch, er suche ein Hemd mit kurzen Ärmeln. Ob es das zu dieser Jahreszeit noch gebe?
Diese kleinen Szenen sind auf den ersten Blick unbedeutende Ereignisse im Alltag der beiden Städte Biel und Freiburg. Doch sie sind für das Verhältnis von Deutsch und Französisch aussagekräftig. Sie zeigen nämlich auf, dass in Biel allgemein akzeptiert wird, dass es zwei Sprachen gibt, und dass es für die Kundin, den Kunden grundsätzlich möglich ist, in einem Laden in ihrer Muttersprache zu sprechen. In Freiburg hingegen wird vorausgesetzt, dass Deutschsprachige Französisch sprechen und fähig sind, ihren Wunsch in der Sprache Molières auszudrücken. Schafft der deutschsprachige Kunde das nicht, steht er vor einem Problem.
Wie die Verständigung in den zweisprachigen Städten Biel und Freiburg genau funktioniert, analysierte ein Team von Linguisten rund um die Professoren Bernard Py (Neuenburg) und Iwar Werlen (Bern) in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts mithilfe von angehenden Sprachwissenschaftlern.
Im Auftrag der Linguisten führten die Studierenden zuerst in Biel siebzig Gespräche durch. Sie fragten beispielsweise Passanten nach dem Weg oder liessen sich von Verkäuferinnen und Verkäufern zu einem Produkt beraten. Alle Gespräche wurden aufgezeichnet, fünfzig wurden ausgewertet. Die meisten Gespräche wurden in Französisch initiiert, denn man wollte wissen, wie im mehrheitlich deutschsprachigen Biel auf die Minderheitensprache reagiert wird und ob sie gegenüber dem Deutschen benachteiligt ist.
Wie im 2010 erschienenen Werk «Leben und Reden in Biel/Bienne»2 nachzulesen ist, bestätigten die Untersuchungen ein Verhalten, das in den 1980er-Jahren bereits der Sprachwissenschaftler Gottfried Kolde beobachtet und das er als «Bieler Modell» bezeichnet hatte. Gemeint ist, dass in Biel in der Regel jene Person die Sprache festlegt, die das Gespräch eröffnet: Unabhängig davon, welche Erstsprache die zweite am Gespräch beteiligte Person spricht, das Gespräch wird in der initiierten Sprache fortgesetzt.
Auf ihre Fragen auf Bieler Strassen und in Geschäften erhielten die Studierenden in 46 von 50 Fällen eine Antwort in jener Sprache, in der sie gefragt hatten. In 32 dieser 46 Fälle passte sich der oder die Befragte ans Französische an, in 11 Fällen an das Schweizerdeutsche und in 3 Fällen ans Hochdeutsche. Nur in 4 Fällen erfolgte also keine Anpassung. 20 Gespräche wurden nicht näher untersucht, weil sie zwischen Gleichsprachigen erfolgten: Die Studierenden stiessen auf Passanten oder Verkaufspersonal gleicher Muttersprache.
Die Sprachwissenschaftlerin und Philosophin Sarah-Jane Conrad schreibt zu diesem Resultat im erwähnten Werk, mit ihrer aktiven Verwendung beider Sprachen gestünden alle erwähnten 46 Personen ihrem Gegenüber immer auch das Recht auf die eigene Sprache oder gar auf Einsprachigkeit zu. «Denn mit der eigenen Anpassung zeigen sie, dass sie weder erwarten noch fordern, dass ihr Gesprächspartner die Partnersprache kennt.» Indem anderen das Recht auf Einsprachigkeit eingeräumt werde, untermauere man die prinzipielle Gleichbehandlung beider Sprachen zusätzlich und verankere sie beide wirksam und emblematisch im öffentlichen Raum.
Bei den Gesprächen in Bieler Läden galt als Initialsprache jene, welche die beziehungsweise der Studierende verwendete, also nicht jene, in der sie oder er von der Verkäuferin beziehungsweise dem Verkäufer angesprochen wurde: Eine Studentin betrat beispielsweise einen Laden und wurde von einem Verkäufer mit «Grüessech wou» begrüsst. Reagierte sie mit «Bonjour», quittierte dies der Verkäufer mit «Bonjour» – und weiter ging das Gespräch in Französisch.
Zwei Bielerinnen üben in einem «Sprachtandem» ihr Deutsch respektive Französisch mit der Hilfe des Gegenübers, das die fremde Sprache als Muttersprache spricht. So lernen beide. (Bild: Adrian Streun/Bieler Tagblatt)
Conrad folgert, das Bieler Modell setze voraus, dass Personen, die in Biel eine Dienstleistung anbieten, zweisprachig sein müssten: «Nur dann können sie sich wie beschrieben sprachlich anpassen.» Perfekte Sprachkenntnisse würden aber nicht vorausgesetzt. Es herrsche Toleranz und Pragmatismus.
Mit Pragmatismus ist etwa auch gemeint, dass es laut den Befragten in Biel gang und gäbe ist, mitten in einem Satz die Sprache zu wechseln, wenn jemand dazukommt, von dem man weiss, dass er oder sie Deutsch oder Französisch nicht beherrscht. «Sich bielerisch zu verhalten, heisst demnach nicht nur, sich im Gespräch mit Unbekannten diesen sprachlich anzupassen und so die Kommunikation überhaupt einmal zu ermöglichen», schreibt Conrad. Es gehe auch darum, im Alltag jene Sprache zu wählen, in der man ein Gespräch möglichst problemlos führen könne. Die Sprachwahl werde nur in den seltensten Fällen ausdrücklich thematisiert.
Die Linguistin spricht auch von einem «Bieler Sozialvertrag», der wie folgt lautet: «Jede Sprachgruppe akzeptiert und toleriert auf individueller wie kollektiver Basis die andere Sprachgruppe und macht für sich selber den gleichen Anspruch geltend.» Der Bieler Sozialvertrag besage also nicht, welche Sprache jemand zu sprechen habe, sondern mit welcher Haltung die Sprache gesprochen werden solle und