Lisbeth Herger

Unter Vormundschaft


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zu freuen scheint über ihren Eintritt in die Klinik. Über anderes jedoch schweigt die junge Frau sich aus, darüber, dass ihre eine Schwester mit vier Jahren an Diphtherie gestorben ist und die andere kurz nach der Geburt. Oder dass ihr Vater ein roher Mann ist, jähzornig und mit einer im Zuschlagen lockeren Hand. Und auch für den Schmerz, der seit dem Tod ihrer Mutter in ihrem Herzen nistet, findet sie vor den fremden Männern in den weissen Kitteln keine Worte.

      Beim katholischen Pfarrer von Vorderberg holen die Ärzte telefonisch ergänzende Informationen zu Linas Angaben für die Anamnese ein. Dieser kennt die Zinggs seit vielen Jahren, stützt sich in seiner Referenz zusätzlich auf den Vater, der «allerdings auch recht unintelligent» sei, und lenkt den Blick auf die erblichen Vorbelastungen:

      Die Mutter sei ungefähr 1936 geistig krank geworden, habe durcheinander geredet. Drei Jahre nach Beginn der Erkrankung habe sie geheiratet […] man habe ihr immer angemerkt, dass sie nicht recht im Kopf sei, aber sie sei nie in einer Anstalt behandelt worden [… ] Bei Lina sei die Störung erst vor ungefähr einem Jahr aufgetreten, wo sie auch ihm selber aufgefallen sei. Sie habe durcheinander geredet und sei – ebenfalls nach Angaben des Vaters – nachts im Hause herumgelaufen, habe gesungen und gebetet und vor allem habe sie den Haushalt, den sie für den Vater und die drei kleineren Brüder neben der Fabrikarbeit noch zu versorgen hatte, nicht mehr in Ordnung gehalten. Sie habe sich einfach ins Bett gelegt und nichts mehr getan […] Er sei der Ansicht, dass es sich bei dem Mädchen neben einem leichten Schwachsinn um ähnliche geistige Störungen handle, wie sie die Mutter gehabt habe.

      Der Pfarrer profiliert sich also als versierter Diagnostiker, während Lina den Ärzten eher ratlos von ihrem seltsamen Leiden erzählt:

      Schon kurz nach Abschluss der Schulzeit habe es angefangen, dass sie zeitweise durcheinander gewesen sei und nicht gewusst habe, was sie redete. Manchmal sei sie auch nachts unruhig und ängstlich gewesen und habe nicht im Bett liegen können, sodass sie im Haus herumgelaufen sei. Der Vater sei immer sehr streng mit ihr gewesen und habe sie nie alleine ausgehen lassen. In der letzten Zeit sei sie sehr müde gewesen, weil sie schlecht habe schlafen können und es sei immer wieder über sie gekommen, dass sie nicht mehr richtig habe denken können.

      Ihre zeitweiligen Absenzen hätten zum Teil böse Folgen gehabt, gesteht sie später der Pflegerin beim ersten Bad in der Klinik, sie habe zum Beispiel beim Bügeln sehr viel Wäsche verbrannt, habe dabei an etwas herumstudiert, und dann sei das Eisen zu heiss geworden. Spricht man Lina Zingg, die heute als über 70-Jährige in einem Wohnheim ihr neues Leben erprobt und dies zunehmend geniesst, auf ihre Leidenszeit von damals an, erinnert sie – neben anderem, das dunkel verborgen bleibt – erstaunliche Details. Etwa zu ihrer radikalen Appetitlosigkeit, als sie nicht mehr essen und trinken mochte, einfach nichts sei mehr hinuntergerutscht, sie sei jeweils nach Feierabend von der Weberei mit dem Velo heimgefahren und habe sich nur noch ins Bett gelegt. Und keiner habe nach ihr gefragt. Ihr ältester Bruder Werner jedoch, damals ein 15-jähriger Schulbub, weiss heute kaum mehr Einzelheiten von Linas Leiden. Zwar war er seiner Schwester aufgrund seines ähnlichen Alters und im Alltag nah, half ihr all die mutterlosen Jahre die Haushaltsbürde tragen und liess sich von ihr das Kochen und Waschen und Stricken beibringen, aber zu ihrer Erkrankung hat er nur vage Erinnerungen. Er sieht sie aber noch vor sich, wie sie immer weniger und schliesslich gar nicht mehr oder daneben redete, dafür aber nachts manchmal laut vor sich hinsang.

      Man hatte die schleichenden Veränderungen der jungen Frau also sehr wohl bemerkt, wie die Krankengeschichte notiert und Bruder Werner bestätigt, jedoch wurden sie in keiner Weise als Leiden gelesen, und es wurde darauf auch nicht reagiert. Der Herr Pfarrer sah darin das unabänderliche, erblich bedingte Fortwirken defekter Chromosomen, der Vater wohl zuallererst einen ärgerlichen Verlust, weil in seinem Witwerhaushalt abends kein Essen mehr auf dem Tisch stand oder weil das unkonzentrierte Mädchen beim Bügeln sein Sonntagshemd verbrannte. Man liess Linas Erkrankung – die eine unterschiedlich lang geschätzte Phase andauerte – einfach schlittern. Nicht ohne Bitterkeit erzählt Lina heute von ihrer Einsamkeit in diesen Jahren, davon, dass dies damals keinen Menschen gekümmert hatte.

      Erst als sie das erste Mal allein ins Dorf geht und mit einem jungen Mann alkoholisiert im Bett gefunden wird, wacht man in Vorderberg auf. Und dann aber richtig. Mit Polizeieinsatz und Überweisung in die Psychiatrie. Was Schlaflosigkeit und nächtliches Singen all die Monate zuvor nicht vermochten, schafft eine Bettaffäre im Nu. Das macht in der katholisch-bäuerlichen Welt im Vorderberg der 1950er-Jahre durchaus Sinn. Denn jetzt steht mehr auf dem Spiel als nur das Wohl einer jungen Frau, jetzt geht es um familiäre Ehre, um weibliches Wohlverhalten und um eine mögliche Schwangerschaft. Jetzt erst findet der Vater mit seiner Tochter zum Hausarzt, und dieser zögert nicht lange, er hat, so liest man im Überweisungsschreiben, seine Diagnose bereits parat, sie könnte helfen, die Sache nach aussen wieder ins Lot zu bringen.

      Ich überweise Ihnen heute Frl. Zingg Lina, geb. 2.4.40, von Hans, Bachgasse, Vorderberg, zur Beobachtung wegen Verdacht auf eine Schizophrenie. Das Mädchen leidet seit ca. 2 Jahren an religiösen Wahnideen, hört gelegentlich Stimmen. Gestern wurde es von einem Burschen vergewaltigt, nachdem es von diesem betrunken gemacht worden war.

      Mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung

      Dr. med. W. Sandstein

      Das Schreiben des psychiatrisch ungeschulten Hausarztes setzt bereits zu Beginn dieser Krankengeschichte eine entscheidende Wegmarke. Er vermutet eine Schizophrenie, stützt sich dabei auf Symptome wie Wahnideen und imaginäre Stimmen, Symptome, die Lina im Aufnahmegespräch eindeutig verneint und die im weiteren Verlauf auch nie wieder beobachtet werden. Im Gegenteil, Halluzinationen sind später, in der diagnostischen Argumentation, explizit als fehlende Symptome aufgeführt, ihre Absenz wird gar ein wenig bedauert, da sie der Eindeutigkeit der Diagnose zuwiderläuft. Offenbar hat hier der Hausarzt, genauso wie später der Herr Pfarrer, im Fall von Lina sogleich an ihre Mutter gedacht und war verführt, in der diagnostischen Vorarbeit an jenem Morgen nicht ganz trennscharf zu denken. Dies ganz im Einklang mit dem Diagnostikwahn Schizophrenie in jener Zeit und mit den damals populären Vererbungslehren in der Psychiatrie. Schizophrenie stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine Vielzahl von psychischen Störungen. Als Oberbegriff war die Diagnose erstmals 1911 vom Zürcher Psychiater und Burghölzli-Direktor Eugen Bleuler in die Psychiatrie eingeführt worden. Aufgrund ihrer Unschärfe wurde sie entsprechend inflationär gestellt und hatte weitreichende Wirkung, vergleichbar mit der früheren Diagnose Hysterie bei Frauen mit psychischem Leiden. In der Folge wurden viele Kliniken geradezu überflutet mit «Schizophrenen», im Zürcher Burghölzli etwa waren zeitweise über 50 Prozent der Patienten als schizophren verzeichnet. Der in den Fussstapfen des berühmten Vaters fortwirkende Sohn Manfred Bleuler beschäftigte sich in seiner Habilitation ebenfalls mit der Schizophrenie, erweiterte später das väterliche Standardwerk «Lehrbuch der Psychiatrie», reicherte dabei die eugenischen Gedanken seines Vaters mit rassenhygienischen Überlegungen an und schrieb – eine entscheidende Neuerung – die Ursache der Krankheit massgeblich der Vererbung zu. Noch später dann begann man in der Psychiatrie, die Schizophrenie differenzierter und kritischer zu betrachten, als ein Zusammenspiel neurobiologischer, psychologischer und sozialer Einflüsse, in gewissen Fällen sogar als rein stressbedingte Psychose, und inzwischen ist die Psychiatrie dabei, sich von diesem unscharfen Begriff langsam wieder zu verabschieden.1

      Damals, als Lina in Wil eingewiesen wird, Ende der 1950er-Jahre – Europa steht im Verdrängungsschock brauner Ideologie und übt Muskelspiele im Kalten Krieg –, dominiert in den Köpfen der Ärzte noch beharrlich die Bleuler-Ideologie der Vererbungslehre. Und entsprechend betreiben die Psychiater ihre diagnostische Arbeit, suchen bei Lina entlang ihrer Symptomliste nach der Bestätigung für die bei ihr vermutete Schizophrenie.

      Grundsätzlich ist die Patientin körperlich kerngesund, das belegen die Datenblätter zu den Routineuntersuchungen mit ihren Laborwerten, das bestätigt auch das Elektrokardiogramm. Weiter liest man aus der Krankengeschichte, dass der Eintritt in die Klinik eine beruhigende Wirkung hat, gemäss Pflegerapport schläft Lina die erste Nacht gut. Tagsüber ist sie freundlich und nett, liegt aber oft einfach ruhig auf dem Rücken, den Blick starr zur Decke gerichtet. Schlafmittel lehnt sie ab. «Frl. Zingg schlief anfänglich wenig, wollte jedoch kein Medikament haben. Nach Mitternacht schlief Patientin gut.» Bemerkenswert