Lisbeth Herger

Unter Vormundschaft


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tritt deutlich zutage, dass sie vorbeiredet, auf ihr gestellte Fragen völlig unpassende Antworten gibt, als ob sie die Frage überhaupt nicht gehört hätte und zeitweise zerfahren daherredet. Wie auch der persönliche Eindruck auf eine Debilität hinweist. […] Die Pat. [Patientin] nimmt keinerlei Kontakt mit den andern Pat. auf, sitzt abgekapselt auf der Stube und näht oder strickt, hilft aber auch willig bei der Hausarbeit, wenn die Schwestern dazu auffordern. Und erweist sich dabei als geschickt und fleissig.»

      Nach 17 Tagen fällt das Ärzteteam beim gemeinsamen Rapport eine erste Entscheidung. Da der Zustand der Patientin unverändert ist, wird mit einer «grossen Insulinkur begonnen». Also mit einer Schocktherapie. Über das tägliche Spritzen des Insulins wird der Körper künstlich in ein Koma versetzt, anschliessend lässt man die Patienten langsam wieder aufwachen. Der Körper mobilisiert bei dieser gezielten Rosskur – so hätte sie Lina vielleicht genannt, hätte man sie gefragt – besondere Kräfte, und genau diese sollen Körper und Geist in der Selbstheilung unterstützen. Nebst diesen via Schock ertrotzten Überlebensreflexen wird der über Wochen oder Monate angelegten Kur auch eine psychotherapeutische Wirkung zugeschrieben, da die Kranken dabei eng betreut und umsorgt werden müssen. Der Therapieentscheid der Wiler Psychiater fällt übrigens in eine Zeit, in der die Insulinkur andernorts bereits wieder abgesetzt wird. Zum Beispiel im Zürcher Burghölzli, dort also, wo man sie in den 1930er-Jahren entwickelt hatte. Hier arbeitet man inzwischen mit Elektroschock, damit lassen sich dieselben Effekte erwirken, aber mit kleinerem Aufwand und weniger Kosten.

      Zurück zur Patientin Lina Zingg. Bei ihr lassen die Erfolge der täglichen Spritzenkur vorerst auf sich warten: «Im bisherigen Verlauf der Insulinbehandlung sind keine wesentlichen Veränderungen des psychischen Zustands eingetreten. Die Pat. steht immer noch läppisch lächelnd auf der Abt. [Abteilung] herum, arbeitet, wenn man sie dazu auffordert, recht fleissig, ist von sich aus aber völlig initiativlos. Die Insulinkur wird fortgesetzt.» Nach 24 Kurtagen stellt sich dann endlich ein erster Erfolg ein: «Objektiv gesehen hat sich der Zu stand insofern etwas gebessert, als die Pat. jetzt ab und zu von sich aus an Arbeiten herangeht und weniger häufig ihre Zustände, wie sie die immer noch gelegentlich auftretende Zerfahrenheit bezeichnet, bekommt. Sie wirkt auch etwas weniger steif, zeigt jedoch immer noch ein recht inadäquates affektives Verhalten, lacht läppisch in unangepassten Situationen, ist zeitweise abweisend, auch wenn ihr die Schwestern freundlich entgegenkommen, und drängt sich auf der andern Seite fast klebrig wirkend zu Arbeiten auf, bei denen sie nicht gebraucht würde.»

      Der ärztliche Rapport widerspiegelt mit den stereotypen Zuschreibungen wie läppisch oder inadäquates affektives Verhalten die damals übliche Terminologie in der Diagnostik von Schizophrenie. Bei den Deutungsmustern setzt sich zudem der männlich geprägte Blick aus dem Bildungsbürgertum durch. Möglicherweise sind Linas unbeholfene Versuche, sich im langweiligen Klinikalltag nützlich zu machen, weniger Anzeichen einer psychischen Störung als ein gesunder Impuls der auf Arbeit getrimmten Bauerntochter. Sie kennt das Nichtstun – ausser sie liegt schwerkrank im Bett – nur als Zustand der Sünde, der, nebst der Langeweile, allenfalls Schuldgefühle provoziert. Solche Deutungsraster, die in den Alltag eines mausarmen Rheinthaler Bauernmädchens ausgegriffen hätten, konnte man damals weder in den medizinischen Lehrbüchern noch von den damit ausgebildeten Psychiatern erwarten. Die Bauernstube war für die Herren Doktoren eine Terra incognita.

      Sechs Wochen nach Lina Zinggs Einweisung fasst der Chefarzt der Klinik, Dr. Rauheisen, in einem ersten Resümee die Befunde und Beobachtungen in eine Diagnose: «Hebephrenie und Debilität leichten Grades bei einem jetzt 18-jährigen Mädchen aus sehr primitiven Verhältnissen». Der Klinikleiter bestätigt damit die bereits vom Hausarzt und Pfarrer prognostizierte Diagnose der Schizophrenie, denn Hebephrenie ist nichts anderes als eine Unterkategorie davon, bei der vor allem die affektiven Äusserungen unterdrückt oder nicht nachvollziehbar seien und bei der zusätzlich Denkstörungen auftreten würden.

      Heute würde man Linas nervöse Unruhe, ihre Schlafstörungen und den zunehmenden Rückzug in Absenzen und Schweigen vermutlich ganz anders deuten. Vielleicht als Ausdruck einer Erschöpfungsdepression der jungen Frau, die von ihrer Fabrikarbeit und dem familiären Haushalt überfordert war, oder aber als posttraumatisch ausgelöste Psychose bei einem heranwachsenden Mädchen, das mit dem frühen Verlust der Mutter und zweier Schwestern im emotional rauen und vereinsamenden Klima des väterlichen Haushalts alleingelassen wurde. Damals bewegte sich die Psychiatrie in einem ganz anderen Koordinatensystem.

      Die chefärztliche Diagnose bestätigt also, was man seit Eintritt erwartet hat. Und fügt schlank eine zweite Diagnose hinzu, die der Debilität leichten Grades. Auch diese wurde von Pfarrer Stocker bereits vorweggenommen, denn er hält von Linas Intelligenz nicht eben viel. Die Patientin sei acht Jahre in die Primarschule gegangen. Sehr intelligent sei sie nie gewesen, aber sie sei gerade so mitgekommen, hat er dem Arzt erzählt. Lina selbst dagegen hat einen etwas anderen Blick auf ihre Schulkarriere. Sie erzählt den Ärzten nicht ohne Stolz, dass sie, obwohl sie ab der sechsten Klasse den Haushalt daheim alleine habe machen müssen, alle acht Jahre Primarschule ohne Repetitionen habe absolvieren können. Sie habe in der Schule nie sehr gut gelernt, besonders beim Schreiben habe sie Mühe gehabt, aber sie sei nie sitzengeblieben. Ihr Bruder Werner kann dies bestätigen, er erinnert sich noch heute, wie geschickt sie in der Haushaltsführung war und dass ihre Versetzung in die nächste Klasse nie wirklich infrage gestellt war.

      Die Ärzte in Wil sehen dies anders und ziehen dabei einen diagnostischen Helfer hinzu: Den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene, den sogenannten HAWIE, mit dem Lina zwölf Tage nach ihrer Einweisung geprüft wird. In jener Krankheitsphase also, in der sie gemäss ärztlichen Protokollen «zeitweise vorbeiredet» und die grösste Zeit «fast vollständig mutistisch» dasitzt. Das Ergebnis des Tests lässt sich in der Absolutheit seiner arithmetischen Härtegrade nachlesen, im Ersteintrag von Linas Krankenakte, noch vor der Anamnese: «[…] Es ergibt der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest nur einen Intelligenzquotienten von 75, wobei der Verbalteil mit 69 wesentlich schlechter absolviert wurde als der Handlungsteil mit 82.» Eigentlich wissen die Psychiater, dass kognitive Leistungen bei einer Psychose oder schweren Depression völlig reduziert sein können. Sie schreiben dies denn auch ordentlich als Kommentar in die Krankengeschichte, und Dr. Rauheisen weist in seinem späteren Bericht an die zuständige Behörde explizit darauf hin: «Lina Zingg leidet an einer Geisteskrankheit (Schizophrenie) […]. Ob gleichzeitig bei ihr ein Intelligenzmangel (Schwachsinn im medizinischen Sinne) vorliegt, können wir erst nach Abklingen des jetzigen Schubs der Geisteskrankheit mit Sicherheit entscheiden, da eine verwertbare Intelligenzprüfung bei Fräulein Zingg erst durchgeführt werden kann, wenn die übrigen geistigen Störungen zurück gegangen sind.»

      Leider geht diese verwertbare Intelligenzprüfung – aus welchen Gründen auch immer – bei Lina vergessen. Und so werden sämtliche gutachtenden Ärzte im Fall Lina Zingg stets wieder die erwähnten HAWIE-Resultate zitieren und als Beleg ihrer Debilität hinterlegen. Während über 50 Jahren. Überdies, auch das sei noch angemerkt, werden die Testwerte erst noch zu Linas Ungunsten ausgelegt. Denn bei einem Intelligenzquotienten zwischen 70 und 80 spricht man gemäss Lehrbuch von leichter Minderbegabung, aber noch nicht von Schwachsinn. Und im Handlungsteil des Tests liegt Lina mit ihren 82 Punkten sogar im Bereich der Normalität. Man hätte in die Krankenakte der psychisch erkrankten jungen Frau also ebenso gut schreiben können, dass das Mädchen mit seinem ärmlichen Hintergrund und trotz seiner akuten Psychose eine durchaus bemerkenswerte kognitive Leistung zeigt. Doch nun steht da das medizinisch autorisierte Verdikt der Debilität leichten Grades. Es wird sich künftig wie eine blutsaugende Zecke in Linas Leben festsetzen, unwiderruflich und therapieresistent. Wird später gar diagnostisch verschärft, in manipulativer Absicht, wie noch zu zeigen sein wird: Die Debilität leichten Grades wird zu einer Oligophrenie, also zu einem eigentlichen Intelligenzdefekt, sprich Schwachsinn erhoben.

      Die Ereignisse und Akten, die aus dem Bauernmädchen Lina den Fall Lina Zingg machen, bergen noch weitere bemerkenswerte Fakten. Der überweisende Hausarzt berichtet in seinem Überweisungsschreiben bekanntlich von einer Vergewaltigung des jungen Mädchens. Lina wird in der Anamnese zum nächtlichen Vorfall befragt; der Arzt notiert, was sie erzählt:

      Am Palmsonntag sei sie das erste Mal allein ins Dorf gegangen und habe dort eine Freundin getroffen, mit der sie auf dem Velo die Strasse entlanggebummelt