Lisbeth Herger

Unter Vormundschaft


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mehr von Kühen und der Drainage einer Sumpflandschaft versteht als von dudenkonformer Korrespondenz. Von diesem Brief ist, inklusive Übernahme sämtlicher Orthografiefehler, eine Abschrift in Linas Psychiatrieakte abgelegt, das Original ist nicht aufzufinden. Er dokumentiert die Bestürzung eines Mannes, der vor die Behörden tritt, um seine Tochter zurückzuholen, und dabei von einer Ungeheuerlichkeit überrascht wird, mit der er offensichtlich nicht gerechnet hat: mit einem Inzestverdacht gegen ihn als Vater. Er soll es mit seiner Lina getrieben haben.

      Vorderberg, den 8.10.58

      Sehr geerthe Frau Dr. Ernst

      Was ich vernom habe am Montag vor gemeinderat, dass Ich mit der Tochter unssitlichkeit betrieben habe. Dass ist nicht wahr. Ich habe nur einmal getreut wo sie nicht aufstehen hat wollen zum Essen, aber so viel verstand habe Ich noch gehabt und häte heute noch, dass man mit der eigner Tochter nicht das betreiben darf. Ich bitte Sie, dass Sie dem Gemeinte Aman miteilen und den andern, sonst verurteile Sie an einem andern Ort.

      Ich habe unterschrieben, dass die Tochter ein Formunt bekomt für dass sie gelogen hat.

      Gruss von Hans Zingg.

      Hans Zingg wird also bei seiner Vorladung vor dem Gemeinderat mit einem Inzestvorwurf konfrontiert. Als Taktik im Verfahren kommt diese Anschuldigung durchaus gelegen, denn nun steht nicht mehr nur die Aufsichtspflicht des Vaters unter Anklage, sondern seine moralische Integrität. Nicht nur, dass er keine Kontrolle über seine Tochter hat, er hat sich auch noch bei ihr bedient. Die Herkunft des Gerüchts lässt sich nicht ermitteln, denn in den Akten wird die Angelegenheit nirgends erwähnt. Der Brief verrät einzig, dass Vater Zingg offenbar seine Tochter als Urheberin des Gerüchts beschuldigt und er sie deswegen mit seinem Einverständnis zur Vormundschaft bestrafen will. Aber vielleicht haben ja die Behörden selbst den Vorwurf Lina in den Mund gelegt, eine konkrete Anklage macht sich bei einem amtlichen Verfahren allemal besser als ein vages Gerücht. Oder vielleicht hat Vater Zingg in seiner Scham auch einfach reflexartig eine Schuldige gesucht und sie in seiner sperrigen Tochter gefunden. Wie auch immer, Lina kann, genau besehen, nicht ernsthafte Anklägerin sein in dieser Sache, denn auf dieses schlagende Argument hätten die Psychiater bei ihrem Antrag zweifellos nicht verzichtet. Auch der Umstand, dass Lina den Inzest gegenüber den Ärzten verschweigt, ihn aber bei den Vorderberger Behörden deponiert, ist nicht wirklich denkbar. Schliesslich hat sie in der fraglichen Zeit ja gar keinen Kontakt zu den Dorfhonoritäten. Und es will nicht einleuchten, dass sie sich ausgerechnet diesen Männern in einer derart schambesetzten Sache anvertraut haben soll. Fragt man sie selbst, heute, nach fast 60 Jahren, schüttelt sie dezidiert den Kopf. Schläge des Vaters ja, Übergriffe nein, sagt sie, und wer sie und ihre Geschichte kennt, hat keinen Grund, ihr nicht zu glauben.

      Es gibt ausserdem ein offizielles Dokument, das Hans Zingg vom schändlichen Vorwurf des Inzests befreit: Der zweite Brief in dieser Sache, abgelegt in der Vormundschaftsakte, ist ein Schreiben des Wiler Chefarztes Dr. Rauheisen, der den angeschuldigten Vater umgehend in einem Antwortschreiben entlastet.

      Sehr geehrter Herr Zingg,

      wir nehmen Bezug auf Ihren Brief an unsere Assistenzärztin Frau Dr. Ernst vom 8. Oktober 1958 und teilen Ihnen dazu mit, dass uns nichts bekannt geworden ist, wonach Sie sich mit Ihrer Tochter in irgendeiner Weise verfehlt hätten.

      Mit vorzüglicher Hochachtung

      Der Direktor

      Einen einzigen Satz hat der Herr Direktor für die Rehabilitation des verleumdeten Vaters übrig. Dies hätte als Freispruch von höchster Stelle wohl ausgereicht, wenn Herr Thür als zuständiger Gemeindeammann die Entlastung in den Gemeinderat und damit zu den Leuten in Vorderberg zurückgetragen hätte. Doch dies scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Das böse Zwischenspiel ist nur mit den isoliert abgelegten Briefen nachgewiesen, wird weder in der Kranken- noch in der Vormundschaftsakte direkt erwähnt oder gar diskutiert, und auch die gemeinderätlichen Protokolle zu den fraglichen Vorladungen in Vorderberg verschweigen die Anwürfe und die offizielle Entlastung. Was aber nicht festgehalten ist, hat es nie gegeben. Und so wird Bauer Zingg nicht wirklich rehabilitiert. Der Inzestverdacht bleibt untilgbares Gerücht, wird künftig bei der Diffamierung von Linas Herkunftsfamilie eine wichtige Rolle spielen, dann etwa, wenn die Behörden und Ärzte Lina vor ihren Verwandten schützen wollen. Wie hartnäckig der Anwurf sich in den Vorderberger Köpfen hält, und zwar bis heute, zeigt der Besuch im dortigen Gemeindehaus. Die Archivsuche bringt das Verschweigen in den Protokollen zutage, jedoch verplappert sich einer der Beamten, der die Folianten für die Besucherin aus dem Archiv holt, mit einer eindeutigen Anspielung. Das Gerücht hängt also noch immer in den Vorderberger Hügeln. Auch nach bald 60 Jahren.

      Doch zurück nach Vorderberg im Herbst 1958. Nach Eingang des Entmündigungsantrags aus der Klinik Wil und der zustimmenden Unterschrift durch Vater Zingg geht nun alles seinen behördlichen Gang. Und zwar schnell. Vorderberg schreibt an das zuständige Bezirksamt und fügt dem Antrag ein zusätzliches Argument hinzu. «Das Waisenamt Vorderberg befürwortet dieses Vorgehen umso mehr, weil Zingg sich letzte Woche wieder mit einer Witwe mit 9 Kindern verheiratet hat. Von diesen Kindern leben 4–5 im gleichen Haushalt.» Die Wiederverheiratung wird Hans Zingg von den örtlichen Behörden pikanterweise negativ angelastet, obwohl er sich und seinen Buben wieder eine ordnende und zudem weit jüngere Frau ins Haus holt. Vielleicht lesen die Behörden die Heirat eines armen Witwers mit einer ebenfalls nicht mit Reichtum, dafür aber mit Kindern gesegneten Witwe als weiteren Beweis seines Schwachsinns. Oder aber sie fürchten den Zuwachs an potenziellen Fürsorgebezügern und haben deshalb keine Freude an der neuen Liaison.

      Als künftigen Vormund für Lina, bis zu ihrer Volljährigkeit, schlägt man den bisherigen Beistand, den Schmiedemeister Schmetzer, vor. Von ihm ist, wie man inzwischen weiss, kein grosser Widerstand zu befürchten. Noch im selben Monat wird vom Bezirksammann von Oberrheintal die Verfügung ausgestellt, gestützt auf den bereits erwähnten Art. 285 im ZGB. «Das Begehren des Waisenamtes Vorderberg um Entziehung der elterlichen Gewalt bezüglich der Tochter Lina Zingg, geb. 2. April 1940, wird hiemit geschützt.» In einem Nachtrag wird zusätzlich festgehalten, dass die väterliche Entmündigung nur für die Tochter, nicht aber für seine Söhne und seine neuen Stiefkinder Gültigkeit hat. «NB. Hans Zingg hat die obige Verfügung, auf unserem Exemplar, unterschriftlich anerkannt, nachdem festgehalten wurde, dass diese Verfügung nur bezüglich der Tochter Lina Gültigkeit haben soll.»

      Der Kuhhandel ist besiegelt. Der Bauer gibt seine Tochter her, die ihm Schmach und Schande gebracht hat, seine Söhne jedoch und die neuen Stiefkinder darf er behalten. Im Gegenzug sichern sich Behörden und Ärzteschaft die gewünschte Kontrolle über die junge, hübsche, in ihren Augen schwachsinnige Lina mit ihrer erwachenden Sexualität.

      An dieser Stelle sei ein kleines historisches Fenster geöffnet, ein Blick über die Vorderberger und Wiler Hügel hinaus in die übrige Schweiz dieser 1950er-Jahre. Hin zu einem landesweit wichtigen Ereignis und zu einer Frau, mit der Lina mehr als nur den Geburtstag teilt. Die Konstruktion des Falls Lina Zingg fällt nämlich in eine Zeit, in der es um die Schweizer Frauen und ihre Rechte noch immer schlecht bestellt ist. Frauen haben keine politischen Rechte, leben in der faktischen Bevormundung durch Väter und Ehemänner, ihre berufliche und wirtschaftliche Autonomie ist fast so verpönt wie eine uneheliche Mutterschaft. Doch damals, in den Nachkriegsjahren, rufen viele nach Veränderung, wollen auch als Berufsfrauen Anerkennung, fordern mehr Rechte, allen voran das Stimm- und Wahlrecht. So kommt es zur zweiten grossen Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA), die just im selben Jahr eröffnet wird, in dem Lina in die Klinik kommt.6 Im Herbst 1958 lockt sie mit ihren Rundbauten das Schweizer Volk an den Zürichsee, um zu zeigen, was frau so alles kann und tut in diesem Land. Und auch, um zu diskutieren, was Weiblichkeit denn nun sei und was nicht. Die Ausstellung zeigt sich strategisch zahm, führt dennoch zu Debatten und zu Dissonanzen. Und zu einem brillant verfassten Einspruch in Buchform. «Frauen im Laufgitter» kritisiert in gnadenloser Schärfe die wirtschaftliche Abhängigkeit und die gesellschaftliche und politische Stellung der Frau. Ein freches Buch, das die schweizerische Gegenwart als patriarchale Urzustände geisselt und die brave Fügbarkeit der Frauen entblösst.7

      Die Autorin des Reizwerks, Iris von Roten, eine scharfsinnige Intellektuelle, gut gebildet, ökonomisch abgesichert, feministisch geschult, ist