Lisbeth Herger

Unter Vormundschaft


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knechtete oder eine Familie nicht ins bürgerliche Lebensmodell einzupassen war. Man weiss inzwischen von den Dramen dieser verlorenen Kinder, die von der Landstrasse, aber auch aus proletarischen Stuben geholt wurden; mittlerweile sind einige der meist trostlosen Heim- und Verdingkarrieren dokumentiert, man hat davon gelesen, auch vom nicht minder grossen Leiden der behördlich beraubten Eltern.2

      Selbst im Wissen um diese behördliche Willkür in der Schweiz des letzten Jahrhunderts irritiert im vorliegenden Fall, dass hier ein Vater sogleich entmündigt werden soll, nur weil er, ein Witwer, seine Tochter aus der Klinik wieder heimholen möchte an den bäuerlichen Herd und sie einem Frauenschicksal zuführen will, das – wie man aus Erzählungen und der Forschung weiss – in der bäuerlichen Unterschicht von damals gang und gäbe war. Unverheiratete Frauen hatten ihren Vätern und Brüdern und Onkeln den Haushalt zu richten, solange diese noch nicht oder nicht mehr verheiratet waren, und was von allen Töchtern und Schwestern erwartet wurde, galt erst recht für Frauen wie Lina, die vielleicht nicht ganz so schnell im Kopf waren, oder für solche, die sich mit einem körperlichen Handicap abzufinden hatten. Als tüchtige Haushälterinnen waren gerade sie im familiären Haushalt hochwillkommen, weil der Heiratsmarkt sie nicht allzu schnell wieder weglocken würde.

      Nun könnte man wohlwollend vermuten, dass hier für einmal ein Arzt sich besonders ins Zeug legte, um einer jungen Frau genau dieses Schicksal familiärer Knechtschaft zu ersparen. Doch diese Lesart verliert schnell ihre Plausibilität. Zum einen irritiert die von den Ärzten antizipierte Zukunft, die sich nur unmerklich von den Plänen des Vaters unterscheidet: In beiden Entwürfen soll Lina ihr Glück am häuslichen Herd als Dienstmädchen finden. Zum anderen aber – und das ist, in den Kontext historischer Zeitgeschichte eingebettet, weit bemerkenswerter – ist da noch ein zusätzliches Argument, das Dr. Rauheisen in die Begründungskette seines Antrags schiebt, fast schon beiläufig, sodass man es leicht überlesen kann. «Es [das Mädchen] entbehre zudem der notwendigen Beaufsichtigung, sodass es, wie am Tag vor der Anstaltsaufnahme, zu Zwischenfällen kommen konnte, die das Mädchen sittlich schwer gefährden.» Es geht also offenbar ebenso sehr um die Kontrolle der jungen Frau. Und deren sexuelle Autonomie. Es spricht einiges dafür, dass sich in der leicht dahingeschriebenen Nebenbemerkung gar der ursächliche Beweggrund versteckt, der nicht nur zum forschen Entmündigungsverfahren des Vaters führte, sondern überhaupt zur Konstruktion des psychiatrischen Falls Lina Zingg. Bekanntlich wird Lina ja nicht wegen ihrer Leiden, sondern in flagranti aus dem Bett eines jungen Mannes in die Klinik eingewiesen. Just in jenem Moment, als das junge Mädchen sexuell erwacht und sich für die landesüblichen Triebkontrollen nicht ganz so zugänglich zeigt wie erwünscht. Zudem ist Lina attraktiv, dies wird in der Krankengeschichte mehrmals betont und ist auch mit Fotografien belegt. Der Vorfall in der Kammer löst Alarm aus. Und katapultiert Lina über Nacht aus ihrem Dorf in ein neues Kräftefeld gesellschaftlicher Kontrolle: in die vor demokratischen Prozessen gut geschützte und von der Medizin autorisierte Psychiatrie.

      Es geht den Ärzten in Wil also weniger um das Wohl ihrer Patientin als um die Beschränkung ihrer sexuellen Autonomie.3 Damit helfen sie mit bei der gesellschaftlich verordneten Kontrolle über die weibliche Sexualität und erfüllen gleichzeitig ihren eugenischen Auftrag, den gesunden Volkskörper vor minderwertigem Erbgut zu schützen. Die Ideologie der genetischen Volkshygiene war nämlich nicht etwa nur im nationalsozialistischen Deutschland wirksam, sie bestimmte fast ein Jahrhundert lang die medizinischen und fürsorgerischen Konzepte auch in der Schweiz. Menschen wie Lina sollten sich – wenn immer möglich – nicht reproduzieren, die Weitergabe ihrer krummen Gene sollte verhindert werden. Und in der Wahl der Mittel zeigte man sich nicht zimperlich.

      Die Forschungsresultate zu diesem Kapitel Schweizer Medizin- und Sozialgeschichte sind noch kärglich, der Weg zu den Akten bleibt ein ausgebauter Hürdenlauf.4 Jedoch weiss man, dass das erste europäische Gesetz zur Zwangssterilisation 1929 im Kanton Waadt verabschiedet und die erste Zwangssterilisierung in der Schweiz durchgeführt wurde. Und man weiss, dass Hitlers Zwangssterilisationsgesetz von 1934 hierzulande zu einem sprunghaften Anstieg der Sterilisationen führte, vor allem bei Frauen.5 Ebenfalls bekannt ist, dank mutigen Zeugnissen von Betroffenen, dass diese Praxis bis in die 1980er-Jahre fortgesetzt wurde. Chefarzt Rauheisen zückte in seiner Wiler Klinik noch 1972 das Skalpell, um einer 18-jährigen Schwangeren ein Kind abzutreiben, gegen ihren Willen, und er sterilisierte sie anschliessend unter Zwang, weil sie «schwachsinnig» und «psychopathisch» gewesen sein soll.

      Lina ist aus Sicht der Ärzte ein Prototyp für eugenische Massnahmen. Sie stammt aus einer in ärztlicher Optik belasteten Familie, in der Schwachsinn grassiert. Und leidet zudem selbst, nun diagnostisch festgeschrieben, am Übel der Schizophrenie. Beide Krankheiten rangieren, gepaart mit pathologischer Triebhaftigkeit, ganz oben im Schwarzbuch der damaligen Psychiatrie. Das ist in der Klinik in Wil nicht anders als in Münsterlingen oder im etwas moderneren Zürcher Burghölzli. Im Falle von Lina Zingg scheut Chefarzt Rauheisen den Griff zum Skalpell. Vielleicht ist er sich der Sache doch etwas unsicher. Und schliesslich ist ihm die junge Frau ja nicht als Schwangere zur Rettung anvertraut worden, sondern mit ärztlich bestätigter Halbvirginität. Jedoch braucht die aus Sicht der Psychiatrie triebgesteuerte Frau zweifelsfrei eine enge Kontrolle. Und da der Vater hier kein zuverlässiger Partner ist, muss er ausgeschaltet werden. Nur so kann der Weg frei werden für die vom Chefarzt verordnete Massnahme: eine präventive Fremdplatzierung mit integrierter Kontrolle.

      Dieses eugenische Skript, gut verborgen hinter fürsorgerischem Vokabular, zeigt sich, einmal erkannt, als nützlicher Schlüssel, um den Fall wirklich zu verstehen. Er bewährt sich bei der Auflösung weiterer Rätsel, etwa dem, warum dieser Vater nur bezüglich seiner Tochter die elterliche Gewalt abzugeben hat, nicht aber für seine Söhne. Ginge es tatsächlich um die beklagte Verwahrlosung, müssten die Buben, da jünger, erst recht fremdplatziert werden. Und schliesslich wird vor dem Hintergrund dieser These auch einsichtig, weshalb im Fall Lina Zingg die Herren Doktoren aus Wil und nicht, wie eigentlich zu erwarten wäre, die Fürsorgebehörde aus Vorderberg die Federführung haben. Es geht um eine eugenische Intervention unter hoheitlicher Führung der Psychiatrie. Dabei können die Ärzte auf die bewährte Kooperation mit den Behörden und das Bündnis mit den pfarrherrlichen Verwaltern religiöser Moral setzen. Und so überrascht es nicht, dass die erwartete Absolution seitens des Pfarrers – trotz anfänglichem Zögern – schon bald bei Dr. Rauheisen eintrifft:

      Herr Pfarrer Stocker von Vorderberg, den wir gebeten hatten, nochmals mit Herrn Zingg zu reden, kam ebenfalls zu dem Schluss, dass der Vater völlig uneinsichtig sei und die häuslichen Verhältnisse äusserst ungünstig für ein gefährdetes Mädchen wären. Es bleibt somit keine andere Wahl, als das Mädchen zu bevormunden.

      Bereits acht Tage nach Einreichung des Antrags antwortet das Waisenamt der Gemeinde Vorderberg mit einem ersten positiven Signal. «Wir bestätigen Ihnen hiermit bestens dankend den Empfang Ihres Briefes vom 19. ds., zu welchem der Gemeinderat an der gestrigen Sitzung Stellung genommen hat. Der Gemeinderat ist mit Ihrer Ansicht, das Mädchen in einen Haushalt zu platzieren, voll und ganz einverstanden. Zwecks Entziehung der elterlichen Gewalt wird der Vater Zingg nächste Woche vor das Waisenamt zitiert, um die Sache dann an das Bezirksamt weiterzuleiten. Wir möchten Sie höflich ersuchen, das Mädchen noch so lange bei Ihnen zu behalten, bis die Sache abgeklärt ist.»

      Und nur eine Woche später wird Hans Zingg zur Sitzung des Waisenamts vorgeladen, und «nach gegenseitiger Aussprache» unterschreibt der Bauer eine vorbereitete Erklärung, in der er sich einverstanden erklärt, «seine Tochter Lina Zingg, gb. 2.4.1940, z. Zt. in der Heil-Pflegeanstalt Wil, unter Vormundschaft zu stellen, womit ihm die elterliche Gewalt über das Mädchen entzogen ist».

      Vater Zingg gibt seinen Widerstand also sozusagen während der amtlichen Vorladung auf. Das ist durchaus nachvollziehbar. Er ist nicht der erste Bauer, der vor der Autorität eines Waisenamtspräsidenten einknickt und sich fügt. Und doch erstaunt diese widerspruchslose Zustimmung, beklagte man doch vorher den renitenten Widerstand des bockigen Vaters eindringlich. Eine mögliche Erklärung für diese Kapitulation findet sich in einem kurzen Briefwechsel, genauer in zwei Briefen, die kommentarlos in zwei unterschiedlichen Dossiers abgelegt sind. Der erste ist an Frau Dr. Ernst gerichtet, an jene Assistenzärztin, die ein paar Wochen zuvor Lina Zinggs Jungfräulichkeit zu begutachten hatte. Geschrieben ist der Brief von