Bernhard Weissberg

Wie die Swissair die UBS rettete


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Die Menschen fürchten sich vor weiteren Terrorakten. Sie vermeiden es, Risiken einzugehen, und bleiben lieber am Boden, als dass sie in ein Flugzeug steigen. Die Anschläge stürzen deshalb die Luftfahrtindustrie in ihre grösste Krise. Und sie zerstören – ein Kollateralschaden mit grosser Wirkung für die Swissair – damit den Wert auch aller flugnahen Nebenbetriebe. Der Notgroschen, gedacht als letzte Lösung, falls gar nichts mehr geht, hat plötzlich keinen Verkaufswert mehr. Swissair-Chef Mario Corti sieht deshalb nur noch einen Ausweg: den Bittgang in den Bernerhof.

      Doch so einfach, wie sich Corti dies möglicherweise gedacht hat, wird die Rettung der Swissair nicht. Der Finanzminister ist entgeistert und konsterniert. Kaspar Villiger erinnert sich heute so an jenen Tag im schwarzen September 2001: «Die Vorstellungen von Corti zur Rettung nach 9/11 lagen derart weit von jeder, auch finanziellen, Realität, dass ich mir eigentlich noch heute kein anderes Handeln als das Herantasten an eine mögliche Lösung zusammen mit den anderen betroffenen Stakeholdern vorstellen konnte.» Anders gesagt: Der Bundesrat ahnt, dass eine Rettung viel Geld kosten wird, sehr viel Geld. Und dass Corti als Krisenmanager heillos überfordert ist. Der FDP-Politiker wird seine Zweifel nicht öffentlich ausbreiten. Aber ihm ist klar, dass für diesen Job andere Qualitäten gefragt sind als diejenigen eines vorwiegend auf Akten und Konzernrechnungen fokussierten Mannes. Villiger ahnt zudem auch, was die Ursachen dieser Misere sind: «Meiner Meinung nach hätte die Swissair vor 9/11 durch eine mutige Restrukturierung, durch den Verkauf rentabler Tochtergesellschaften, ihre Probleme aus eigener Kraft noch lösen können. Aber durch den Terroranschlag wurden diese Tochtergesellschaften über Nacht derart entwertet, dass sich das Problem massiv verschärfte.»

      Corti und Fouse verlassen die Besprechung, ohne einen Beschluss erreicht zu haben. Villiger ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie viel Geld Corti und dessen Swissair wirklich benötigen. Der Bundesrat berät sich mit dem Chef der Finanzverwaltung, Peter Siegenthaler, und diskutiert mit seinem Chefbeamten, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Schnell kommt die Idee auf, die in solchen Fällen damals oft als Erste eingebracht wird: «Runder Tisch»! Alle Beteiligten an einen Tisch zu setzen, scheint sinnvoll. Denn die Lösung sollte nicht primär vom Staat kommen. Villiger ist ein Liberaler: Eigentlich, so seine Überzeugung, ist die Wirtschaft für ihre Probleme primär selbst verantwortlich. Erst dann sollte der Staat zum Zug kommen, wenn möglich aber nur subsidiär, also nachrangig. Das Treffen Villigers und Cortis vom Montag, 17. September, das ohne Beschluss endet, sei der Schlüsselmoment des Scheiterns gewesen, analysiert rückblickend René Lüchinger: «Bundesrat Kaspar Villiger hat damals die Situation unterschätzt. Er hat unterschätzt, wie dramatisch die Situation der Swissair war. Er hat auch die Gefahr, dass es ein Grounding geben könnte, einfach nicht gesehen.» Peter Kurer, damals Chefjurist der UBS, sieht das Problem in der mangelnden Zusammenarbeit innerhalb der Regierung: «Villiger hat im Nachgang zu diesem Treffen den Rest-Bundesrat nicht sofort informiert.» Das geschieht tatsächlich erst vier Tage später, am 21. September 2001. Aber, so argumentiert Villiger, die Regierung sei mit den eingereichten Unterlagen für die Mitberichte schon Tage zuvor über die schlechte Lage der Airline ins Bild gesetzt worden. Und: «Der Bundesrat hat keine eigentlichen Machtmittel, die ihm erlauben, eine Krise in der Privatwirtschaft zu managen.» Er könne Gespräche führen, Überzeugungsarbeit leisten, er könne versuchen, zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu moderieren, «das alles ist nicht wenig!» Kurer bleibt bei seiner Meinung: «Der Bundesrat hätte – nachdem Corti zu ihm kam – hinter die Swissair stehen und der Airline eine Staatsgarantie geben sollen, das hätte gereicht.» Jedenfalls ist für Kurer «nach dieser Erfahrung» klar: Wenn man mit dem politischen System spricht, muss man immer mehr als einen Bundesrat im Boot haben: «Das ist aus meiner Sicht die Haupterkenntnis.»

      Natürlich wäre eine Rolle als Retter verlockend. Aber Selbstdarstellung ist nicht Villigers primäres Merkmal. Er, genauso wie sein wichtigster Mann in der Verwaltung, Peter Siegenthaler, ist ein eher zurückhaltender Mensch. Sie hätten gerne Zeit und Fakten vorliegen, um das Problem strukturiert angehen zu können; sie sind überzeugt, dass sich der Staat zurückhalten soll bei Eingriffen in die Wirtschaft. Wo Corti Gas geben will, steht Villiger also auf die Bremse. Er lässt Siegenthaler zuerst einmal ein Aussprachepapier für die nächste Bundesratssitzung in vier Tagen ausarbeiten. Auch die NZZ, Leuchtturm für freisinnige Politikerinnen und Politiker, macht klar, dass nicht in erster Linie der Staat zu handeln habe, sondern dass «eine rein privatwirtschaftliche Sanierung ohne Zweifel die zu bevorzugende Lösung» wäre, so der wirkungsmächtige Wirtschaftschef von damals, Gerhard Schwarz. Er warnt am 20. September die Politiker vor «ordnungspolitischen Fehltritten». Gleichzeitig spürt die Volkszeitung Blick bei diesem Volk eine ganz andere Haltung: Vier von fünf Blick-Lesern würden sich eine nachhaltige Rettungsaktion für die Airline wünschen. «Rettet die Swissair!» titelt das Blatt. Bei der Gesellschaft selbst dringt die Dringlichkeit nicht wirklich durch: Der Verwaltungsrat werde im Oktober über ein weiteres Sanierungspaket entscheiden, teilt man einsilbig mit.

      Lange hat man ja im Bernerhof gehofft, dass «dieser Kelch an uns vorübergeht», wie sich Peter Siegenthaler, Chef der Finanzverwaltung des Bundes, rückblickend erinnern wird, um nachzuschieben, da habe man «möglicherweise zu lange in der Beobachterrolle verharrt». Ja, Siegenthaler ist im Rückblick durchaus selbstkritisch: «Wenn man da die Entscheidvorbereitung ab Beginn 2001 etwas intensiver vorangetrieben hätte, dann wäre vielleicht die am Schluss getroffene Lösung etwas besser gewesen und/oder man hätte möglicherweise auch noch andere Lösungen gehabt. Der Spielraum von Alternativen ist in der Realität dann sehr rasch klein geworden.» Oder anders gesagt: Villiger, der Bundesrat und die Verwaltung sind im Innersten nicht darauf vorbereitet, was kommen könnte. Die Entscheidungsträger haben keine vorsorglichen Abklärungen getroffen, keine Szenarien erarbeitet. Und sie haben keinen Präzedenzfall, auf den sie kurzfristig zurückgreifen können. Und nun kommt also der Chef der nationalen Airline und will Geld vom Staat. Villiger besitzt kaum Informationen, weiss nicht, wie es wirklich um die Fluglinie steht, hat keine exakten Zahlen und schon gar kein schriftliches Gesuch vorliegen. Ihm fehlt die Zeit, sich die notwendigen, gesicherten Informationen zu beschaffen, sie zu analysieren und dann zu entscheiden, wie es jedes Managementhandbuch in einer solchen prekären Situation empfehlen würde.

      Um die Jahrtausendwende befinden wir uns ausserdem in einer gesellschaftlichen Übergangsphase: Das Internet dringt seit den 1990er-Jahren ins Leben der Menschen und in die Unternehmen ein, 2001 implodiert an der Börse gerade die erste Interneteuphorie. Die Digitalisierung treibt die immer stärkere Arbeitsteilung und damit die Globalisierung an, die Anforderungen an Wirtschaftsführer und Politiker verändern sich rasant. Nicht mehr nationale Netzwerke sind entscheidend, sondern internationale. In der Schweiz haben neue, angelsächsisch geprägte Banker die alten Bankdirektoren abgelöst. Und nun soll ein Politiker alter Schule wie Kaspar Villiger das Schlamassel, das ihm «seine» Wirtschaftsführer eingebrockt haben, aufräumen. Eine Herkulesaufgabe. Villiger ist ein stiller Schaffer, der noch zu Zeiten der Schweiz AG gross geworden ist, als die Netzwerke ihm zuerst im Lokalen, dann in der Region und im Kanton Luzern zur nationalen Karriere verholfen haben. So hievte man ihn, den eher scheuen, nachdenklichen Innerschweizer, vor zwölf Jahren in den Bundesrat. Nun befindet er sich in der Schlussphase seiner Regierungszeit. Villiger wird später schreiben: «Die Swissair-Krise war die komplexeste, die man sich nur vorstellen kann. Unter fast wahnwitzigem Zeitdruck und mit einer Unzahl von Mitspielern mit eigenen Agenden sowie mit schriller politischer und medialer Begleitmusik musste eine Lösung gefunden werden, welche die Infrastruktur vor der Implosion bewahrte und die Direktanbindung unseres hochentwickelten Wirtschaftsstandortes an die wichtigsten Wirtschaftszentren sicherte.» Villiger fehlt zu diesem Zeitpunkt das Mittel, auf das Betroffene in Krisen gerne zurückgreifen: auf Analogien aus der Vergangenheit. Villiger hat weder eine Blaupause einer Airline-Rettung, von der er sich inspirieren lassen kann, noch ein Entscheidungsset, erarbeitet aus vorherigen Fällen, wie der US-Politikwissenschaftler und Professor Barry Eichengreen es als probates Mittel für die Krisenbewältigung im Nachgang zur Finanzkrise zehn Jahre später propagieren wird. Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerats wird 2002 in ihrem Bericht denn auch monieren, dass «der Bundesrat keine Szenarien geprüft hat für den Fall, dass die Restrukturierung und Refinanzierung der SAir-Group scheitert oder der Konzern zahlungsunfähig wird».

      Der Bundesrat beschliesst am 21. September, der Swissair zu helfen – aber nur subsidiär und höchstens