Nach einer Übernachtung in Dettingen kamen wir am nächsten Morgen in Laufenburg an, wo wir ein kleines Kanu mieteten, um uns nach Mumpf zu bringen. Ich gebe diesen Booten eine indianische Bezeichnung, da sie von einfachster Bauart waren – lang, schmal und mit flachem Kiel: sie bestanden nur aus geraden Stücken von Planken aus Kiefernholz, waren unbemalt und mit so wenig Sorgfalt zusammengenagelt, dass ständig Wasser durch die Ritzen eindrang und das Boot andauernd ausgeschöpft werden musste. Die Strömung war stark, und der Fluss brauste hurtig voran und brach sich im Vorbeischnellen an den unzähligen Felsen, die nur knapp unter Wasser lagen: Es war ein einigermassen erschreckender Anblick, unser zerbrechliches Boot zwischen den an den Felsen entstehenden Wirbeln hindurchwinden zu sehen, wobei jede Berührung tödlich gewesen wäre, und die kleinste Neigung zu einer Seite hätte es sofort kentern lassen.
In Mumpf konnten wir kein Boot beschaffen, und wir dachten, wir hätten Glück, als wir einem cabriolet auf der Rückfahrt nach Rheinfelden begegneten; doch unser glückliches Geschick war nicht von langer Dauer: Ungefähr eine Meile von Mumpf entfernt brach das cabriolet zusammen, und wir mussten zu Fuss weitergehen. Zum Glück wurden wir von einigen schweizerischen Soldaten eingeholt, die man entlassen hatte und die auf dem Weg nach Hause waren; sie trugen uns unsere Reisekiste bis nach Rheinfelden, wo man uns den Weg zu einem Dorf in einer Meile Entfernung wies, in dem man für gewöhnlich Boote mieten konnte. Dort bekamen wir, allerdings nicht ohne einige Schwierigkeiten, ein Boot nach Basel und fuhren weiter, den schnell strömenden Fluss hinunter, während der Abend anbrach und das Wetter rauh und unfreundlich war. Unsere Reise war jedoch von kurzer Dauer, und wir erreichten unser Ziel um sechs Uhr am Abend.
Quelle: Mary W. Shelley & Percy B. Shelley: Flucht aus England. Reiseerinnerungen & Briefe aus Genf 1814–1816. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Alexander Pechmann. Hamburg, Genf, Friesland: Achilla Presse Verlagsbuchhandlung 2002, S. 35–43.
Editorische Notiz: Zurück in England, arbeiteten Percy und Mary ihre gemeinsamen Aufzeichnungen zu einer Buchpublikation um; History of a Six Weeks’ Tour, Marys allererste Buchveröffentlichung, erschien 1817.
1816
Lord Byron
London —
Basel —
Bern —
Murten —
Lausanne —
Genf —
Montreux —
Lauterbrunnen —
Wengneralp —
Grosse Scheidegg —
Grindelwald —
Meiringen —
Brienz —
Lausanne —
Mailand
Blick auf die Jungfrau von Lauterbrunnen aus. Solche Szenerien inspirierten Lord Byron zu seinem Drama «Manfred». Lithografie, gezeichnet von M. Villeneuve, lithografiert von Godfrey Engelmann (1823).
Nahezu alle fünf Minuten hörten wir Lawinen hinunterstürzen – wie wenn Gott den Teufel vom Himmel herab mit Schneebällen bewerfen wollte.
Lord Byron (1816)
Missolunghi, Griechenland, 19. April 1824: Auf seinem Sterbebett hauchte Lord Byron seinem Arzt folgende Worte ins Ohr: «Ich habe das Leben von Herzen über und werde die Stunde willkommen heissen, in der ich davon scheide, denn nur wenige Menschen können schneller leben, als ich es getan habe.» Schneller leben: Tatsächlich gehörte George Gordon Noel Byron (1788–1824), wie er mit vollem Namen hiess, zu jenen Menschen, deren Dasein so wirkte, als wäre es eine Fackel, die an beiden Enden brennt. Es war ein rauschhaftes Leben, er nahm und raffte an sich, was er bekommen konnte: Geld, Ruhm, Frauen, Männer, Knaben. Mit seinen ersten Dichtungen – insbesondere mit Childe Harold’s Pilgrimage (ab 1812), modelliert nach seinen eigenen Erfahrungen auf einer «Grand Tour» in ferne Länder – erlangte er Kultstatus, wurde abgöttisch verehrt, als Dichter, als Mann, ganz so wie später Franz Liszt, eine andere Ikone der Romantik. Byron, das war ein diabolischer Verführer. Wie passend, ist man versucht zu sagen, dass er mit einer Behinderung, einem Klumpfuss nämlich, geboren wurde. Der «hinkende Engel», wie er auch genannt wurde, war zu massloser Liebe ebenso fähig wie zu massloser Grausamkeit; will heissen: seinen Opfern fügte er kein körperliches, aber sehr viel seelisches Leid zu. Nur 36 Jahre alt ist er geworden, da hat ihn die Malaria dahingerafft (und er ist nicht etwa mit dem Säbel in der Hand auf dem Schlachtfeld gestorben, im Freiheitskampf für die Griechen, wie er es sich gewünscht hätte). Wie immens sein Ruhm war, zeigte sich unmittelbar nach seinem Tod: Als sein Leichnam auf der «Florida» nach London gebracht wurde, säumten Hunderte das Ufer der Themse; und laut Augenzeugenberichten besuchten Tausende den aufgebahrten und einbalsamierten Dichter, ehe er zu Grabe getragen wurde.
Sich wirklich ein Bild vom Menschen Byron zu machen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit, denn egal, welche Biografie man aufschlägt, welche Quelle man konsultiert, es sind immer neue Facetten, die präsentiert werden. «In diesem Menschen kam alles zusammen, was es braucht, um im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen», fasst Michail Schischkin in seinem Wander- und Lesebuch Auf den Spuren von Byron und Tolstoi (2012) zusammen, «eine gute Herkunft sowie hübsche Gesichtszüge, Reichtum und ein skandalbelastetes Familienleben, der Nimbus eines Ausgestossenen sowie eine Leidenschaft für den Sturz in die Tiefen, eine körperliche Behinderung (‹born with a lame foot›) und poetisches Genie. Er hatte es nicht nötig, an seinem Image zu arbeiten und herumzufeilen, da all sein Tun und Lassen ohnehin seinem Image zugutekam. Sein Image deckte sich völlig mit seiner Person. Der Mensch Byron fesselt mehr als seine Helden, die erst dann interessant werden, wenn sie an ihn erinnern.»
Lord Byron (1788–1824) auf einem Porträt von 1814.
Im Sommer 1816 logierte der Dichter für einige Monate in der Schweiz. Nicht ganz freiwillig, denn er musste England verlassen aufgrund mehrerer Skandale – der grösste war die Trennung von seiner Frau und seiner Tochter Ada und parallel dazu seine wilde Ehe mit seiner Halbschwester Augusta, mit der er ebenfalls eine Tochter zeugte, Elizabeth Medora. Für dieses inzestuöse Verhältnis wurde er, ein Angehöriger des britischen Hochadels, von der Gesellschaft gebrandmarkt. Als Byron England am 25. April 1816 verliess, konnte er noch nicht ahnen, dass er nie wieder zurückkehren würde. Die Schweiz als vorläufiges Ziel kam überhaupt nur infrage, weil es nach den Friedensschlüssen von Amiens und Wien für die Engländer wieder möglich war, sich frei auf dem Kontinent zu bewegen. Lord Byron reiste mit Stil von der französischen Küste an den Genfersee: in einer grosszügig dimensionierten schwarzen Kutsche, einer Art Palast auf Rädern mitsamt Ruhebett, Bibliothek und kleinem Speisezimmer.
Für Byron bedeutete der Aufenthalt in der Schweiz die Trennung von seiner Augusta und bitteres Exil, für die Literaturgeschichte war er ein beispielloser Glücksfall. In Cologny trafen sich nämlich Percy Shelley, Mary Godwin und Claire Clairmont, die wir schon aus dem vorangehenden Kapitel kennen, sowie Lord Byron, sein Leibarzt Polidori und zwei Bedienstete. Mit dabei war auch Marys und Percys zweites gemeinsames Kind, Sohn William – von ihm ist erstaunlicherweise kaum die Rede, aber dennoch: ein Baby von acht Monaten gehörte mit zur Gesellschaft, die sich auf zwei Haushalte verteilte. Die Shelleys wohnten unten am Seeufer, in einem eher bescheidenen Häuschen, Byron und seine Entourage weiter oben am Hang in der herrschaftlichen Villa Diodati – die topografische Situation von oben und unten bildet auch das soziale «Ranking» ab, wie Padraig Rooney festhält, denn Byron stand auf der gesellschaftlichen Leiter einige Stufen über Shelley. Freunde wurden die beiden trotzdem, und Byron sollte Shelley just am Genfersee sogar das Leben retten, aber dazu später mehr. Zwischen den beiden Häusern ging