Barbara Piatti

Von Casanova bis Churchill


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Kind, Allegra, dem nur ein kurzes und unglückliches Leben beschert war. Ob Mary auch in seinem Bett landete, wer kann das wissen, ganz ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht. Sicher ist hingegen, dass neugierige Touristen das Treiben von den gegenüberliegenden Hotels beobachteten, bewaffnet mit Ferngläsern und Lorgnetten, einer Art Vorläufer des Opernguckers. Byron, der Superstar unter den zeitgenössischen Dichtern, war in jenen Tagen, wie überall, wo er sich aufhielt, die Sensation schlechthin.

      1816 ging als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein. Es war selbst im Juni und Juli fürchterlich kalt, unablässig prasselte der Regen auf die Dächer: Einige Monate zuvor war im indonesischen Tambora ein Vulkan ausgebrochen, der grosse Mengen an Asche in die Atmosphäre geschleudert hatte. Das Resultat war, auch in Westeuropa, mit einem nuklearen Winter vergleichbar: Die Sonne verdüsterte sich, die Temperaturen fielen um mehrere Grad. In dieser Schlechtwetterperiode entstand aber viel Literatur, nicht irgendwelche, sondern Literatur von Weltrang. Mary Shelley schrieb bekanntlich Frankenstein or the Modern Prometheus, eine gothic novel, deren Siegeszug bis heute anhält und die fest im kollektiven Gedächtnis verwurzelt ist, Polidori verfasste The Vampyre, einen ersten Blutsaugerroman, den er 1817 unter Byrons Namen publizierte und der tatsächlich eine Art Humus für die spätere Dracula-Kreation von Bram Stoker bildete. Aus Shelleys Feder stammt ein berühmtes Gedicht auf den «Mont Blanc» und von Byron eines auf den «Prisoner of Chillon» – mit diesem Versepos um einen im 16. Jahrhundert in den Kerkern von Chillon dahinvegetierenden Gefangenen drückte er der Genferseeregion endgültig seinen Stempel auf. Nur deswegen wurde zum Beispiel in Villeneuve 1840 ein «Grand Hotel Byron» eröffnet, direkt gegenüber von Schloss Chillon. Später zog dieses Haus wiederum Berühmtheiten wie Franz Liszt, Felix Mendelssohn Bartholdy, Stefan Zweig und andere an.

      An einem der wenigen zumindest anfangs regenfreien Tage machten sich Shelley und Byron zu einer gemeinsamen Bootsfahrt auf; sie sollte ganz anders enden als geplant. Die Idee war, die Schauplätze von Jean-Jacques Rousseaus Liebes- und Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse zu besuchen, also ein Footstep Travelling zu unternehmen, so wie es Mendelssohn in der Zentralschweiz mit Schillers Wilhelm Tell in der Tasche tut (siehe das Kapitel über Felix Mendelssohn Bartholdy, Seite 117–131). Die beiden englischen Poeten befanden sich mitten auf dem See, als das Wetter umschlug: «Der Wind nahm stetig an Heftigkeit zu, bis es fürchterlich stürmte; und da er aus der entferntesten Ecke des Sees kam, erzeugte er Wellen von erschreckender Höhe.» Das Segel flatterte davon, das Steuerruder war nicht mehr zu gebrauchen, Wasser strömte ins Boot. Vorsichtshalber zogen die beiden schon einmal ihre Mäntel aus und sassen mit verschränkten Armen im Boot. Dieses kenterte dann auch wirklich – kein Problem für Byron, der in Nachahmung des Mythos von Hero und Leander schon den Hellespont, heute Dardanellen genannt, durchschwommen hatte, eine Meeresenge, die an ihrer schmalsten Stelle gut 1300 Meter misst; wohl aber eines für Shelley, der nicht schwimmen konnte; es war Byron, der ihn an Land zog … Danach trockneten die beiden in einer Taverne in Meillerie.

      Im romantischen Zeitalter, so scheint es, kam es unablässig zu Durchmischungen und Durchmengungen von Erfundenem und Wirklichem. Bei allem Schrecken – es wird Byron und Shelley, zumindest im Nachhinein, amüsiert haben, dass sie genau das durchlebt haben, was auch die Romanfiguren bei Rousseau (auf deren Spuren sie ja unterwegs waren) durchgemacht hatten: Julie und Saint-Preux, ein Liebespaar, geraten in ihrem Boot in ein heftiges Gewitter und können sich nur mit Mühe ans Ufer retten. In einem Brief an seinen Verleger Murray, datiert auf den 27. Juni 1816, kommentierte Byron diese literarische Pilgerfahrt: «Ich habe Rousseaus gesamtes Terrain besichtigt, immer mit der Héloïse in der Hand, und ich bin erschlagen, so sehr, dass ich es nicht beschreiben kann, von der Kraft und Genauigkeit seiner Beschreibungen, und von der Schönheit ihrer Wirklichkeit.»)

      Kurz nach diesem Seeabenteuer, zwischen dem 17. und dem 29. September, unternahm Byron, nun ohne die Shelleys, aber mit seinem Freund John Cam Hobhouse aus Cambridger Studientagen, eine Tour ins Berner Oberland. Hobhouse, selber kein grosser Dichter, führte Tagebuch, und wir erfahren daraus ein paar interessante Fakten: dass die Exkursion bei schönstem Wetter stattfand, dass sie eine Menge instruktiver und unterhaltsamer Aspekte bot (wie etwa die Gesangseinlage von vier Brienzer Mädchen nach Tisch), und all das bei überschaubaren Kosten von insgesamt 305.15 Schweizer Franken. Er hält aber auch witzig-selbstironische Augenblicke fest, zum Beispiel nach einem Aufstieg von der Wengneralp der Männlichen-Flanke entlang: «Wir legten uns für einen Augenblick hin, diese berühmte Szenerie zu betrachten, deren Unberührtheit jedoch etwas gestört wurde durch das Erscheinen von zwei oder drei weiblichen Wesen zu Pferd, gerade als wir uns beglückwünschten zur unübertrefflichen Einsamkeit dieser Szenerie, etwa im Vergleich zu Chamonix.»

      Auch Byron hielt seine Eindrücke fest (siehe Originaltext), allerdings mit einer ganz bestimmten Adressatin im Hinterkopf: Augusta. Und bei allem Üblen, was man Byron nachsagen kann, insbesondere im Hinblick auf die Behandlung von Frauen, für Augusta trifft das alles nicht zu. Sie hat er immer zu schützen versucht, sie hat er offenbar wirklich geliebt, aber gerade das eben nicht gedurft: «An Dich, liebste Augusta, sende ich, und für Dich habe ich diesen Bericht von dem, was ich gesehen und empfunden habe, geschrieben. Liebe mich, wie Du von mir geliebt wirst.»

      Die Tour durch das Berner Oberland hat der Nachwelt aber nicht nur Byrons Tagebuch beschert, sondern auch das Drama Manfred (1817), wobei das eine mit dem anderen sehr eng verknüpft ist. Byron selbst bestätigt, dass die «germs», die Samen des Dramas, in seinem Reisetagebuch für Augusta zu finden seien. Das Lauterbrunnental und vor allem die Jungfrau wurden für Byron zu Inspirationsorten und Schauplätzen, so wie zuvor Schloss Chillon. In dieser Berner Oberländer Kulisse aus Schnee, Eis und Fels siedelt Byron die dramatischen Szenen mit Manfred an, einem Helden, der in Weltschmerz versinkt, mit düsteren Mächten im Dialog steht und sich in seiner Not vom Gipfel der Jungfrau stürzen will, wäre da nicht ein einheimischer Gemsjäger, der ihn in letzter Sekunde rettet und dann vorsichtig, durch Eisfelder und Geröll, hinunterführt zu einer Sennhütte: «(Wie Manfred von der Klippe springen will, erfasst ihn der Gemsenjäger und reisst ihn mit raschem Griff zurück):

      Gemsenjäger: Halt, Toller! Wenn auch lebenssatt – beflecke / Mit schuld’gem Blute nicht die reinen Täler. / Hinweg mit mir! Was ich ergreife, halt’ ich. Manfred: Ich bin höchst krank im Herzen – lass’ mich los! / Ich bin ganz Schwäche – die Gebirge tanzen, / Mich rings umwirbelnd. – Bin ich blind? – Was bist du?

      Gemsenjäger: Gleich sollst du Antwort haben. Fort mit mir. / Gewölk kommt dichter. – Stütze dich auf mich! / Setz’ hier den Fuss – hier! Nimm den Stock und halte / Am Busch dich eine Weile! Gib die Hand! / Umfass’ am Gürtel mich. – Behutsam! – So! / Der Senne ist erreicht in einer Stunde. / Komm! bald gewinnen wir ein fest’res Fussen, / Etwas wie einen Saumweg, den der Giessbach / Seit Winter auswusch. Komm’! – So – das ist brav. / Du hättest Jäger werden sollen. – Folge!»

      Byron hat das Berner Oberland sogar noch mehr beeindruckt als die Genferseegegend: «Mr. Hobhouse und ich sind gerade zurück von einer Reise zu Seen und Bergen. Wir waren in Grindelwald, bei der Jungfrau und haben auf dem Gipfel der Wengneralp gestanden; haben Wasserfälle von neunhundert Fuss Fallhöhe gesehen und Gletscher in allen Dimensionen. Wir haben Hirtenflöten gehört und Lawinen, und haben Wolken betrachtet, die schaumartig aus den Tälern aufstiegen, wie die Gischt eines höllischen Ozeans. Chamonix […] haben wir vor einem Monat gesehen. Aber obwohl der Mont Blanc höher ist, kommt er nicht an die Wildheit der Jungfrau, der beiden Eiger, des Schreckhorns und der Rosengletscher [Rosenlauigletscher] heran». In Tagebuch, Briefen und den Manfred-Versen finden sich teils fast identische Formulierungen: Als Manfred in die Tiefe starrt, beobachtet er die Nebelformen, denen er nur mit Vergleichen beizukommen weiss – Qualm, Schwefel, (Höllen-)Meeresschaum, ganz so wie im Brief an Murray:

      «Am Gletscher qualmen Nebel auf, und Wolken / Zieh’n kräuselnd fast zu mir sich, weiss und schweflig, / Wie Schaum empörten Meers der tiefen Hölle […].»

      Diese Szene «auf dem Gipfel der Jungfrau» – zwei Figuren auf einem Berggipfel, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – ist von berühmten Künstlern illustriert worden, unter anderem von John Martin (1837), Ford Madox Brown (1842) und Gustave Doré (1853). Das hat der Verbreitung dieser Geschichte