Heinz Nauer

Fromme Industrie


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bemüht: Mit Cyprien Maria Tessié du Motay (1818–1880), einem französischen Chemiker und einem der Erfinder der Phototypie, standen sowohl das Geschäft in Einsiedeln als auch die Filialen in den USA in Kontakt. Du Motay reiste in den Jahren 1874/75 mehrmals nach Einsiedeln, um in den Ateliers der Firma Benziger Versuche in der Druckfotografie zu machen.138 1879 schrieb die Verlagsleitung in Einsiedeln stolz nach Amerika, dass sie für ihre «Leistungen auf dem Gebiete der Phototypie» zahlreiche Anerkennungen «von den ersten Häusern in Deutschland, Oesterreich und Frankreich» erhalten hätten.139 Mit diesem Verfahren liessen sich Bilder in beliebigen Formaten billig reproduzieren, heisst es in einem späteren Brief. Aufträge verschiedener «der grössten Verleger Deutschlands» seien bereits eingegangen.140

      In den eigenen technischen Betriebe wurden in erster Linie Bücher für den eigenen Verlag hergestellt. Dank der fortschrittlichen technischen Infrastruktur wähnte man sich gegenüber der direkten Konkurrenz im Vorteil. Im Januar 1866 schrieb Adelrich B.-Koch in die USA, dass man in Einsiedeln künftig noch stärker darauf achten werde, «nur illustrirte, schöne Bücher [zu] verlegen, die andere nicht nachdrucken können wegen Mangel an guter Einrichtung».141 Einfach auszuführende Druckaufträge liess Benziger, wenn keine eigenen Kapazitäten mehr vorhanden waren, hin und wieder auch auswärts drucken, häufig bei der Firma Brockhaus in Leipzig, mit der man schon länger geschäftlich verbunden war.142

      Die Verlagsleitung in Einsiedeln pochte darauf, alle technischen Einrichtungen in Einsiedeln zu konzentrieren, und riet den amerikanischen Filialen stets dezidiert davon ab, selbst Fabrikationen zu betreiben. Die amerikanischen Filialen sollten ihre Verlagswerke in Einsiedeln drucken lassen. So konnte sich Benziger mit seinen Produktionsstätten in Einsiedeln international lange Zeit behaupten. Zum einen sorgte der sichere Absatz der Verlagswaren in den USA für hohe Auflagen und somit eine hohe Auslastung der Maschinen. Zum anderen erschlossen die Filialen dem Geschäft in Einsiedeln Quellen für den Import von kostengünstigen Maschinen aus den USA, die nicht allen europäischen Konkurrenzunternehmen zugänglich gewesen sein dürften. Benziger importierte ab den 1860er-Jahren unter anderem von der Firma R. Hoe & Company in New York und später auch von der Firma Miehle in Chicago Druckerpressen und andere Maschinen für die technischen Betriebe.143

      Um die Entwicklung des Unternehmens über die Zeit zu verfolgen, dienen uns als dritter Indikator die Arbeiterzahlen im Verlag. Im Falle des Benziger Verlags sind die überlieferten Zahlen für das 19. Jahrhundert jedoch unvollständig und teilweise widersprüchlich; erst ab etwa 1900 sind die Angestelltenverzeichnisse vollständig überliefert.

      Dass die Zahlen stark voneinander abweichen, liegt vermutlich nicht bloss an der lückenhaften Überlieferung, sondern auch daran, dass die Firma ihre Arbeiterverzeichnisse stets als eine Art Betriebsgeheimnis behandelte. Selbst die Konkurrenzunternehmen in Einsiedeln kannten offenbar die genaue Zahl der Arbeiter bei der Firma Benziger nicht.144 Als der Bezirksrat 1877 ein Arbeiterverzeichnis aller grösseren Betriebe im Bezirk einforderte, weigerte sich der Benziger Verlag, ein solches zu erstellen. Die Verleger begründeten ihre Haltung mit der fehlenden gesetzlichen Grundlage und sahen in der Forderung des Bezirksrats eine Strategie ihrer Konkurrenten in Einsiedeln, die ihr Amt als Bezirksräte dazu ausnutzen würden, Spionage über die Arbeiterverhältnisse in der Firma Benziger anzustellen.145

      In den Verlagsprodukten des Benziger Verlags und in der Sekundärliteratur finden sich dennoch vereinzelt Angaben zur Zahl der Angestellten, sodass sich deren Entwicklung grob skizzieren lässt. Die Verlagsgeschichte von 1942 nennt für 1830 rund 35 Buchbinder und ihre Familien, die für den Verlag tätig gewesen seien. Daneben darf man sich wohl noch ein paar Dutzend weitere Angestellte vorstellen, die als Kolporteure unterwegs waren, Rosenkränze kettelten und den Devotionalienladen führten, sowie allenfalls einige Büroangestellte, welche die Korrespondenz und die Buchhaltung besorgten. Eine eigene Druckerei unterhielt man damals noch nicht. 1860 waren laut derselben Verlagsgeschichte 90 Buchbinder (wovon 20 in Heimarbeit), 180 Bilderkoloristen und 60 Rosenkranzkettlerinnen für den Verlag tätig. Zur Zahl der in der Druckerei tätigen Personen macht die Verlagsgeschichte von 1942 allerdings keine Aussage.146 Ambros Eberle sprach 1858 in einem Referat von 180 Kindern, die zum Kolorieren von Heiligenbildern herangezogen würden, rund 30 Buchbinderfamilien, die in Heimarbeit tätig seien, einer fabrikmässig betriebenen Buchbinderwerkstätte sowie 50 Rosenkranzkettlerinnen, die für den Benziger Verlag tätig seien. Auch er liess die personalintensive Buchdruckerei unerwähnt.147 Laut der Verlagsgeschichte von 1967 betrug die Zahl der Angestellten um 1850 in Einsiedeln insgesamt rund 500 Personen.148

      Robert Kistler spricht in seiner Wirtschaftsgeschichte des Kantons Schwyz von durchschnittlich 800 Angestellten in den Jahren von 1880 bis 1900.149 Odilo Ringholz zählte 1896 nahezu 900 Arbeiter.150 Auch in den Verlagskatalogen selbst findet sich in den 1880er-Jahren hin und wieder die Zahl von 900 Angestellten.151 In einem kurzen Artikel der Zeitung «Vaterland» über Adelrich B.-Koch aus dem Jahr 1885 heisst es, der Verlag habe «zu seinen Blüthezeiten» über 900 Angestellte gehabt.152

      Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass der Generationenwechsel in der Verlagsleitung und vor allem die Einführung einer eigenen Druckerei die Zahl der Angestellten ab etwa 1830 stark ansteigen liess und diese sich innerhalb von zwanzig Jahren von ein paar Dutzend auf rund 500 Personen erhöhte. Ab 1860 stieg die Angestelltenzahl noch einmal an und dürfte zu Spitzenzeiten in den 1870er- und 1880er-Jahren die Zahl von 900 übertroffen haben. Die überlieferten Verzeichnisse stützen diese Zahl. Im Jahr 1900, zu einem Zeitpunkt, als man die Angestelltenzahl bereits etwas reduziert hatte, zählte der Verlag in Einsiedeln und Umgebung immer noch 808 Angestellte.153

      Diese Zahlen betreffen lediglich das Geschäft in Einsiedeln. Nicht berücksichtigt sind die Filialen in den USA, für die keine Zahlen überliefert sind. Da die Filialen im 19. Jahrhundert nie eigene Druckereien einrichteten, dürften sie auch deutlich weniger Personal beschäftigt haben. Allerdings betrieb man in Cincinnati schon in den 1860er-Jahren eine Buchbinderei und in New York ein Atelier für Kirchenornamente, das 1894 zu einer Fabrik ausgebaut wurde. Eine Zahl von sicherlich über 100, vielleicht auch 300 oder 400 Angestellten in den US-amerikanischen Filialen scheint für die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts realistisch.

      Ende der 1860er-Jahre stellte der Benziger Verlag auch in der Buchbinderei vollständig auf fabrikmässigen Betrieb um. Bis dahin hatte man stets einige der Arbeiter in traditioneller Heimarbeit beschäftigt. Unklar ist, ob der Verdienst im Verlag für diese Arbeiter, die Rosenkranzkettlerinnen oder die Kinder, die Heiligenbilder kolorierten, ein Haupteinkommen war oder lediglich ein Nebeneinkommen zu einer Tätigkeit in Landwirtschaft, Textilindustrie oder einem anderen Gewerbe.

      Auch zur Herkunft der Kinder fehlen genaue Informationen. Es ist möglich, dass Mitglieder der Verlegerfamilie, die sich in verschiedenen Ämtern im Schul- und Armenwesen sozialpolitisch betätigten und 1869 an der Errichtung einer Erziehungsanstalt für Knaben beteiligt waren, Kinder direkt aus diesen Institutionen rekrutierten. Kinderarbeit war im Unternehmen auch in den 1870er-Jahren noch verbreitet und wurde erst im Vollzug des Fabrikgesetzes von 1877 eingestellt, das die Fabrikarbeit von Kindern unter 14 Jahren verbot.154

      Die meisten Arbeitskräfte des Benziger Verlags in Einsiedeln stammten aus der Region: Um 1890 stammten rund sechzig Prozent aller Angestellten aus dem Kanton Schwyz, die allermeisten davon aus dem eigenen Bezirk.155 Auch die amerikanischen Filialen rekrutierten ihr Personal häufig in Einsiedeln. Ab Mitte der 1860er-Jahre bestand dort eine zunehmende Nachfrage nach deutschsprachigen Arbeitskräften, die man in Einsiedeln und Umgebung rekrutierte und in die USA sandte. Erst etwa ab 1880 fanden die Filialen ihr Personal vor Ort.

      Betrachtet man die drei Indikatoren gesamthaft, so zeichnet sich eine gesteigerte geschäftliche Betriebsamkeit ab den 1850er-Jahren ab: Die Zahl der Angestellten erhöhte sich markant, es erfolgte der Ausbau der Fabrikationsgebäude, die ersten eigenen Filialen in den USA und die Stahl- und Kupferdruckerei wurden errichtet sowie manch weitere Neuerung eingeführt. Es gibt vielfältige Gründe für diesen Aufschwung in der Jahrhundertmitte. Man darf annehmen, dass die Gründung des schweizerischen Bundesstaats – und damit verbunden die Abschaffung von Binnenzöllen, ein besseres Postwesen und