Baulos länger sind als jene im Norden, sind die Lüftungskanäle und damit der gesamte Tunnelquerschnitt im Süden (unten) grösser als im Norden (oben).
Ausländische Konkurrenz wird abgeschreckt
Hundert Vertreter von Baufirmen meldeten sich zur Begehung des Baustellengeländes an. Man traf sich am 29. Mai 1968 um 7.45 Uhr im Bahnhofbuffet Göschenen. Die künftigen Tunnelportale und Lüftungsschächte wurden besucht. Die Eingabefrist für die Offerten lief bis zum 31. Oktober 1968. Grosse schweizerische, italienische und österreichische Firmen bewarben sich, aber auch zahlreiche sehr kleine Schweizer Unternehmen. Alle mussten Aufschluss geben über ihre Unternehmensstruktur und nachweisen, dass sie in der Vergangenheit schon Grossbauten erfolgreich ausgeführt hatten.
«Bauen Österreicher den Gotthardtunnel?», titelten die Luzerner Neusten Nachrichten am 17. Oktober 1968: Das günstigste Gebot komme aus Österreich. Auch wenn sich der Bericht als falsch herausstellen sollte, stach die Zeitung doch in ein Wespennest. Denn damals war es Praxis, ausländische Anbieter vom Schweizer Markt fernzuhalten. In einem Bericht des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) hiess es: «Im Jahre 1967 wurden aus konjunktur- und wirtschaftspolitischen Erwägungen keine Nationalstrassenarbeiten mehr an ausländische Unternehmer vergeben, obwohl günstige Offerten vorlagen.»11 Und in einem Brief an Bundesrat Hans Peter Tschudi hatte Robert Ruckli, der Direktor des EASF, am 31. Januar 1968 erklärt: Bei der Zulassung von Ausländern müsse grosse Zurückhaltung geübt werden. «Wir haben es bis jetzt ausdrücklich vermieden, auch nur den Anschein einer internationalen Ausschreibung zu erwecken, denn damit wären wir ja moralisch verpflichtet, ausländische Angebote anzunehmen, wenn sie günstiger wären als schweizerische und wenn die Unternehmer die erforderliche Qualifikation besässen. […] Zudem beabsichtigen wir, in die an die Ausländer gehende Rundfrage noch einen Hinweis aufzunehmen, dass es sich nicht um eine internationale Ausschreibung im strengen Sinne des Wortes handelt und dass über die Zulassung der Ausländer auf Grund der eingegangenen Offerten und der konjunkturpolitischen Beurteilung der Lage zu gegebener Zeit in freiem Ermessen entschieden wird. Wir glauben, dass durch dieses Verfahren ein grosser Teil der Interessenten ausgeschaltet werden kann […].»12 Tatsächlich traf aber eine Flut von Anfragen aus Italien ein, zum Teil von gut bekannten, leistungsfähigen Grossfirmen.
Neuland im Tunnelbau
Die Belüftung erschien zu jener Zeit als eines der wichtigsten Probleme bei den immer zahlreicher werdenden Autotunnelprojekten. Das galt insbesondere auch für den längsten Strassentunnel der Welt am Gotthard. Die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Autoabgasen waren eben erst bekannt geworden.13 Es wurde untersucht, welche Symptome sich bei Menschen bei welchen Konzentrationen des gefährlichen Kohlenmonoxids einstellten. EASF-Direktor Robert Ruckli stand in Kontakt mit den Betreibern italienischer Autobahntunnels, die bereits über Erfahrungen mit Schadstoffen in Strassentunnels verfügten, 14 und den Tunnels am Mont Blanc und am Grossen Sankt Bernhard wurde ein Besuch abgestattet.15 So wurde mit Ortsterminen und Briefwechseln das damals verfügbare Wissen aufwendig recherchiert.
Welche Mengen gesundheitsschädlicher Abgase würden Autos in den kommenden Jahrzehnten ausstossen? Die Antwort auf diese Frage war zusammen mit den Grenzwerten entscheidend für die Auslegung der Lüftung im Gotthard-Strassentunnel. In Kalifornien entstanden weltweit erste Vorschriften, mit denen der Ausstoss von Kohlenmonoxid um fast ein Drittel gesenkt wurde. Die Planer des Tunnels am Gotthard nahmen solche Grenzwerte vorweg und gingen davon aus, dass der europäische Fahrzeugbestand ab 1985 den kalifornischen Vorschriften entsprechen werde.16 Zugleich aber wurden die Grenzwerte für die Kohlenmonoxidkonzentration in der Tunnelluft festgelegt und verschärft. Der Hollandtunnel in New York wurde genauso wie viele ältere Tunnels auf 400 Parts per million (ppm) ausgelegt, also auf 400 Gasteile Kohlenmonoxid auf eine Million Luftteile. 1967 wurden die internationalen Grenzwerte für Gebirgstunnel auf 150 ppm herabgesetzt. In der Schweiz waren es 200 ppm17 – und im Mont-Blanc-Tunnel 100 ppm.
Kurz vor der Eröffnung des Mont-Blanc-Tunnels 1965 wurde festgestellt, dass die Lüftung nicht für 1000 Fahrzeuge pro Stunde ausreicht, sondern nur für 500. Die Lüftung war aus Kostengründen zu klein geplant worden. Am Gotthard wurden also zahlreiche Anordnungen von Lüftungssystemen und Tunnelquerschnitten untersucht.18 Je enger ein Lüftungskanal ist, desto höher ist der Energiebedarf für das Einblasen und Absaugen von Luft oder Abgasen. Bei vier Lüftungsschächten waren die Lüftungsabschnitte im Strassentunnel kürzer als bei zwei Schächten, die Ventilatoren brauchten in diesem Fall also weniger Energie als bei langen Abschnitten, dafür mussten mehr kostspielige Schächte gebohrt werden. In unverkleideten, rauen Zuluftstollen stieg der Energieverbrauch, bei glatten, im Bau aber teureren Stollenwänden sank er hingegen. Gesucht war das Optimum bei der Summe aus Anlage- und Betriebskosten.
Tunnelbrandplanungen und Frischluftstollen
Abgesehen von einem Brand im Hollandtunnel in New York gab es kaum Erfahrungen mit Brandkatastrophen in Tunneln. Im Mai 1965 fanden Brandversuche im aufgegebenen Ofenegg-Bahntunnel am Walensee statt. Unterschiedliche Mengen Benzin wurden angezündet. Im Tunnel waren alte Personenwagen abgestellt, in die Holzproben, Stoffe, Haare und Fleisch gelegt worden waren. Das Resultat: Wenige Sekunden nach Brandbeginn verschlechterte sich die Sicht. Die Temperatur- und Abgaswerte lagen weit über jenen Werten, bei denen ein Überleben möglich war. Bis zu einer Entfernung von fünfzig Metern vom Brandherd herrschte grösste Lebensgefahr.19 Angesichts der bis zu zwölf Minuten langen Anfahrt zum Brandherd, der Hitze, des Rauchs und des Sauerstoffmangels im künftigen Gotthard-Strassentunnel würde die Arbeit der Feuerwehr also sehr schwierig oder unmöglich.20 So wurden im Gotthard-Strassentunnel alle 250 Meter Schutzräume geplant.21
Die Automobilverbände Automobil Club Schweiz und Touring Club Schweiz (TCS) richteten sich an die Bundesverwaltung; sie forderten Akteneinsicht und Aussprachen. «Der TCS vertritt die Automobilisten, die den Gotthard-Strassentunnel bezahlen, und es ist seine Pflicht, an die Sicherheit eines derartigen Verkehrsweges höchste Anforderungen zu stellen. Ein unabhängig vom Strassen-Tunnel geführter Seitenstollen hat diesbezüglich sehr grosse Vorteile. Bei Brand- oder Explosionskatastrophen können Evakuations- und Rettungsfahrzeuge unberührt vom übrigen Verkehr zur Unglücksstelle fahren. Personen, die sich vor einem Brand in Sicherheit begeben wollen, würden sich in den alle 250 m angeordneten Querschlägen zum Haupttunnel aufhalten und auf keinen Fall den Separatstollen verstopfen.»22 Der TCS befürwortete das 4-Schacht-Projekt und forderte zusätzlich einen Fluchtstollen. Die NZZ schilderte das Für und Wider, begleitet von eindrücklichen Fotografien, die bei Tunnelbränden entstanden waren. Vertreter der beiden Ingenieurgemeinschaften beharkten das Bundeshaus mit Briefen. Giovanni Lombardi verteidigte sein 4-Schacht-Projekt und wehrte sich gegen Presseartikel, «die in emotioneller Weise zu Gunsten des anderen Projektes Stellung nehmen, offenbar mit der Absicht, die Behörden bei der Wahl der Projekte zu beeinflussen».23
Im Mai 1969 entschied die Baukommission den Streit. Der Frischluftstollen werde im Katastrophenfall nicht begehbar sein, weil die Lüftung dann auf Volllast laufen werde. Dann werde im Stollen ein Sturm mit 100 Kilometer pro Stunde Windgeschwindigkeit herrschen.24 So schied die 2-Schächte-Variante mit dem Frischluftstollen aus. Und das 4-Schacht-Projekt wurde nachträglich überraschend mit einem Sicherheitsstollen ergänzt.
Rekordofferten
Im definitiven Verzeichnis der Anbieter scheinen 36 Schweizer Firmen auf, acht aus Italien und einige wenige aus Frankreich, Deutschland und Österreich. Die vier schweizerischen Unternehmergruppen lagen bei allen Varianten auf den ersten vier Rängen. Das EDI hatte in seinem Vorprojekt noch Vortriebsleistungen angenommen, die auf Offerten für den San-Bernardino-Tunnel und auf Erfahrungen, die beim Bau des Mont-Blanc-Tunnels gemacht wurden, beruhten: In den «einfachen» Felsklassen eins bis drei rechnete das Bauprogramm mit 4 bis 8 Metern pro Tag, in den «schweren» Felsklassen vier bis sechs mit 0,5 bis 2,2 Metern pro Tag.25 Doch die von den Gotthardkonsortien gebotenen Vortriebsleistungen waren bis zu zwei Mal höher.
Die Losinger +