Alexander Grass

Durchschlag am Gotthard


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gewidmet hatte.» In drei Jahren hatte der LKW-Verkehr um fünfzig Prozent zugenommen. Am 20. März 1973 erschien die erste Ausgabe der Alternative, der «anderen Urner Zeitung». Zu den Herausgebern zählte Alf Arnold, der später bei der Alpeninitiative prägend mitwirken sollte. Es entstand die Partei Kritisches Forum Uri; einer ihrer Schwerpunkte war der Kampf gegen den zunehmenden Transitverkehr. «Uri – Land am Beton» titelte die Alternative im Oktober 1978 und kritisierte die Gotthardautobahn N2, ein 47 Kilometer langes Betonband. Der Tessiner Ökonom und Verkehrswissenschaftler Remigio Ratti warnte vor bis zu 800 Lastwagen, die pro Tag durch den Gotthard rollen könnten (die tatsächlichen Zahlen sollten um ein Mehrfaches höher liegen). Ratti meinte, dass das Tessin mit dem Strassentunnel abgewertet werde zu einem Transitkorridor, der schnellstmöglich durchfahren werde.62 Es gebe keine europäische Politik für den alpenquerenden Güterverkehr. Der Gotthard werde zum niedrigsten aller Alpenübergänge. Für zahlreiche Verkehre zwischen Frankfurt, Köln, Hamburg und Rotterdam nach Italien werde die Gotthardstrecke 250 bis 300 Kilometer kürzer sein als die Alternativstrecken.

      Und tatsächlich: Der Transitgüterverkehr durch die Schweiz wuchs und wuchs. 1965 waren es noch 8,6 Millionen Tonnen (Strasse: 0,16 Millionen Tonnen), 1976 schon 10 Millionen Tonnen (Strasse: 0,48 Millionen Tonnen).63 In allen Nachbarländern der Schweiz wurden mehr Güter auf der Strasse als auf den Schienen transportiert. In der Schweiz aber betrug der Strassenanteil beim Transitverkehr 1977 nur vier Prozent.64 Verantwortlich dafür waren die 28-Tonnenlimite (in der Europäischen Gemeinschaft galten mindestens 38 Tonnen), das Nachtfahrverbot, das Sonntagsfahrverbot, der San Bernardino, der nur mit Sattelschleppern befahren werden durfte, und der nur wenige Monate im Jahr geöffnete Gotthardpass. Die Strassen- und Eisenbahnplaner hätten eigentlich gewarnt sein müssen. Die Güterbahn verlor massiv Marktanteile. 1960 betrug der Marktanteil der Bahn noch gut sechzig Prozent, 1975 waren es unter fünfzig. So errang die Strasse beim Gütertransport das Primat gegenüber der Bahn.65

      Der Korridor für den Schwerverkehr

      Die Gemeinde Airolo schrieb im August 1979 an die Kantonsregierung in Bellinzona, in anderen Regionen habe sich gezeigt, dass die Eröffnung von Strassentunnels vorab den grossen Zentren am Ausgangspunkt der Zufahrtstrecken nütze, nicht aber den kleinen Orten in den Alpentälern.66 Der Gemeindeverband Leventina warnte vor einer massiven Verkehrszunahme und forderte gar eine Verschiebung der Tunneleröffnung.67 Die Ortsdurchfahrten zwischen Varenzo und Bellinzona waren eng und steil. Zum Gotthard-Transitverkehr hinzu kam noch der Autobahnbaustellen-Verkehr mit 400 bis 500 Lastwagenfahrten pro Tag.68 Ein Verkehrschaos drohte. Lastwagensperrzeiten am Gotthard und am San Bernardino wurden vorbereitet. Im August 1981, knapp ein Jahr nach der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels, erreichte der Stau in der Leventina eine Länge von 24 Kilometern. An der Südrampe des Gotthards waren fünfzig Autobahnkilometer noch nicht bereit.

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      Zahlreiche Schaulustige, Festgäste und Medienvertreter verfolgten am 5. September 1980 die Tunneleröffnung in Göschenen und Airolo. Ein Band zum Durchschneiden gab es nicht. Dafür hoben Kinder eine riesige Schweizerfahne aus einem Korb, die daraufhin zur Tunneldecke hochgezogen wurde, wo bereits Fahnen verschiedener Schweizer Gemeinden hingen. Fast 20 000 Fahrzeuge wurden am ersten Tag im Tunnel gezählt. Im Bild: die Tunneleinfahrt in Airolo.

      Ab dem 1. Januar 1993 galt in der zukünftigen Europäischen Union (EU) der Binnenmarkt ohne Grenzen, in dem Menschen, Waren und Dienstleistungen frei bewegt werden konnten. Der Lastwagentransport genoss dabei verkehrspolitischen Vorrang, stellt der Wirtschaftswissenschaftler Richard Vahrenkamp fest: «Die europäische Verkehrspolitik privilegierte den LKW-Verkehr gegenüber dem Eisenbahntransport. Sie schuf einen europäischen Binnenmarkt für LKW-Transporte, während die nationalen Eisenbahngesellschaften nur schwer zu einer Kooperation zu bewegen waren. Der Europäische Binnenmarkt ließ ab 1993 nur für den Gütertransport mit dem LKW die Grenzkontrollen wegfallen und verlagerte sie in die Administration der einzelnen Speditionen und Versender. Hingegen kontrollierte der Zoll die Güterwagen von Eisenbahnen zumindest stichprobenartig an der Grenze und hielt so den Zugtransport auf, während der LKW Grenzen ohne Halt durchfahren konnte.»69

      Diese Umwälzungen konnte Bundesrat Hans Hürlimann vermutlich nicht vorhersehen, als er in seiner Rede zur Eröffnung des Strassentunnels einen Satz sagte, der seither oft als Beispiel für krasse Fehleinschätzungen zitiert wurde: «Der Tunnel ermöglicht einen flüssigen und sicheren Verkehr, spart Zeit und verkürzt die Distanzen. Aber sofort sei beigefügt: Dieser Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr. In der baulichen Gestaltung ist diese Strasse unter dem Berg nicht für den Transport von Gütern angelegt. Unsere Verkehrspolitik sieht vielmehr heute und morgen den Güterverkehr auf der Schiene.»

      Im Oktober 1980 berichtete die «Samstagsrundschau» des Schweizer Radio DRS von der Lastwagenlawine im oberen Reusstal.70 Auf den Strassen herrschten fast chaotische Zustände. Der Verkehr in der Leventina sei ebenfalls unerträglich, die Leute verzweifelten. An Brücken im Kanton Uri seien Aufschriften angebracht worden: «Uri stirbt kilometerweise». Die Zufallsgäste von einst fehlten nun, viele Gastbetriebe verkauften weniger Mittagessen, und die Übernachtungszahlen sanken, schreibt Reto Moor.71 Das Urnerland sei zu einem Transitkanton geworden, dessen Tourismusgewerbe erst zehn Jahre nach der Tunneleröffnung an die früheren Übernachtungszahlen anschliessen konnte. Mit dem Autobahnbau wurden die Grossverteiler im Unterland besser erreichbar, und es beschleunigte sich das «Lädelisterben». Auch das Gewerbe profitierte nicht von der Autobahn, legt Moors Analyse weiter dar. Dafür waren die Dörfer vom Durchgangsverkehr befreit, die Lebensqualität verbesserte sich damit schlagartig.

      Je grösser der Abstand zur Autobahn, desto positiver die Auswirkungen im Kanton Uri, schrieb Rolf Wespe 1981 im Tages-Anzeiger.72 Also weniger Übernachtungen in Wassen, dafür mehr in Andermatt. «Die Italienisch sprechende Schweiz hat den Autotunnel gefordert, um die Isolation zu überwinden. Nun muss sich das Tessin damit befassen, wie es mit dem Überranntwerden durch den Massentourismus fertigwerden soll.» Max Wermelinger, der Tessin-Korrespondent der NZZ, kommentierte: «Vorderhand gibt es nur eines: wegkommen vom Schwarzweissbild der Illusionen und Uebertreibungen, wonach das Tessin vorher eine Oase war und nun zur stinkenden Hölle wurde. Wer erinnert sich an die Autoschlangen, die Jahr für Jahr während der internationalen Ferienzeit die Strassen bis zu den Grenzübergängen verstopften?»73

      Statistiken und Hoffnungen

      Vor 1980 wurden am Gotthard nur wenige Verkehrsstatistiken geführt. Mit der Eröffnung des Strassentunnels änderte sich das. In einer Reihe von Studien wurden die Auswirkungen des Tunnels untersucht. Im Auftrag des Stabs für Gesamtverkehrsfragen erarbeitete das Raumplanungsbüro Sigmaplan drei Berichte und eine Schlussanalyse.74 Danach erzielte der Strassengüterverkehr am Gotthard von 1979 bis 1984 eine Zunahme von 65 Prozent (besonders stark war das Wachstum des Transitverkehrs mit einem Plus von 80 Prozent). Pro Tag fuhren 1984 bereits 1127 LKWs durch den Tunnel. Die Zahl der Güterfahrzeuge verzehnfachte sich am Gotthard auf 298 000 – am San Bernardino halbierte sie sich wie erwartet auf 72 000 im Jahr 1984. Der Simplonverkehr blieb unbedeutend.

      Im Jahr 1990, zehn Jahre nach der Tunneleröffnung und zehn Jahre nachdem das Urner Wochenblatt den Tunnel mit einer Sonderbeilage gefeiert hatte, kommentierte dieselbe Zeitung: «Nur zehn Jahre nach der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels erweisen sich die bundesrätlichen Beteuerungen in der Eröffnungsrede, wonach dieser Tunnel kein Korridor für den Schwerverkehr sei, als blosse Farce. Während 1980 nur gerade 80 Brummer pro Tag die Strecke über den Gotthard wählten, sind es heute 2200.»75 Bei der Eröffnung des Tunnels habe eine kleine Gruppe von «Spinnern» gegen die verkehrsmässige Vergewaltigung des Lebensraums Uri protestiert. «Diese damals belächelten Anliegen haben aber mit dem zunehmenden Verkehr immer grössere Kreise gezogen, und es blieb nicht beim Demonstrieren allein. Am 7. Mai 1989 wurde in der Schöllenen die Volksinitiative ‹Schutz vor dem Transitverkehr› (Alpen-Initiative) und eine gleichlautende Urner Standesinitiative lanciert.»