gekehrt. Die Armseligkeit der Erniedrigten und gering Geschätzten ist es nun, die zur Gleichnisgestalt für die Logik der größtmöglichen und unüberbietbaren Zuwendung Gottes zum Menschen wird. Wer in der eigenen Stärke, im eigenen Reichtum, in der eigenen Klugheit dasjenige wähnt, das dem Leben Wert, Bestand und Sinn gibt, übersieht bei solchen Größen, dass auf sie nur sehr begrenzt Verlass ist. Der Sinn, den sie stiften, überlebt den Besitzer von Macht, Reichtum und Klugheit nicht. Auf ihn kann man sich nicht im Leben und Sterben verlassen. Dagegen steht, dass gerade am macht- und mittellosen Menschen als Adressaten einer unbedingten Bejahung Gottes jene Wirklichkeit offenbar wird, gegen die auch der Tod letztlich nicht ankommt.
Sucht man vor diesem Hintergrund nach einem Ansatz für die Rede von einer spezifischen „via christiana“, die ein Mensch einschlagen kann, um in seinen Lebensverhältnissen ein Gottesverhältnis zu entdecken, so muss die erste Einsicht lauten: Wer Gott sucht, muss dies auf dem Wege versuchen, auf dem Gott den Menschen aufsucht. Der vermeintliche Aufstieg des Menschen zu Gott verläuft zunächst seitwärts und abwärts. In den geringsten seiner Brüder und Schwestern, in den Erniedrigten begegnet er dem „Allerhöchsten“. Mit dieser Einsicht ist erneut die wohltuende AnArchie des Evangeliums verbunden: Es gibt keine Unterschiede zwischen Menschen, die vor Gott nicht durch eine je größere Gleichheit und Gemeinsamkeit übertroffen werden. Jeder Mensch ist ausnahmslos Adressat einer unüberbietbaren und ungeteilten Zuwendung Gottes. Und eben dies gilt es in allen Formen christlicher Glaubenspraxis zu bezeugen.31
An diese Praxis bleibt auch jede Glaubensreflexion rückgebunden. Es ist eine Praxis, die auch deswegen das Denken herausfordert, weil sie angesichts anderer religiöser Erkenntniswege mit dem Anspruch der Klarstellung auftritt und für klare Verhältnisse sorgen will. Sie vollzieht bereits selbst eine Aktion religiöser Aufklärung. Sie macht klar, wo und wie man mit Gott zu tun bekommt. Von diesem spezifischen Theorie / Praxis-Verhältnis wird die christliche Theologie grundlegend bestimmt. Sie hat sich derart für den Glauben einzusetzen, dass nicht bloß die Reflexion aufklärend wirkt. Was der Glaube klarstellt, muss als etwas gedacht werden, das praktiziert werden will. Allein dies entspricht der Verfassung des Glaubens: Glaube ist Praxis dessen, das wirklich wahr ist, und nicht das Für-wahr-Halten von Dingen, über deren Wirklichkeit man wenig weiß. Die Wahrheit, um die es im Christentum geht, ist die Wirklichkeit der Zuwendung Gottes, die den Menschen zum Adressaten einer unbedingten Anerkennung und Wertschätzung macht.
Das Evangelium von Gottes Verhältnis zum Menschen als Verhältnis unbedingter Zuwendung gibt zu tun und nicht bloß zu denken. Denn die Wahrnehmbarkeit dieses Verhältnisses bedarf der Übersetzung in Entsprechungsverhältnisse zwischenmenschlicher Zuwendung. Und glaubwürdig ist nur das Zeugnis der Entsprechung einer Zuwendung zu Gott und zum Menschen: die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.32
Diese Prämissen sind heute keineswegs unstrittig. Denn sie lösen immer wieder Relativierungsversuche aus. Diese orientieren sich an vermeintlich christlichen Mystikkonzepten, welche die weltabgewandte Kontemplation, die „stille Anbetung“ und das Schweigen nicht als kritisches Regulativ, sondern als Hochform des Christseins proklamieren. Wenn allerdings die Grundbegriffe des Christentums allesamt „praktische“ Begriffe, d. h. nicht Substantive, sondern Tätigkeitsworte („Tut dies zu meinem Gedächtnis …!“) sind, dann wird ihr eine Mystik der privaten Selbstversenkung oder des individuellen Selbstüberstiegs (als Ausstieg aus der Alltagswelt) nicht gerecht. Zu Gott kommt man nach christlicher Überzeugung, wenn man sich mit Gott den Geschöpfen Gottes zuwendet. Diese Praxis verwirklicht eine „Mystik der offenen Augen“ (J. B. Metz), die sich nicht abwendet von den Nöten der Zeit, nicht die spirituelle Selbstbefriedigung sucht, sondern sich den Notleidenden solidarisch zuwendet.33 Aber es wäre keine genuin religiöse Praxis, wenn sie nicht auch kritische Nachfragen auslösen würde.
II.
Koordinaten: Theologie – Theorie welcher Praxis?
„Was machst du da eigentlich?“ – Wem diese Frage gestellt wird, muss davon ausgehen, dass man sich auf sein Verhalten keinen rechten Reim machen kann. Diese Ungereimtheit kann so weit gehen, dass die Ausgangsfrage noch einmal verschärft wird: „Bist du eigentlich noch bei Sinn und Verstand?“ Religiöse Akteure gehören zu den häufigsten Adressaten dieser Doppelfrage. Zu dem Verdacht eines unsinnigen und unverständlichen religiösen Tuns wird es allerdings gar nicht erst kommen, wenn man religiöser Praxis anmerkt, dass sie von Menschen mit einem wachen Verstand ausgeht. Um aber sicherzugehen, dass der christliche Glaube nicht gedanken- oder bedenkenlos praktiziert wird, müssen seine Vertreter sich beizeiten der Frage stellen: „Habt ihr auch an alles gedacht?“ Rechtzeitig zu bedenken sind mögliche Gründe, den Glauben für einen Ausdruck von Unverstand und Unvernunft zu halten. Dass solche Gründe haltlos sind, sollte bereits die Glaubenspraxis nahelegen. Dann sorgt bereits sie selbst – und nicht erst eine nachfolgende Reflexion – für Klarstellungen. Zu Ungereimtheiten führt dagegen eine Praxis, deren Subjekte sich wenig (oder nichts) dabei denken oder sich damit begnügen, es doch gut zu meinen.
Wenn aber gerade die Praxis des Glaubens klarstellen soll, womit das Christentum steht und fällt, ist gegen einen mystischen Eskapismus ebenso Front zu machen wie gegen einen frömmelnden Anti-Intellektualismus. Wer für den Glauben eintreten will, muss auch eine Antwort geben können auf die Fragen: Kann man unter den Bedingungen der Moderne noch denken, was Christen glauben – und wie lebt man, wenn man das tut, was Christen glauben? Welche Konsequenzen hat christliches Handeln, wenn es auf evangeliumsgemäße Weise sach- und zeitgemäß ist? Sind diese Folgen verantwortbar – nicht zuletzt gegenüber den in dieser Zeit Missachteten, Geschundenen, Notleidenden?34
Um plausible Antworten zu erhalten, wird man im Glauben um erhebliche Anstrengungen in Theorie und Praxis nicht vorbeikommen. Ihre Reflexion wird zu einem guten Teil von der Theologie zu leisten sein. Aber hier ist ebenfalls sehr bald mit der Frage zu rechnen: „Was macht ihr da eigentlich?“ Auch theologischen Bemühungen sollte man anmerken, dass sie nicht (allein) von mystischen Erweckungen, sondern (vor allem) von einem aufgeweckten Verstand ausgehen. Um sicherzugehen, dass man in der Theologie die „Unbedenklichkeit“ des Glaubens nicht mit Gedankenlosigkeit gleichsetzt, müssen auch ihre Vertreter sich beizeiten der Frage stellen: „Habt ihr auch an alles gedacht?“
Diese Frage ist mit dem Plädoyer für einen Glauben, der die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe praktiziert, noch nicht zureichend beantwortet. Vielmehr sind zahlreiche weitere – auch epistemologisch belangvolle – Klärungen notwendig, die mit diesem Plädoyer verbunden sind. Zunächst ist der Verdacht auszuräumen, hier werde eine fatale Einseitigkeit mystischer Vertikalorientierung durch die horizontale Pragmatik eines religiösen Humanismus ersetzt. Daher ist als Erstes darauf einzugehen, anhand welcher Kriterien feststellbar wird, was authentische christliche Glaubenspraxis auszeichnet und dass dafür tatsächlich eine „Mystik der offenen Augen“ repräsentativ ist. Dabei steht natürlich auch die Verlässlichkeit jener Quellen auf dem Prüfstand, von denen her diese Kriterien bezogen werden: Inwiefern ist die Anleitung authentischer christlicher Glaubenspraxis im Neuen Testament zu finden? Gibt es noch andere Bezugsgrößen (Tradition – Bekenntnis / Dogma / Liturgie – Lehramt), an denen sich die Sicherung der Authentizität dieser Praxis zu orientieren hat?
Es gilt aber nicht bloß die Authentizität christlicher Glaubenspraxis, sondern auch deren Plausibilität und Intelligibilität zu sichern. Dies ist jedoch nicht im theologischen Alleingang und lediglich „glaubensintern“ zu entscheiden, sondern muss im Blick auf „glaubensexterne“ Referenzen (Vernunft) und Bezugswissenschaften der Theologie erörtert werden. Beide Vergewisserungen folgen der Überzeugung, dass es in Glaubensangelegenheiten nicht bloß auf eine Betonung der Praxis oder ihres gut gemeinten Primates ankommt, sondern auf die Betonung einer recht verstandenen Theorie / Praxis-Dialektik. Nicht nur auf ein Optimum des Glaubensengagements, sondern auch auf ein Maximum an Nachdenklichkeit muss die Theologie hinarbeiten. Sie muss dazu anleiten, dass beim Bedenken des Glaubens an alles gedacht wird: an den Glauben und an das Denken, an die Denkbarkeit