Hans-Joachim Höhn

Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens


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maßgeblich für eine angemessene Vergegenwärtigung von Inhalt und Geltungsanspruch des christlichen Glaubens?

      Traditionell erfolgt die Bewältigung dieser Aufgabe mit dem Rückgriff auf eine „Topologie des Glaubens“, die es übernimmt, Orte der Antreffbarkeit40 des christlichen Kerygmas auszumachen und Kriterien authentischer Aussagen über den geschichtlichen Grund, den Geltungsanspruch und die existenzielle Verlässlichkeit dieses Kerygmas zu identifizieren. Dabei verweist sie auf die drei Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ als den primären Bezeugungsinstanzen der christlichen Verkündigung.41

      Bemerkenswert an diesem Vorgehen ist der Umstand, dass hierbei die spezifischen Umstände und Formate der Glaubenspraxis, vor allem das diakonische Handeln der Christen und ihre liturgische Praxis,42 völlig übergangen werden. Offenkundig steht dahinter die Vorstellung, dass die Glaubenspraxis dem Glaubenswissen untergeordnet ist und lediglich dessen Anwendung oder Umsetzung darstellt. Den Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ wird eine theologische Dignität zugesprochen, die weitgehend unabhängig von der Praxis des Glaubens besteht. Dass für diese Dignität die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt des christlichen Kerygmas mitkonstitutiv ist, kommt nicht in den Blick. Ebenso wenig wird bedacht, dass die Gehalte des christlichen Glaubens nur dort unverkürzt antreffbar sind, wo sie zugleich praktiziert werden.

      Aber auch abgesehen von diesem Manko stellen sich bei der traditionellen Betonung der Trias „Schrift – Tradition – Lehramt“ umgehend Folgeprobleme von erheblicher Tragweite ein. Zum einen droht ein logisch-formaler Kurzschluss, wenn aus der Eigenschaft, de facto Ort der Antreffbarkeit des Kerygmas zu sein, bereits eine besondere Autorität und Normativität dieser Orte abgeleitet wird. Zum anderen wirkt es sich problemverstärkend aus, wenn diese drei Größen nicht bloß formal als Übersetzer des christlichen Kerygmas fungieren, sondern selbst material Übersetzungen vornehmen bzw. darstellen, die im Laufe der Zeit ihrerseits übersetzungsbedürftig werden. Woran lassen sich Authentizität, Normativität und Autorität dieser Übersetzungsleistungen messen? Und schließlich ist ein positivistisches Missverständnis kaum zu vermeiden, wenn den Größen Schrift, Tradition und Lehramt eine Autorität in Glaubensfragen zugeschrieben wird, ohne dass zureichend klar ist, in welchem Bedingungsverhältnis sie zueinander stehen.

      Traditionell hat man diesen Verlegenheiten dadurch entkommen wollen, dass man auf Beweismittel verwies, die unabhängig von den Inhalten des Glaubens die Autorität der Quellen des Glaubens und der Instanzen seiner Vermittlung belegen sollten: Was als Offenbarungsereignis in Frage kam, sollte durch äußere, wundersame Begleitumstände (z. B. Durchbrechung von Naturgesetzen und Erfüllung von Prophezeiungen) ausgewiesen werden. Und ebenso sollte die Autorität bestimmter Größen bei der Bezeugung und Weitergabe authentischer Offenbarungsinhalte durch gleichfalls „übernatürliche“ Einflüsse und Umstände legitimiert werden (z. B. Verbalinspiration der Hl. Schrift oder die Ausstattung der Inhaber des kirchlichen Lehramtes mit einem spezifischen Beistand des Hl. Geistes, der sie vor Fehlentscheidungen bewahrt).43

      Eine historisch-kritisch arbeitende Exegese und Dogmengeschichte hat dieses Vorgehen weitgehend als obsolet erwiesen. Die Versuche seiner Wiederbelebung sind müßig. Aber dies legitimiert nicht den Abbruch der Suche nach möglichen Alternativen. Im Folgenden geht es um die Erörterung des Verhältnisses von Schrift, Tradition und Lehramt, das ohne prekäre „supranaturalistische“ Hilfskonstruktionen auskommt. Auf welcher Basis den Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ Autorität zukommt und unter welchen Voraussetzungen ihr Zusammenspiel für eine zeit- und sachgemäße Übersetzung des Zeugnisses von Jesu Gottes- und Menschenverhältnis in jeweils neue Entsprechungsverhältnisse relevant ist, soll stattdessen auf einem anderen Weg gezeigt werden. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Korrelation zwischen den Inhalten des christlichen Glaubens und den Strukturen seiner Vermittlung zu beachten.

      Bei der Besinnung auf die normative Bedeutung von Schrift, Tradition und Lehramt ist in diesem Kontext zu beachten: Formalen Strukturen der Bezeugung des Glaubens kann nicht unabhängig von den materialen Inhalten des Glaubens eine normative Funktion zugesprochen werden.44 Die Strukturen der Erschließung und die Normen der Weitergabe des christlichen Glaubens müssen in Korrespondenz stehen zu den Inhalten des Glaubens. Erst dann kann – wiederum in Entsprechung zu dieser Relation – gezeigt werden, inwiefern es dem Inhalt des christlichen Glaubens entspricht, dass die Begegnung mit ihm durch Schrift, Tradition und Dogma (bzw. Lehramt) normiert werden kann. Vor allem aber ist zunächst die Basis zu rekonstruieren, auf der überhaupt erst eine solche Reflexion stattfinden kann.

      1. Gottes Selbst- und Weltverhältnis:

      Übersetzung als Grundprinzip christlicher Theologie

      Die Frage nach der Basis des christlichen Glaubens wird meist mit dem Hinweis auf ein geschichtliches Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes oder mit dem Verweis auf das Zeugnis dieses Geschehens im Neuen Testament beantwortet. Allerdings greift diese Auskunft zu kurz. Denn die Rede von einer Selbstoffenbarung Gottes versteht sich keineswegs von selbst. Sie löst sofort eine Problemanzeige aus, wenn man von der christlichen Theologie darüber belehrt wird, wer es in Wahrheit und in Wirklichkeit verdient „Gott“ genannt zu werden. Dafür in Betracht kommt nur eine Größe, die „wirklich und wesenhaft von der Welt verschieden“ (Vaticanum I / DH 3001) ist. Diese Verschiedenheit impliziert Alterität und Transzendenz – und zwar ontologisch wie sprachlogisch. Von Gott kann und muss demnach auch gesagt werden: Er ist „über alles unaussprechlich erhaben, was außer ihm ist und gedacht werden kann“ (ebd.). Als solcher ist er zwar „Schöpfer des Himmels und der Erde“, aber weltimmanent nicht antreffbar, d. h. weder ein Teil welthafter Wirklichkeit noch die Summe aller ihrer Teile. Wenn er nichts davon ist, dann ist er transzendent gegenüber allem, was ist. Für das Verhältnis der Welt zu Gott, der von ihr unüberbietbar verschieden ist, steht die Kategorie „Geschöpflichkeit der Welt“. Demnach ist die Welt in ihrem Dasein unüberbietbar bezogen auf Gott, von dem sie zugleich radikal verschieden ist. Von Gott als Schöpfer der Welt kann wiederum ausgesagt werden: Gott ist der, ohne den nichts (d. h. kein „jemand“ und kein „etwas“) wäre. Er selbst ist (als Schöpfer) aber weder „jemand“ noch „etwas“ oder „nichts“. Vielmehr konstituiert er den Unterschied von Sein und Nichts zugunsten des Seienden – sei dies ein „etwas“ oder ein „jemand“.45

      Diese Bestimmungen des Gottesbegriffs und des Welt / Gott-Verhältnisses bilden sogleich den Haupteinwand gegen ein Offenbarungsverständnis, das eine Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Erfahrungswelt des Menschen behauptet: Wenn Gott weder „jemand“ noch „etwas“ oder „nichts“ ist, wie soll er sich in einem Kontext offenbaren, der nichts vorkommen lässt, das nicht ein „jemand“ oder ein „etwas“ ist? Wie lässt sich die Weltimmanenz eines Offenbarungsgeschehens mit der Welttranszendenz des sich darin offenbarenden Gottes vereinbaren, wenn doch seine Göttlichkeit unablösbar ist von seiner Alterität gegenüber der Welt?

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      Es macht die Stärke des Christentums aus, diese Problematik mit einer Neujustierung des Gottesbegriffs lösen zu können, ohne dabei Abstriche an der Betonung von Gottes Welttranszendenz machen zu müssen. Eine Selbstoffenbarung Gottes in der Welt lässt sich dabei angemessen im Ausgang von einem relationalen Verständnis der Wirklichkeit Gottes denken: Gott ist eine Beziehungswirklichkeit und nicht eine substanzhaft zu beschreibende Größe.46 Würde die Wirklichkeit Gottes substanzhaft gedacht, seine Unbedingtheit und Unendlichkeit an eine unbedingte und unendliche Substanz geheftet, bliebe undenkbar, wie Gott sich als Gott, d. h. in seiner Unbedingtheit und Unendlichkeit, im Bedingten und Endlichen offenbaren kann. Wenn dagegen die Wirklichkeit Gottes relational und nicht substanzhaft zu verstehen ist, dann kann eine Offenbarung dieser Relationalität als Übersetzung in Entsprechungsverhältnisse gedacht werden. In diesen Entsprechungsverhältnissen geht auf: Gott verhält sich so zur Welt, wie er sich zu sich selbst verhält. Gott geht aber weder im Endlichen und Bedingten auf, wenn er sich innerweltlich vergegenwärtigt, noch ändert sich etwas am ontologischen Status des Endlichen und Bedingten, wenn es Ort der Selbstvergegenwärtigung Gottes wird.