Christoph Benke

Geist & Leben 2/2017


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gibt es eine Berufung ins Leben: Im so genannten ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,26–31) ist zu lesen, dass Gott am sechsten Tag den Menschen geschaffen und gesehen hat, dass das „sehr gut“ war (Gen 1,31). Er hat ihn als Mann und Frau ins Leben gerufen und alles andere ihm „zu Füßen gelegt“. Jeder Mensch ist in seiner Einzigartigkeit von Gott gewünscht und gewollt: So sind wir Menschen ins Leben berufen.

      Wer sein Leben als Berufung erlebt, vermag die eigenen Energien produktiv einzusetzen. Er/Sie kann viel und intensiv arbeiten, ohne sich vorrangig über die eigene Rolle und den Status in einer Hierarchie zu definieren. Wichtiger sind ihm/ihr bedeutungsvolle Beziehungen, verbunden mit einem tiefen Gefühl der Zugehörigkeit zu den Menschen, auf die er/sie sich verlassen kann.

      Berufung ins Leben bedeutet auch, das eigene Leben als einen sinnvollen Dienst sehen zu können, geprägt von Hingabe an die eigene Aufgabe im Dienst an den Menschen. Solches Bestreben reicht weit über die eigene Selbstverwirklichung hinaus. Es zeigt sich im täglichen Leben in einer ausgeprägten Fähigkeit, das Leben organisieren zu können und Zeit und Energie für Arbeit, Studium, Hobbies, Freizeit gleichermaßen aufzuwenden. Es gelingt, das Leben im Kleinen wie im Großen zu strukturieren und sich nicht als Getriebene(r) zu erleben.

      Menschen, die ihr Leben als Berufung erleben, sind vielseitig interessiert. Sie wenden Zeit und Kraft auf, ständig weiter zu lernen. Intellektuelles und spirituelles Wachstum gehen bei ihnen Hand in Hand. Sie sind in ihrem Körper zu Hause und fühlen sich darin wohl. Sie sind fähig, tiefe Freundschaften einzugehen.

      Zweitens gibt es eine Berufung zur Erkenntnis, dass „Jesus Christus der Herr“ ist. Die Judenchristen in der frühen Kirche waren überzeugt: Jesus ist der „Messias“, der verheißene Retter, auf den ihre Vorfahren gehofft hatten. Von dieser Berufung erzählt das Matthäusevangelium. Die Griechen und Römer, die nicht Juden waren, aber dann getauft und Christen wurden, teilten diese Vorstellung so nicht. Im Philipperbrief ruft Paulus der Gemeinde ein frühchristliches Kirchenlied ins Gedächtnis: „Jesus Christus ist der Herr“, hieß dessen Kehrvers. Das verstanden die Philipper: „Herr“ ist nicht der römische Kaiser und nicht sein Statthalter, sondern der Gekreuzigte und Auferstandene.

      Jesus nachzufolgen und ihn nachzuahmen bedeutet, an ihn zu glauben, auf ihn seine Hoffnung zu setzen und ihn zu lieben. Es bedeutet zu erfassen, dass Jesus Christus nicht nur der Abglanz eines fernen transzendenten Gottes ist, der über der Häuptern der Gläubigen thront – vergleichbar einem romanischen Mosaik oder Fresko in der Kuppel über dem Altar einer mittelalterlichen Kirche, sondern dass er sich in die Schöpfung inkarniert hat als das „Wort, das Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14). Er hat sich an einem geschichtlich fassbaren Ort als ein „Du“ und „Gegenüber“ gezeigt. Dort haben wir ihn „mit unseren Augen gesehen und mit unseren Händen angefasst“ (1 Joh 1,1).

      Drittens gibt es eine Berufung in die Kirche: Nicht jede(r), der/die glaubt, dass in Jesus Gott begegnet, erlebt sich als in-die-Kirche-Berufene(r). Ganz im Gegenteil: manche haben so verzerrte Wahrnehmungen der real existierenden Kirche, geprägt durch Missbrauchs- und Finanzskandale, dass Taufe und Eingliederung in die Kirche keine Option für sie sind. Gern sagen die Katholik(inn)en mit dem II. Vatikanischen Konzil: Kirche – das ist das Volk Gottes auf dem Weg. Aber es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass viele Menschen die Kirche ganz anders wahrnehmen. Sie stellt sich ihnen vielleicht nur als Körperschaft des öffentlichen Rechtes dar, die reich und wohlhabend ist und mit Sonderprivilegien ausgestattet ihre Angestellten „auf Linie“ hält. Dazu erleben sie sich nicht berufen.

      Zu erfassen, dass „Jesus Christus der Herr ist“, wird im Verständnis katholischer Theologie so realisiert, dass man Jünger(in) Jesu in der Kirche ist, die als real existierende Kirche immer casta meretrix ist, wie die Kirchenväter sagten, die „keusche Dirne“. Sie ist zugleich Volk Gottes auf dem Weg wie eine Ansammlung von Menschen, die auf vielen Ebenen immer wieder kläglich versagen und deren Strukturen immer wieder der Reform bedürfen.

      Berufung in die Kirche bedeutet, zu erfassen und daran zu glauben, dass in dieser real existierenden Kirche Gottes Wort weitergegeben wird und die Sakramente als Zeichen des Heiles begegnen, und dass dies nicht etwas Beliebiges und rein Kontingentes ist, sondern dass so und nicht anders die „Sache Jesu weiter geht“.

      Viertens gibt es eine Berufung in eine Lebensform in der Kirche: Leben ist immer konkret. Um Jünger(in) Jesu zu sein, wollen Werte und Ideale praktisch gelebt werden. In der kirchlichen Tradition sah man dafür die Lebensentwürfe Ehe und Ordensstand und die Möglichkeit, in der Nachfolge Jesu als Einsiedler oder „gottgeweihte Jungfrau“ allein zu leben. Es kann hier unberücksichtigt bleiben, inwiefern ein konkreter Mensch eine spezielle Lebensform bewusst wählt oder inwiefern er sie zunächst als vom Schicksal – oder von Gott – auferlegt erlebt mit der Herausforderung, sie innerlich zu akzeptieren und zu gestalten. In allen drei Lebensformen geht es darum, mit Gott verbunden zu sein, Jesus nachzufolgen und tätige Nächstenliebe zu üben.

      Im Ordensleben geht es darüber hinaus – idealtypisch gesagt – darum, Jesus nicht nur nachzufolgen, sondern ihn auch in dieser Lebensweise nachzuahmen. Heute ist schlicht zur Kenntnis zu nehmen, dass viele Menschen, die von Herzen gern in der Kirche leben, keine dieser Berufungen in sich spüren. Man spreche Pfarrer auf ihre Erfahrungen mit Trau-Gesprächen an: Dass heiratswillige Paare ihre künftige Ehe als Berufung sehen, ist keine Selbstverständlichkeit.

      Fünftens schließlich gibt es eine Berufung zur Beständigkeit in der gewählten Lebensform. Die Erfahrung zeigt: Auch wer mit klarem Bewusstsein und in voller Freiheit eine Lebenswahl vor Gott getroffen hat, kann nicht davon ausgehen, dass sie ihn/sie ein Leben lang tragen wird. „Wenn das Wasser in einem Aquarium verdunstet ist und die Fische tot auf dem Trockenen liegen, werden sie nicht wieder lebendig, wenn man Wasser nachgießt“, sagt ein Mann nach dem Scheitern seiner Ehe. Er war weder dumm noch bösartig, noch nahm er die Dinge auf die leichte Schulter. Vielmehr kam etwas, was einmal wundervoll und passend war, zum Ende; die Kräfte waren nicht da, um es wieder zum Leben zu erwecken. Für Priester, die ihr Amt aufgegeben haben, gilt Vergleichbares. Ist es wirklich so sicher, dass jede(r), der/die in eine Lebensform in der Kirche berufen ist, auch berufen ist zur „Beharrlichkeit“ in dieser Lebensform?

      Gelegentlich hört man: Wenn es eine Berufung in die Ehe oder in das Ordensleben hinein gibt, kann Gott dann nicht auch wieder aus der Ehe oder dem Ordensleben hinaus und in eine neue Lebenskonzeption hinein berufen? Den Menschen, die solches ernsthaft diskutieren – was ja nicht zuerst eine akademische, sondern eine lebenspraktische und oft mit erheblichem Leidensdruck verbundene Fragestellung ist –, darf nicht gleich die Ernsthaftigkeit abgesprochen und unterstellt werden, sie würden für eigene „ungeordneten Anhänglichkeiten“ nur eine spirituelle Rechtfertigung suchen.

       Wie findet man seine Berufung?

      Im Exerzitienbuch beschreibt Ignatius von Loyola diesen Mechanismus so: Statt sich auf Gott auszurichten und zu fragen, was Gottes Einladung an einen selber sei, würden manche Menschen wollen, dass „Gott dorthin komme, wo man selber will“ (GÜ 154 und 155). Und weiter: „Es gibt die einen Dinge, die unter unveränderbare Wahl fallen, wie es Priestertum, Ehe usw. sind. Es gibt andere Dinge, die unter veränderbare Wahl fallen, wie es sind: Pfründen nehmen oder sie lassen, zeitliche Güter nehmen oder sie abweisen“ (GÜ 171).

      Ignatius ist nach dem Textbefund des Exerzitienbuches sehr streng: Wer eine Lebensentscheidung getroffen hat, möge sie beibehalten, auch wenn er den Eindruck bekommen hat, sie sei schlecht (in seiner Sprache: „ungeordnet“) getroffen worden. „Bei der unveränderbaren Wahl, wenn man bereits einmal eine Wahl getroffen hat, gibt es nichts mehr zu erwählen, weil man die Bindung nicht lösen kann; so ist etwa Ehe, Priestertum usw.“ (GÜ 172). Aber auch Ignatius scheint die Möglichkeit, eine „unabänderliche Lebensentscheidung“ zu revidieren, nicht gänzlich auszuschließen. Denn nach den Satzungen des Jesuitenordens sind die ersten Gelübde (Armut, Gehorsam, Keuschheit) der jungen Jesuiten zwar „ewig“, die Gesellschaft Jesu bindet sich aber erst nach den Letzten Gelübden ihrerseits definitiv an ihre Mitglieder.2

      Der Auffassung, dass es „unveränderbare Wahlen“ gibt und man sie auch treffen kann, ist sicher zuzustimmen: Wer ein