Georg Bergner

Volk Gottes


Скачать книгу

gegangen, einem seelsorglichen Notstand zu begegnen. Dieser habe darin bestanden, dass die Teilnehmer der Liturgie immer mehr zu Zuschauern geworden seien. Zentrales Anliegen der Liturgiekonstitution sei es daher, im Sinne Pius X. und Pius XII. die Teilhabe der Gemeinde an der Liturgie sicherzustellen, damit allen „die Quelle der Gnade offensteht“.255 Insgesamt ist im Bereich der Liturgie der Reformwille zum Zeitpunkt des Konzils auch dank der anerkannten Forschung und Praxis der Liturgischen Bewegung deutlich ausgeprägt. Wie Piero Marini bemerkt, beginnt man in der Konzilsdebatte 1962 deshalb mit dem Liturgieschema, weil man meinte, dieses Thema würde keine größeren Schwierigkeiten bereiten.256 In der Tat hatten, wie gesehen, Einsichten der Liturgischen Bewegung bereits Einzug in päpstliche Lehrschreiben gehalten und erste Liturgiereformen beeinflusst. Die Zusammensetzung der Vorbereitungskommission für die Liturgiekonstitution erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität: Man wählt Mitglieder aus allen Kontinenten, achtet auf die Hinzunahme von Experten in der liturgiewissenschaftlichen Forschung, vor allem der Liturgischen Bewegung, auf pastorale Kompetenz, sowie fachlichen Rat aus den Bereichen Kirchenmusik und bildende Kunst.257 Das so von einer großen und repräsentativen Gruppe erarbeitete Ausgangsschema findet in der Konzilsaula große Zustimmung.258 Die Vorbereitungskommission scheint damit die Vollversammlung des Konzils angemessen vertreten zu haben.

      Der Weg des Kirchenschemas ist deutlich länger und komplizierter. Erst das zweite, neu erarbeitete Ausgangsschema von 1963 findet die gleiche Zustimmung wie das Liturgieschema. Diese einjährige Verzögerung ist ein wichtiger Grund, warum ein offensichtlich konsensfähiges Kirchenbild, das sich in den Jahren vor dem Konzil in Form einer ergänzten und erweiterten „Leib Christi“-Ekklesiologie geäußert hatte, zunächst in die Liturgie- und erst später in die Kirchenkonstitution Eingang findet. Das Konzil wird in seinen Beratungen letztlich über das vorkonziliare Bild hinausgehen. Das folgende Kapitel wird die Entstehung von „Lumen gentium“ detailliert darstellen.

      6 LANGER / PESCH, Vorwort, VII.

      7 Zur Biografie Kosters s. HELL, Artikel: Koster, Mannes Dominikus.

      8 LANGER / PESCH, Vorwort, VII.

      9 Vgl. PRZYWARA, Die fünf Wenden, 106–122.

      10 S. SCHILSON, Theologie als Mystagogie, 204f.

      11 S. hierzu die kurze Darstellung der Auswirkungen der Nietzscherezeption und der neuromantischen Bewegungen bei SAFRANSKI, Romantik, 276–325. Für die Evangelische Theologie der zwanziger Jahre, z.B. bei Albert Schweitzer, Paul Tillich und Karl Barth hat Tom Kleffmann den Einfluss der Lebensphilosophie Nietzsches herausgearbeitet, s. KLEFFMANN, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Für die katholische Rezeption s. SCHMITZ, Aufbruch zum Geheimnis der Kirche Jesu Christi, 41ff.

      12 Vgl. MOGGE, Naturmystik und kosmisches Lebensgefühl, 236f.

      13 Vgl. SCHILSON, Theologie als Mystagogie, 206.

      14 S. PRZYWARA, Die fünf Wenden, 114; SCHILSON, Theologie als Mystagogie, 216. Guardini nimmt den Gedanken des sich entfaltenden Lebens in seine philosophischen Betrachungen auf. Das Leben zeigt sich in der ständigen Ausbildung und Vereinigung von Gegensätzen. Das lebendig Konkrete wird zum Erkenntnisgrund und widersetzt sich einer „falschen Abstraktion“. S. GUARDINI, Der Gegensatz, 145ff.

      15 Einen Überblick bietet RUSTER, Die verlorene Nützlichkeit der Religion, 82ff., ebenso SCHMITZ, Aufbruch zum Geheimnis der Kirche Jesu Christi, 96–111. Schmitz nennt die ökumenische Bewegung als eine weitere wichtige Gruppe dieser Zeit.

      16 TÖPNER, Der deutsche Katholizismus zwischen 1918 und 1933, 180.

      17 Die katholische Jugendbewegung greift dabei auf die Epoche des Mittelalters zurück, in der sie idealisiert die Idee einer religiösen Volksgemeinschaft verwirklicht sah, s. TÖPNER, Der deutsche Katholizismus, 180–184.

      18 Vgl. GUARDINI, Vom Sinn der Kirche, 21–26.

      19 S. hierzu z.B. VONIER, Das christliche Menschenbild in der Liturgie, 66f, 81f, 86.; ROBEYNS, Der Kult der Kirche, 102, 113f. Robeyns bemüht sich um eine Verbindung von liturgischer und sozialer Dimension der Kirche. S. Ebd., 125f.

      20 S. hierzu PRZYWARA, Liturgische Erneuerung.; SCHILSON, Theologie als Mystagogie, 221f.

      21 S. CONGAR, Der mystische Leib Christi und seine sichtbare Manifestation, 56; Vgl. auch FRISQUE, Die Ekklesiologie im 20. Jahrhundert, 196.

      22 Vgl. PRZYWARA, „Corpus Christi Mysticum“, 123; CONGAR, Der mystische Leib Christi, 56.

      23 S. z.B. die eindringlichen Schilderungen des vereinsamten, aufgeklärten Individuums als Gegenbild zum neuen Gemeinschaftsideal bei ADAM, Das Wesen des Katholizismus, 18f.

      24 Vgl. FRISQUE, Die Ekklesiologie im 20. Jahrhundert, 197. Zur Rezeption Möhlers und Scheebens in der katholischen Theologie der Zeit vgl. SCHMITZ, Aufbruch zum Geheimnis der Kirche Jesu Christi, 150ff und 164–168.

      25 S. z.B. CONGAR, Der mystische Leib Christi, 55; Przywara kommentiert dies bereits 1933: „Baader, Möhler und Scheeben beherrschen ohnehin das heutige katholische Denken so sehr, dass die deutschen Thomisten ihren Thomas eigentlich durch diese drei hindurch lesen.“ PRZYWARA, Die fünf Wenden, 109. S. auch PRZYWARA, Corpus Christi Mysticum, 129ff.

      26 Vgl. MÖHLER, Die Einheit der Kirche, 21f.

      27 Vgl. MÖHLER, Die Einheit der Kirche, 23f.

      28 Vgl. SCHEEBEN, Die Mysterien des Christentums, besonders 312–322, 442ff.

      29 GUARDINI, Vom Sinn der Kirche, 30.

      30 Als besonders eindrucksvolles Beispiel eines organologischen Denkens kann Arnold Rademachers Ansatz dienen. S. RADEMACHER, Die Kirche als Gemeinschaft und Gesellschaft: „Das gleiche Blut strömt durch die Adern jedes Gotteskindes; dasselbe Lebensprinzip beherrscht alle und jeden“ (50). Die Gläubigen sind durch „naturhafte Liebe verbundene Zellen eines großen Organismus, Glieder des mystischen Leibes Christi“ (50). Christus wird bei Rademacher zum Herz des Organismus, durch den das göttliche Leben im Kreislauf strömt (139), oder auch zum „Zellkern“ der durch Teilung neue Glieder der Kirche hervorbringt (143).

      31 S. PRZYWARA, Corpus Christi Mysticum, 123.

      32 S. z.B. VONIER, Das christliche Menschenbild, 72. Einen Überblick über die verschiedenen am Zentralbegriff „corpus Christi mysticum“ angelegten ekklesiologischen Ansätze bietet SCHMITZ, Aufbruch zum Geheimnis der Kirche Jesu Christi, 194–257. Hier können zur Illustration der Diskussion nur einige ausgewählte Autoren erwähnt werden.

      33 S. PRZYWARA, Theologie der Kirche, 157ff.

      34 Dieses Begriffspaar, maßgeblich beeinflusst durch das soziologische Grundlagenwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies bildet für die Gesellschaftslehre der Zeit eine weit über den theologischen Bereich hinaus rezipierte Grundlage. S. hierzu SCHMITZ, Aufbruch zum Geheimnis der Kirche Jesu Christi, 19, 63ff.

      35 S. HEILER, Der Katholizismus, besonders 595–637. Heiler knüpft hier an die in ähnlicher Weise argumentierenden George Tyrell und Friedrich von Hügel an.

      36 Vgl. O.A., Der Katholizismusz.B. 89ff, 181f, 219f.

      37 Vgl. O.A., Der Katholizismus, z.B. 97f, 239.

      38 Kritisch äußert sich dazu PRZYWARA, Die Kirche als Lebensform, 19–22; PRZYWARA, Corpus Christi Mysticum, 135ff.

      39 S. die Übersicht bei HAHNENBERG, The Mystical Body of Christ and Communion Ecclesiology, 10f.

      40 ADAM, Das Wesen des Katholizismus, 17.

      41 ADAM, Das Wesen des Katholizismus, 32, 49.

      42 Vgl. ADAM, Das Wesen des Katholizismus, 51–57.

      43