2.1 Der „Volk Gottes“-Begriff in der Entstehung von „Lumen gentium“
Durch die neuen Ergebnisse der theologischen Forschung wie auch die Entwicklungen in den verschiedenen Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche und der daraus hervorgehenden Neubeschäftigung mit dem kirchlichen Ort der Laien sind wichtige Grundlagen für eine Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs auf dem bevorstehenden II. Vatikanischen Konzil gelegt. Dennoch bedarf es noch eines langen und facettenreichen Prozesses, bis der Begriff zu seiner herausragenden Stellung innerhalb der Kirchenkonstitution gelangen kann. Aus der komplexen Entstehungsgeschichte der Konstitution sollen im Folgenden einige Etappen dargestellt werden. Sie zeigen, welche Entwicklung der „Volk Gottes“-Begriff von der vor-vorbereitenden Phase ab 1959 bis zur Verabschiedung von Lumen gentium am 21. November 1964 genommen hat.
2.1.1 Die erste Etappe: Von der Ankündigung des Konzils zum Vorbereitungsschema „De ecclesia“
Nach der Ankündigung des Konzils durch Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 und der Einsetzung der vor-vorbereitenden Kommission unter der Leitung des damaligen Staatssekretärs Kardinal Domenico Tardini und des eingesetzten Sekretärs Pericle Felici259, werden ab dem 18. Juni desselben Jahres die Bischöfe, Ordensoberen, die römischen Prälaten und die katholischen Universitäten um die Einreichung von Themenvorschlägen für das bevorstehende Konzil gebeten. Das von Tardini verfasste Schreiben lässt den Antwortenden dabei weitgehende Freiheit und schlägt lediglich zur Orientierung vor, dass es sich bei den einzureichenden Themen um Fragen der Lehre, Fragen bezüglich der Kleriker und des Kirchenvolks sowie um aktuelle Probleme im Schnittfeld zwischen Kirche und Welt handeln könnte.260
Aus den rund 9000 thematischen Vorschlägen, die bis Februar 1961 eingehen,261 erstellt das Sekretariat der Kommission eine inhaltlich gegliederte Übersicht, den „Analyticus Conspectus.“262 Auch wenn dieses Arbeitsinstrument aus heutiger Sicht hinsichtlich seiner Methodik anfragbar ist263, bietet es Aufschlüsse über die von den zukünftigen Konzilsteilnehmern als vorrangig zu behandelnden Themen, sowie ihren theologischen Fragehorizont. Hinsichtlich des Wesens der Kirche im Allgemeinen finden sich 50 Eintragungen264, von denen lediglich drei die Einbeziehungen alternativer biblischer Bilder neben dem des „Leibes Christi“ fordern (z.B. „Braut Christi“, „Familie Gottes“, „Reich Gottes“). Der Begriff „Volk Gottes“ wird an dieser Stelle ebenso wenig erwähnt wie in den folgenden Kapiteln mit 41 Eingaben265 zur möglichen Weiterentwicklung der Lehre vom „mystischen Leib Christi“. Lediglich ein Eintrag verweist auf die Notwendigkeit der Rezeption neuer ekklesiologischer Forschungsergebnisse, ein weiterer auf die Notwendigkeit der Klärung des Verhältnisses von Kirche und „Reich Gottes“. Insgesamt herrscht der Wunsch nach einer offiziellen Bestätigung der Ekklesiologie von „Mystici Corporis“ vor. Deutlich ist jedoch das Anliegen zu vernehmen, das Konzil möge die Rolle der Laien innerhalb der Kirche besser definieren und erklären.266 Dieser Frage ist ein eigenes Kapitel mit 59 Einträgen gewidmet.267 Neben den rund 2000 Eingaben, die zu verschiedenen Themen des Klerus eingereicht werden, nimmt sich aber auch dieser Fragenkomplex vom Umfang her eher bescheiden aus.
Auch wenn die Ekklesiologie insgesamt als wichtiges Thema der Lehre und Disziplin angesehen wird, das kommende Konzil in Fortführung des I. Vatikanums hier auch noch unerledigte Aufträge, vor allem hinsichtlich des Bischofsamtes zu erfüllen hat, ist doch die Gruppe derer, die angeregt durch die neuen theologischen Ansätze in Deutschland, Frankreich und Belgien und die Impulse der Katholischen Aktion, der Liturgischen Bewegung und anderer Bewegungen zu einem neuen ekklesiologischen Aufbruch drängen, eher klein.268
Einige Vertreter dieser Linie finden sich etwa im niederländischen Episkopat. Hier hat in einem konfessionell gemischten und in vielen Teilen bereits säkularen Umfeld eine Rezeption der neuen theologischen Impulse aus den Nachbarländern bereits stattgefunden. Zudem werden weite Bereiche der Kirche durch ein hohes Engagement von Laien geprägt.269 So findet sich in der Rückmeldung des Erzbischofs von Utrecht, Bernard Alfrink, die Forderung nach der Aufnahme des „Volk Gottes“-Begriffs zur Beschreibung des Wesens der Kirche. Aus der Perspektive des „Volkes Gottes“ und der Teilhabe aller seiner Glieder am gemeinsamen Priestertum sollen die Aufgaben und Dienste der Laien in der Kirche neu bedacht werden.270 Auch in den Rückmeldungen der deutschen Bischöfe finden sich deutliche Hinweise auf eine neu zu beschreibende ekklesiologische Grundlegung, die sich an den Begriffen „Mysterium“ bzw. „Sakrament“ sowie einer Vielzahl anderer, u.a. „Volk Gottes“, ausrichtet.271
Mit dem Motu Proprio „Superno Dei“ vom 5. Juni 1960272 leitet Papst Johannes XXIII. die vorbereitende Phase des Konzils ein. In ihm wird die Errichtung von 10 Sachkommissionen unter dem Vorsitz der jeweils zuständigen Kurienkardinäle festgelegt. Außerdem wird die Zentralkommission unter Vorsitz des Papstes, bzw. eines von ihm benannten Delegaten eingerichtet, zu der neben den Vorsitzenden der Sachkommissionen auch einige Kardinäle und Bischöfe des Weltepiskopats gehören. Der Theologischen Kommission (CT)273 unter der Leitung des Sekretärs des „Sacrum Officium“, Kardinal Alfredo Ottaviani, wird durch die Vorbereitungskommission die Behandlung des Themas „Kirche“ zugewiesen. Auf Anweisung Ottavianis fertigt der Sekretär der Kommission, der niederländische Jesuit Sebastian Tromp, Professor für Fundamentaltheologie an der Gregoriana und einer der Verfasser von „Mystici Corporis“, erste Skizzen für das zukünftige Schema „De ecclesia“ an.274 Die Unterkommission, die zur Vorbereitung des Schemas eingerichtet ist, tagt am 28. Oktober 1960 zum ersten Mal.275 Zu ihr gehört neben verschiedenen Vertretern der römischen neuscholastischen Schule276 auch Gerard Philips, der für die Ausarbeitung des Laienkapitels im Schema „De ecclesiae“ verantwortlich sein wird.277 Von den Mitgliedern, die eine Offenheit hinsichtlich der „nouvelle théologie“ zeigen, ist etwa Carlo Colombo, Professor an der theologischen Fakultät in Mailand und Vertrauter Kardinal Giovanni Battista Montinis zu nennen, zudem der niederländische Jesuit Johannes Witte, der schließlich Yves Congar zur Studienwoche der Unterkommission vom 15.-23. November 1961 einlädt.278 Congar hatte bereits im September 1960 ein Memorandum zu den Vorentwürfen der Schemata verfasst, ihren defensiven, apologetischen Geist bemängelt sowie eine neue, missionarisch-heilsgeschichtliche Sicht auf die Kirche vorgeschlagen.279 Zum Zeitpunkt seiner Mitwirkung in der Unterkommission steht diese allerdings bereits unter hohem Zeitdruck. Die fertigen Entwürfe sollen im Februar 1962 an die Koordinierungskommission weitergegeben werden. Das Tagebuch Tromps vermittelt den Eindruck einer teilweise hektischen und unkoordinierten Arbeit der „De ecclesia“-Arbeitsgruppe, die zudem durch ständige personelle Veränderungen erschwert wird.280 Der Endentwurf ist daher in Inhalt und Aufbau wesentlich Tromp zuzuschreiben, der u.a. für die Schlussfassung des ersten Kapitels zum Wesen der Kirche verantwortlich ist.281
„De ecclesia“282 beginnt im ersten Kapitel „De ecclesia militantis natura“ mit einem Prolog, der die Kirche mit dem Heilswirken Gottes in Christus in Verbindung bringt. Christus, der sich selbst als reines Opfer dem Vater darbringt, reinigt und heiligt sein Volk, das durch den Ratschluss des Vaters aus der Vielzahl der Völker als königliche Priesterschaft und neues Israel (1 Petr 2, 9–10) erwählt wurde (Nr. 1). Der zweite Artikel beginnt mit der Ausführung des Heilsplans: Christus, der als „neuer Adam“ zum Haupt der Menschheit eingesetzt ist, als Priester, König und Prophet über das „Volk Gottes“ regiert und es heiligt, setzt die Vorsteher unter der Leitung des Petrus ein, damit das Volk nicht in Verwirrung gerät und als dichtgefügte Heerschar („agmen“) in Einheit für alle Ewigkeit zusammensteht (Nr. 2). So wie Mose das Volk durch die Wüste geführt hat, führt Christus die Kirche auf ihrem irdischen Weg der Vollendung entgegen (Nr. 3). Auch hierfür nennt das Schema die Notwendigkeit des Petrusdienstes. Es verweist zusätzlich auf andere biblische Bilder (u.a. „Reich Gottes“, „Haus Gottes“, „Herde“, „Schafstall“) um dann in Nr. 4 das Bild des „mystischen Leibes Christi“ im Sinne von „Mystici Corporis“283 als das wichtigste zu bestimmen und näher auszuführen (Nr. 5–7). Der „Volk Gottes“-Begriff wird in Kapitel VI über die Laien wieder aufgenommen. Hier spricht das Schema über die Berufung der Laien zum Volk Gottes, ihre Zusammenarbeit mit dem