Georg Bergner

Volk Gottes


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zu Hause sind, nach den Regeln des christlichen Lebens leben und nicht zum Weihe- oder Ordensstand gehören (Nr. 22).285

      Insbesondere im ersten Abschnitt des Schemas erscheint das „Volk Gottes“ als „passive Größe, das die Gnaden der Erlösung durch die kirchlichen Vorgesetzten erfährt“286. Die heilsrelevanten Funktionen werden den Amtsträgern zugeschrieben.287 In einer generell eher gesellschaftlich-juridischen Sicht der Kirche sind die heilsgeschichtlichen Anklänge in Nr. 1–2 kaum hörbar. Ebenso kommt die in Nr. 4 erwähnte Vielzahl biblischer Metaphern für die Kirche unter der Dominanz des „Leib Christi“-Bildes nicht zur Geltung. Das Kapitel über die Laien stellt sowohl dem Inhalt als auch dem theologischen Ansatz nach eine gewisse Neuerung dar.288 Trotz der Bemühungen um eine positive Bestimmung des Laienstandes und der Aufnahme des „Volk Gottes“-Begriffs, um die Gemeinschaft der Gläubigen zu beschreiben, geht „De ecclesia“ dennoch insgesamt von einer Unterordnung der Laien unter das geistliche Amt aus.289

      Das Schema „De ecclesia“ trägt maßgeblich die Handschrift der römischen Schultheologen. Es orientiert sich in besonderer Weise an den ekklesiologischen und apologetischen Lehrschriften der vergangenen Jahrzehnte, vor allem an „Mystici Corporis“.290 Das Schema ist von Beginn an umstritten. Parallel zur Arbeit der Unterkommissionen erarbeitet das Sekretariat für die Einheit der Christen unter der Leitung Kardinal Augustin Beas eigene Gutachten zu zentralen Fragen des Konzils unter ökumenischem Gesichtspunkt. In den Texten des Einheitssekretariats findet sich, auch begünstigt durch die personelle Zusammensetzung291 dieser Einrichtung, ein alternativer, stärker biblisch fundierter, heilsgeschichtlicher und dialogoffener theologischer Ansatz.292 Der im April 1962 erarbeite Text zum Thema „Kirche“ spricht von dieser als „Mysterium“ und „Volk Gottes“ in der heilsgeschichtlichen Kontinuität zu Israel, das sich in der Kraft des Heiligen Geistes auf dem Weg zur Vollendung befindet. Mit Blick auf den ökumenischen Dialog geht das Dokument von einer bereits in der Taufe gelegten fundamentalen Einheit der Christen aus, die in den Charismen und Ämtern ihren strukturellen Ausdruck findet.293 In einer Stellungnahme zum Thema der Laien äußert sich das Einheitssekretariat zudem zugunsten einer positiven Neubewertung des gemeinsamen Priestertums als ein „wahres“ und nicht bloß metaphorisches Priestertum.294

      Auch in der Diskussion der von der Unterkommission erarbeiteten Entwürfe melden sich bereits früh kritische Stimmen. So fordert Ignaz Backes bereits am 24. Januar 1961 die Theologische Kommission zur Ergänzung des Bildes vom „Leib Christi“ durch den Begriff „Volk Gottes“ auf, in ähnlicher Weise auch Michael Schmaus im Februar 1962.295 In der Vollversammlung der Zentralkommission äußert sich am 8./9. Mai 1962 der Unmut der Bischöfe über die vorgelegten ersten sechs Kapitel des Entwurfes.296 Diese Unzufriedenheit schlägt sich auch in den im Nachgang eingereichten Verbesserungsvorschlägen der Mitglieder nieder, die insgesamt 43 Seiten füllen.297 Aufgrund der knappen verbleibenden Zeit wird das kritisierte Schema „De ecclesia“ in der dafür zuständigen Unterkommission für Verbesserungen an einem einzigen Tag, dem 17. Juli 1962 der nochmaligen Revision unterzogen und dann an die zentrale Vorbereitungskommission weitergegeben. Diese bestätigt in so gut wie allen Punkten das vorhandene Schema.298 Bereits am 9. Juli werden die ersten vorbereitenden Schemata des Konzils an die Bischöfe geschickt.299 Das Schema „De ecclesia“ erreicht die Bischöfe erst in einem weiteren Versand am 23. November 1962, also nach der Eröffnung des Konzils.300

      Bereits vor der Veröffentlichung und der Diskussion des Kirchenschemas auf dem Konzil, das sich zunächst seit dem 11. Oktober 1962 mit der Bildung seiner Struktur und dem Liturgie- und Offenbarungsschema befasst, kommt es im Kreis derer, die mit der Vorlage unzufrieden sind, zu reger Aktivität. Kardinal Suenens erteilt, wahrscheinlich auf Anregung des Kardinalstaatssekretärs Cicognani, am 13. oder 14. Oktober Gerard Philips den Auftrag zur Abfassung eines alternativen Entwurfes für eine zukünftige Kirchenkonstitution. Er soll diesen Entwurf mit Yves Congar und anderen Theologen seiner Wahl vorbereiten.301 Philips Idee ist es, eine Vorlage zu verfassen, in deren Mittelpunkt die Lehraussagen über die Bischöfe stehen. Um diese Aussagen herum sollen sich die weiteren ekklesiologischen Aussagen angliedern. Seine ersten Entwürfe stellt Philips bereits am 25. Oktober einer Gruppe ausgewählter Theologen vor. Nach einigen auf diesem Treffen eingefügten Korrekturen, wird der Text zur weiteren Bearbeitung zunächst dem Einheitssekretariat zugesandt.302

      Philips’ Entwurf303 sieht im ersten Kapitel über das „Mysterium der Kirche“ einen eigenen Abschnitt über das „Volk Gottes“ vor. Aus dem Heilsratschluss Gottes versammelt Christus, der durch seine Inkarnation und seinen Tod die Erlösung der Menschen bewirkt, ein Volk (Nr. 1).

      „Dies ist die Kirche Christi, die er sich durch sein Blut erworben hat (Apg 20,28), indem er uns liebt, von unseren Sünden reinwäscht, und er uns zu Königen und Priestern Gottes seines Vaters macht (Offb 1,5), zu einem auserwählten Volk („gens“), einem königlichen Priestertum, einem heiligen Volk Gottes („populus Dei sanctus“), so dass wir nach seiner Barmherzigkeit aus der Finsternis in das wunderbare Licht Gottes gerufen werden (1 Petr 2, 9–10), damit der Friede Christi auf Erden herrsche, während das Volk Gottes der Heimat entgegen pilgert.“ (Nr. 2)

      Der zitierte 2. Artikel zeigt in Verbindung mit dem vorhergehenden bereits Merkmale einer gegenüber dem Vorbereitungsschema veränderten theologischen Ausrichtung.304 Außerdem wird in ihm die Arbeitsweise Philips’ deutlich. Der Artikel ist aus Material des Vorbereitungsschemas zusammengestellt305, steht auf biblischem Fundament, zeigt die heilsgeschichtliche Perspektive (göttliche Initiative, Kirche erwächst aus dem Christusmysterium, eschatologische Ausrichtung des „pilgernden Volkes“) sowie die Würde der Getauften im gemeinsamen Priestertum. Zudem wird durch die neu eingefügte „wir“-Form die Gemeinschaft der Kirche angesprochen und die Sendung der Kirche für das Wohl der ganzen Welt betont. Philips präsentiert auf der einen Seite bekanntes Material, verleiht diesem aber eine neue Dynamik bzw. Offenheit für eine theologische Weiterentwicklung.

      Neben Philips werden auch weitere Theologen im Hinblick auf eine Überarbeitung bzw. Neufassung des Kirchenschemas aktiv. Edward Schillebeeckx fertigt Ende November 1962 ein kritisches Gutachten zu den in der zweiten Sendung vorgelegten Texten an. Seine Kritikpunkte an „De ecclesia“, ein Dokument, das ihm bis auf das von Philips verfasste Laienkapitel missfällt, beziehen sich u.a. auf die Einarbeitung einer mangelhaften biblischen Theologie in Bezug auf das Bild vom „Leib Christi“. Zudem fehlen dem niederländischen Theologen die Beschreibung der Kirche als „Sakrament“ sowie der Dimension ihrer geschichtlichen Pilgerschaft.306 Karl Rahner erstellt zum gleichen Zeitpunkt gemeinsam mit Otto Semmelroth ebenfalls eine grundsätzliche Kritik des Schemas, in der das Thema des „Volkes Gottes“ eine entscheidende Rolle spielt.307 Die Texte von Philips, Schillebeeckx und Rahner werden vervielfältigt und Synodenvätern zur Verfügung gestellt308, so dass sich zur Generaldebatte ab dem 1. Dezember 1962 die theologische Opposition zum Vorbereitungsschema bereits deutlich bemerkbar gemacht hat.309

      Die einleitenden Worte Kardinal Ottavianis über die Kirchenkonstitution anlässlich des Beginns der Debatte am 1. Dezember 1962 nehmen die von der Theologischen Kommission befürchteten Einwände gegen das Schema (zu juridisch, nicht pastoral und ökumenisch genug) vorweg.310 Nach ersten Anmerkungen durch Kardinal Liénart (Lille) über die zu schwache Präsenz des mystischen Aspektes der Kirche311, plädiert Kardinal König (Wien) als vierter Redner für eine gründliche Überarbeitung des vorgelegten Textes. Er regt unter anderem eine Einleitung der Kapitel III und IV über die Bischöfe und die Laien durch einen Abschnitt über das „Volk Gottes“ an, zu dessen Aufbau schließlich die hierarchischen Ämter bestimmt sind. Die Verbindung zwischen Klerus und Laien müsse auf diese Weise deutlich gemacht werden. Laien seien, so König, nicht bloß passive Empfänger der Lehre sondern nehmen als Mitglieder der Glaubensgemeinschaft auch Einfluss auf sie.312 In verschärfter Form wird dieses Argument von Bischof De Smendt (Brügge) als achtem Redner zum Ausdruck gebracht. Im „Volk Gottes“, so der Bischof, sind alle durch das in der Taufe empfangene gemeinsame Priestertum