Das im Mai und August 1963 in zwei Sendungen verschickte neue Schema berücksichtigt in Bezug auf den „Volk Gottes“-Begriff die Wünsche der Konzilsväter. Es führt das „Mysterium“ bzw. „Sakrament“ als ekklesiologischen Leitbegriff der gesamten Konstitution ein. Es erweitert in einer heilsgeschichtlich-biblischen Sicht den zuvor beherrschenden „Leib Christi“-Begriff um andere Schriftmetaphern, von denen der des „Volkes Gottes“ eine besondere Stellung zukommt.338 Zudem legt das neue Schema unter dem Leitwort „Volk Gottes“ die gemeinsame Würde und Sendung aller Gläubigen den Erläuterungen zu den einzelnen Ständen der Kirche zugrunde.
2.1.3 Die dritte Etappe: Das neue Kapitel II und die redaktionelle Bearbeitung
Unter den schriftlich im Vorfeld der zweiten Sitzungsperiode des Konzils eingereichten Anmerkungen zum neuen Kirchenschema findet sich ein Vorschlag Kardinal Suenens’ zu einer Neugliederung des Textes.339 Er enthält den Entwurf eines neuen Kapitels „Über das Volk Gottes im Allgemeinen“, das den Kapiteln über die Hierarchie (bislang Kapitel II), die Laien (bislang Kapitel III) sowie die Berufung zur Heiligkeit und die Ordensleute (Kapitel IV) vorangehen soll. Erste Hinweise auf diesen Vorschlag finden sich bereits Anfang 1963 in einer Anfrage von Frans Thijssen, dem Konsultor des Einheitssekretariates. Er schlägt vor, im Philips-Schema ein Kapitel „De populo Dei seu de laicis“ vor das Kapitel der Hierarchie zu stellen, da das „Volk Gottes“ eben die gemeinsame Basis für Laien und Klerus sei.340 Diese Anregung, die sich, wie gesehen, auf die Beiträge einiger Bischöfe in der Generaldebatte im Dezember 1962 berufen kann, wird von Suenens weiterverfolgt. In der Sitzung der Koordinierungskommission am 3./4. Juni 1963 fragt er Albert Prignon, Rektor des belgischen Kollegs und von Suenens zur Mitarbeit in die Kommission für die Lehrfragen341 berufen, nach seinen persönlichen Verbesserungswünschen für das neue Schema. Prignon schlägt vor, das bisherige Kapitel III in zwei Kapitel aufzuteilen, eines über das „Volk Gottes“, das seinen neuen Platz vor dem derzeitigen Kapitel über die Hierarchie finden soll, und eines über die Laien.342 Die Kommission entscheidet sich zunächst gegen eine Änderung, auch, um keine weitere Verspätung beim Versand des neuen Schemas zu riskieren. Sie empfiehlt den Vorschlag allerdings der Theologischen Kommission zur Weiterarbeit nach Wiederaufnahme des Konzils im Oktober.343 In der Zwischenzeit beginnt Philips mit der Ausarbeitung des neuen Vorschlags, der wahrscheinlich während des ersten Treffens von Mechelen vom 6. bis 8. September Gestalt annimmt und noch vor Beginn der zweiten Sitzungsperiode fertiggestellt ist.344
Das Konzil wird am 29. September 1963 von Papst Paul VI. wiedereröffnet. An den folgenden beiden Tagen findet die Debatte zum neuen Schema „De ecclesia“ als Ganzem statt. Sie endet mit der Annahme des Textes als neuer Arbeitsgrundlage.345 Bereits während der Debatte sprechen sich einige Konzilsväter für die Aufnahme des Suenens-Vorschlags aus, als erstes der Brixener Bischof Joseph Gargitter.346 Am 2. Oktober diskutiert die Theologische Kommission über die Neuordnung der Kapitel.347 Philips wirbt für diesen Vorschlag, indem er darauf hinweist, dass hierdurch der eigentliche Text kaum berührt werde. Schauf plädiert ebenfalls für die Herausstellung des „Volk-Gottes“-Begriffs, „denn in ihm wird die begriffliche Grundlage für Gläubige und Hierarchie gelegt.“348 Florit, Erzbischof von Florenz, schlägt alternativ ein Kapitel über „Die Gleichheit und Ungleichheit der Glieder der Kirche“ vor. Parente, ein Mitarbeiter Ottavianis, wendet ein, dass mit der Umstellung des Stoffes auch die Lehre beeinflusst werde. Wie Congar notiert, spricht sich der Generalmagister der Dominikaner, Aniceto Fernandez dafür aus, es bei der Bündelung des Stoffes in einem Kapitel zu belassen. Bei einem eigenständigen „Volk Gottes“-Kapitel bestehe die Gefahr, „in einen überzogenen Demokratismus abzugleiten“.349 In der Sitzung der Kommission am 9. Oktober350 stimmen dann 20 Mitglieder für die Einfügung des neuen Kapitels, vier dagegen. Uneinigkeit gibt es noch über den Titel. Neben dem Vorschlag von Charue und Congar, das neue Kapitel „De populo Dei“ zu nennen und dem Vorschlags Florits (s.o.), wird auch der Titel „Über die Gläubigen“ von Ottaviani angeregt. Mit 14 Stimmen gegenüber einer für Florits und sieben für Ottavianis Vorschlag wird der erste Vorschlag gewählt. Die Koordinierungskommission hat zu diesem Zeitpunkt ihre Zustimmung bereits signalisiert. Nochmals kommt es Mitte Oktober zu einer Auseinandersetzung um die Reihenfolge der Kapitel. Tromp schlägt vor, das neue Kapitel hinter das Laienkapitel zu setzen. Nach einer Appellation an den Papst überlässt Paul VI. die Klärung dieser Frage dem Konzil.351 Im Auftrag der Moderatoren erhält Ottaviani von Kardinal Agagianian die Nachricht, dass in der Frage der Erarbeitung und Einfügung des neuen Kapitels das positive Votum der Kommission für die Lehrfragen ausreiche.352 Damit ist der Weg für das neue Kapitel auch ohne vorherige Abstimmung in der Konzilsversammlung frei.353 Die Diskussion über das neue Kapitel wird erst in der Beratung des Konzils über das Laienkapitel Mitte Oktober wieder aufgenommen. Beherrschend ist dabei die Frage nach der Verhältnisbestimmung der Laien zum Klerus. Auch melden sich Stimmen für und gegen die Einführung des neuen Kapitels,354 wenn sich auch eine Grundstimmung zugunsten Aufnahme des Kapitels einstellt. In der durch das neue Kapitel ausgedrückten Sichtweise zeige sich, so Philips, die wesenhafte Sendung der Gesamtkirche, „zu der alle berufen sind, hineingenommen in die gleiche Gnade und Erlösung, der Liebe und der Hoffnung, und jede Ausübung einer Autorität ist nur statthaft im Dienst der universalen Berufung des neuen auserwählten Volkes“355.
Die Kommission für die Lehrfragen erhält mit Bischof Charue am 2. Dezember einen zweiten Vorsitzenden und neben Tromp mit Gerard Philips einen zweiten Sekretär. Letzterer ist schon seit dem 2. Oktober mit der Sichtung der schriftlichen Eingaben zu „De ecclesia“ beauftragt und sammelt die Anmerkungen aus den Redebeiträgen der Konzilsväter. In der zur Bearbeitung der zahlreichen Rückmeldungen eingerichteten Unterkommission bildet Philips zudem Arbeitsgruppen, die wegen der hohen Zahl an Verbesserungsvorschläge und der theologischen Prüfaufträge356 in der Regel jeweils für ein Kapitel verantwortlich sind.357 Philips notiert Ende Oktober sechs Themen für die weitere Bearbeitung: 1. die Neuerarbeitung eines Kapitels über das „Volk Gottes“, 2. die Einarbeitung von Textpassagen zur missionarischen Sendung der Kirche, 3. zur „Kirche der Armen“, 4. zum Verhältnis des Reiches Gottes zur Kirche, 5. zur Eucharistie, in der sich lokalen Kirchen gründen, und 6. zur eschatologischen Dimension der Kirche.358
Die Prüfung des ersten Kapitels durch die Arbeitsgruppe unter der Leitung Charues kann ihre Arbeit bereits Ende November abschließen. Im Wesentlichen kommt es neben den Umstellungen durch das neue Kapitel II zur Verfassung eines neuen Abschnitts über das Reich Gottes und sein Verhältnis zur Kirche. Außerdem wird ein Abschnitt zur Armut als Dimension kirchlichen Handelns erstellt.359 Der Unterausschuss zur Zusammenstellung des neuen Kapitels über das „Volk Gottes“, dem u.a. Yves Congar angehört, arbeitet zunächst die Artikel des Laienkapitels (Nr. 22–24) für die neue Fassung um. Außerdem werden die bisherigen Nr. 8–10 über die Zugehörigkeit zur Kirche und das Verhältnis der Kirche zu den Nicht-Katholiken bzw. Nicht-Christen in das neue Kapitel übernommen. Zudem überträgt man in einem neuen Artikel die allgemeinen Aussagen über das Gottesvolk aus dem I. Kapitel. Congar beklagt allerdings noch am 3. Dezember, dass dem II. Kapitel eine klare Gliederung durch einen theologischen Grundgedanken fehle. Vielmehr sieht er die Arbeitsgruppe herausgefordert, zahlreiche unverbunden nebeneinanderstehende Wünsche und Anregungen für das neue Kapitel bearbeiten und in den Text integrieren zu müssen.360
Die Einfügung des neuen II. Kapitels wird von Suenens später als die „kopernikanische Wende“ in der Geschichte der Kirchenkonstitution bezeichnet.361 In ihm findet eine Bewegung ihren Höhepunkt, die für eine Ablösung der hierarchiebetonenden Sichtweise zugunsten der Betonung der gemeinsamen Würde und Verantwortung aller, vorgängig zu allen Unterscheidungen, plädiert hatte.362 Die Bemühungen um eine positive Bestimmung der Rolle der Laien bewirkt eine Bedeutungsverschiebung des „Volk Gottes“-Begriffs von seiner Zuordnung zum passiven Kirchenvolk zum Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft insgesamt. Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ist „Volk Gottes“. Neben dieser „theologisch-soziologischen“ Neubestimmung hat das neue Kapitel einen weitere Zielrichtung. Es entsteht aus einer Zusammenstellung der bereits erarbeiteten Texte des zweiten Schemas.363