zu einem kleinen Park kam, von wo man den Ausblick auf das prachtvolle Poljud-Stadion am Adriaufer genießen konnte. Das Stadion mit seinem muschelartig zweigeteilten Dach wurde von Boris Magaš entworfen und gilt als eine der letzten Perlen der jugoslawischen Architektur. Als Zeugnis des vor Titos Tod herrschenden jugoslawischen Utopismus wurde es kürzlich in einer Ausstellung im New York Museum of Modern Art präsentiert.15
Sämtliche Gebäude, Hochhäuser, Läden und Einkaufszentren auf dem Weg zum Stadion waren nicht nur mit Hajduk-Graffiti, sondern auch mit rechtsextremen Symbolen übersät, mit Hakenkreuzen, dem keltischen Kreuz, faschistischen Zahlencodes. Auf eine Wand war Nazi Ragazzi (italienisch für »Nazi-Jungen«) aufgesprüht. Hajduk mochte eine antifaschistische Tradition haben,doch im 21. Jahrhundert ist alles ein wenig komplizierter geworden. Wie viele Kroaten steht auch ein beträchtlicher Anteil der Torcida-Mitglieder der Ustascha aus nationalsozialistischer Zeit wieder wohlwollend gegenüber. Immer wieder kann man die Ustascha-Parole »Za dom spremni« (»Für die Heimat – Bereit!«) vernehmen, das kroatische Pendant zu »Sieg Heil« – insbesondere rund um das Gedenken an die Operation Sturm, die entscheidende Offensive des »Vaterländischen Krieges« für Kroatiens Unabhängigkeit, bei der Hunderte Zivilisten starben und mindestens 200.000 Serben in Todesangst flohen.16 In Kroatien wird die Operation von vielen gefeiert, in Serbien dagegen als im Grunde ungesühnt gebliebenes Kriegsverbrechen verurteilt. Ante Gotovina, einer der verantwortlichen Kommandanten, wurde zunächst vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (UN-Kriegsverbrechertribunal) zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt, doch in der Berufungsverhandlung freigesprochen. Laut einem Ex-Torcida-Mitglied bieten die Gesänge zu Verdis »Triumphmarsch« mit dem wechselseitigen Gruß von Nord- und Westtribüne immer wieder einen willkommenen Vorwand für den Hitlergruß, da man anschließend jegliche Absicht glaubhaft abstreiten kann.
Polizisten tasteten an den Stadiontoren die Besucher grob ab. Auf der zur Haupthalle hinaufführenden Treppe sammelten mit Eimern ausgestattete Torcida-Mitglieder Spenden. Normalerweise wurde damit die Choreo finanziert, doch an diesem Tag war das Geld für eine ehemalige Klublegende gedacht. Der Mann war krank und mittellos. Die Torcida wollte 1.000 Euro zusammenbekommen, damit er dennoch Anteile am Verein erwerben konnte. Trotz der Durchsuchungen durch die Polizei waren Hunderte Bengalos ins Stadion gelangt. Nach der Choreo, nach dem Rauch und dem Feuer, stand schließlich noch ein Fußballspiel an. Es endete mit einem tristen 1:0-Sieg für Dinamo Zagreb. Der aufregendste Moment auf dem Spielfeld war noch, als Hajduks Mijo Caktaš mit einem Ellbogenschlag eine Rudelbildung sämtlicher 22 Spieler auslöste. Auch nach dem Schlusspfiff gingen die Gesänge weiter: gegen Mamić, gegen Zagreb, gegen den HNS, gegen die Serben. Gesänge gegen alles. Mit der Nordtribüne hatte die Torcida sich einen Freiraum geschaffen, dessen Regeln allein sie bestimmte. Zugleich war das, was man hier erlebte, eine flüchtige Erfahrung. Von der Choreografie über die Gesänge und Banner bis zu den Klagen über das Kapital und den Forderungen nach Gerechtigkeit war alles real. Doch kaum war die Show vorbei, trat Saison für Saison, Spieltag für Spieltag eine andere, neue Show an ihre Stelle. Jede Aktion war bereits Vergangenheit, kaum dass sie begonnen hatte. Doch jede würde eine Spur zurücklassen, den Hauch einer Erinnerung im kollektiven Gedächtnis. Wie die versteinerten Überreste eines urzeitlichen Tieres, das vergangen und vergessen sein mochte, doch dessen Umrisse sich für immer dem Gestein eingeprägt haben.
TEIL EINS: LOS PRIMEROS HINCHAS
»Sind Sie schon jemals in einem leeren Stadion gewesen? Machen Sie einmal die Probe. Stellen Sie sich mitten auf den Platz und lauschen Sie genau. Es gibt nichts volleres als ein leeres Stadion. Es gibt nichts lauteres als die Ränge, auf denen niemand steht.«
Eduardo Galeano, Der Ball ist rund und Tore lauern überall
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Uruguay
MONTEVIDEO
Vor dem Estadio Centenario wartete nicht eine Menschenseele, dennoch öffnete das Museo del Fútbol um Punkt 10 Uhr seine Pforten. Das Stadion war 1930 für die allererste WM-Endrunde erbaut worden und hatte schon bessere Tage gesehen, doch aus der Nähe war es nach wie vor ein architektonisches Wunderwerk mit seinem geflügelten, einhundert Meter hohen Art-Deco-Turm La Torre de los Homenajes und dem abgesenkten Spielfeld in der Betonschüssel. Die Fertigstellung des Stadions hatte sich wegen sintflutartiger Regenfälle verzögert, sodass die ersten WM-Partien in anderen Stadien hatten stattfinden müssen. Doch einige Wochen nach dem geplanten Termin war es schließlich fertig, und so konnten noch eine Handvoll Gruppenspiele, beide Halbfinals und das erste WM-Finale der Geschichte zwischen Uruguay und Argentinien hier ausgetragen werden. Mehr als 60.000 Zuschauer – darunter rund 20.000 per Schiff über den Río de la Plata gekommene Gästefans – sahen den 4:2-Sieg Uruguays, nachdem das Team zur Pause noch 1:2 zurückgelegen hatte.
Dass ein Land mit gerade einmal 1,75 Millionen Einwohnern (wie Uruguay 1930) Weltmeister wird, ist normalerweise in etwa so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn. In diesem Fall jedoch nicht. Uruguays Fußball konnte in den zurückliegenden mehr als 90 Jahren außergewöhnliche Erfolge feiern, eine Geschichte, die das Museo del Fútbol auf zwei Stockwerken des Stadionturms genauer präsentiert. Unzählige Vitrinen voller Fotografien und Devotionalien führen anschaulich vor Augen, wie ein winziges Land einen derart überproportionalen Einfluss auf die Geschichte einer weltumspannenden Sportart gewinnen konnte. In einem flachen Glaskasten im Erdgeschoss befindet sich ein zerrissenes, fadenscheiniges Exemplar der blau-weiß gestreiften Flagge Uruguays mit der charakteristischen, auf den Sonnengott der Inkas zurückgehende Maisonne in der linken oberen Ecke; eben diese Flagge hatte bei den Olympischen Spielen von Paris 1924 geweht, bei denen das uruguayische Team Gold gewann. Im Obergeschoss sind die Schuhe ausgestellt, mit denen der Mittelfeldspieler Roberto Figueroa bei den Olympischen Spielen von Amsterdam 1928 bei dem 2:1-Sieg über Argentinien im Final-Wiederholungsspiel traf.
Das Herzstück des Museums bildet ein gewaltiges zeitgenössisches Gemälde, das Vergangenheit und Gegenwart der Celeste verbindet. »Los 23 Orientales« (»Die 23 aus dem Osten«) wurde von dem uruguayischen Künstler Santiago Vecino zur WM 2018 in Russland gemalt. Das einen auf zwei Meter große Querformat gleicht einem modernen Historiengemälde. Egidio Arévalo Rios stemmt nach dem Triumph 2011 die Copa América in die Höhe, die Uruguay insgesamt bereits 15 Mal gewonnen hat, häufiger als jedes sonstige südamerikanische Land. Rechts präsentiert eine vorwärts gebeugte Figur, vermutlich Edinson Cavani, den Jules-Rimet-Pokal, den Uruguay nach 1930 ein zweites Mal 1950 durch den berühmten Triumph über Brasilien vor 200.000 Fans im Maracanã-Stadion gewann. Links wird Alvaro Pereira von zwei Mannschaftskameraden gestützt, nachdem er bei der WM 2014 in der Partie gegen England durch einen Knietreffer Raheem Sterlings ausgeknockt worden war. Uruguay entschied die Partie mit 2:1 für sich; beide Treffer erzielte Luis Suárez, aktuell der unbestritten größte Star des uruguayischen Fußballs. Selbstverständlich ist er es, der im Zentrum des Bildes die himmelblaue Fahne hält. Im Hintergrund sitzt Mannschaftskapitän Diego Godin aus unerfindlichen Gründen auf einem Schimmel, in der Hand ein mittelalterlich anmutendes blaues Banner mit vier goldenen Sternen für Uruguays zwei WM-Titel und die beiden Olympiasiege. Im Hintergrund ragen der Eiffelturm, die Erlöserstatue, das Estadio Centenario und die Moskauer Basilius-Kathedrale in den Himmel.
Lässt man das Gemälde hinter sich, folgt am Ende eines Seitenganges ein Tribut an einem Mann, dem in der Geschichte des Fußballs eine ganz andere, doch keineswegs weniger bedeutsame Rolle zukommt. Die gerahmte, im Lauf der Zeit leicht grünlich ausgeblichene Fotografie zeigt einen kräftigen Mann mittleren Alters in dreiteiligem Anzug mit Krawatte. Die Enden seines ausladenden Schnurrbarts neigen sich nach unten, sein Kinnbart ist graugesprenkelt. Das Porträt von 1905 ist leicht zu übersehen. Es zeigt Prudencio Miguel Reyes. Reyes war weder aktiver Fußballer, noch bekleidete er in einem uruguayischen Verein oder im nationalen Verband ein hohes Amt. Der Sattler war für den wenige Jahre zuvor in Montevideo gegründeten criollo (»kreolischen«) Club Nacional de Football tätig, den ersten Verein des Landes, bei dem Uruguayer, nicht Engländer, das Sagen hatten. Seine Funktion an Spieltagen war ebenso praktisch wie notwendig: Als hinchador oblag