Und er war anders als die anderen im Stadion.
Zu jener Zeit galt der Fußball in Uruguay als Kunstform, die man wie eine Oper oder ein Theaterstück genoss. Matches beim Fußball, Tennis, Polo oder sogar Kricket glichen sich mehr oder weniger. Die in Festtagsgarderobe gekleideten Zuschauer verfolgten das Geschehen im – laut Nacionals Comision de Historia y Estadistica – »klassischen angelsächsischen Stil«. Auf den Holztribünen des Parque Central ging es bei den Spielen ordentlich und gesittet zu, »das Publikum bewahrte bei den Partien eine gewisse Ernsthaftigkeit«17, außer bei einem Treffer, doch selbst dann »beschränkte sich die Beteiligung auf gedämpften Applaus oder einen Ausruf der Freude oder Enttäuschung«18.
Reyes war das vollkommene Gegenteil. Soweit bekannt, war er außerhalb des Parque Central ein stiller und zurückhaltender Mann. Doch sobald er im Stadion seinen Platz am Spielfeldrand einnahm und der Schiedsrichter die Partie anpfiff, war er wie ausgewechselt. Musste er nicht gerade einen Ball aufpumpen, tigerte er an der Seitenlinie auf und ab und feuerte die Spieler lauthals an, um sich im nächsten Moment an die Zuschauer zu wenden und sie nicht minder lautstark aufzufordern, in seine Anfeuerungen einzustimmen, bis sie schließlich von ihm angeleitet im Chor »Nacional vor, Nacional vor, Nacional vor« skandierten und die Mannschaft nach vorn peitschten. Bei den ersten Spielen reagierten die Menschen verblüfft. Die Reporter berichteten über Nacionals El Hincha Pelotas, den Ballaufpumper, der ebenso viel zum Spektakel beitrug wie das Spiel selbst. Unbeirrt brüllte und rannte er weiter, bis er die Zuschauer auf seiner Seite hatte. Mit jedem Heimspiel schlossen sich mehr Anhänger dem Beispiel des »feisten Reyes« mit den »Salamifingern« an, wie ihn der berühmte uruguayische Autor Diego Lucero einmal beschrieb. Etwas Derartiges hatte bis dahin noch niemand gesehen. Unter dem Eindruck von Reyes begannen auch die Gästefans,ihre Mannschaft mit Sprechchören anzufeuern, um anschließend die neue Form des Supports im eigenen Stadion zu übernehmen. Der Verein bemerkt in seiner offiziellen Geschichte zu Reyes: »Bald wurden die Nacional-Anhänger, die am lautesten schrien, als hincha bezeichnet. Später dann ging der Begriff auch auf die Fans der anderen Vereine über, überquerte den Río de la Plata und ging schließlich um die ganze Welt.«
Heute werden verrückte Fußballfans in der gesamten spanischsprachigen Welt als hinchas bezeichnet. Prudencio Miguel Reyes hat niemals eine WM oder eine olympische Medaille gewonnen und starb weitgehend vergessen im Februar 1948. Noch nicht einmal seine Grabstätte ist bekannt. Doch seine bis dahin unbekannte Form der Unterstützung der eigenen Mannschaft erwies sich als revolutionär. Sie trug maßgeblich dazu bei, die imaginäre vierte Wand der Fußballbühne zu durchbrechen, und veränderte dauerhaft das Verhältnis zwischen Zuschauern und Spielern. Die Fans verharrten nicht länger in der Passivität. Sie waren von der Kette gelassen und verbreiteten den Virus ihrer Leidenschaft. Prudencio Miguel Reyes war der Patient null: der erste barra brava, der erste torcedore, der erste Ultra, der erste Fan, El Primer Hincha.
Ich hatte mir Mikael größer vorgestellt. Wir hatten uns mehrere Wochen auf WhatsApp über unsere bevorstehende Reise ausgetauscht, und vereinbart, uns im 12.000 Kilometer entfernten Montevideo zu treffen, um den uruguayischen clásico zwischen Nacional und Peñarol zu verfolgen. Mikael ist einer der bestvernetzten Protagonisten der europäischen Ultra-Szene, ein Schwede, der zu Beginn der 1990er-Jahre bei seinem Klub Hammarby die erste Ultra-Gruppierung des Landes gegründet hatte. Auch wenn sein Herz Hammarby gehört, war ihm stets bewusst gewesen, dass die Welt sehr viel größer ist. Er hatte mir erzählt, wie er 1978 als Neunjähriger gebannt das WM-Finale zwischen Argentinien und den Niederlanden verfolgt hatte – nicht etwa wegen des Spiels, sondern wegen des blau-weißen Konfettigestöbers, das von den Rängen auf den Rasen des Estadio Monumental in Buenos Aires niederging. Eine solche Atmosphäre hatte er irgendwie auch in Hammarby erschaffen wollen. Er war um die Welt gereist, ausgiebig in andere Fußballkulturen eingetaucht und mit seinen Eindrücken im Gepäck nach Schweden zurückgekehrt. Tiefe Freundschaften verbanden ihn unter anderem mit den Roma-Ultras, denen von Rapid Wien oder den Griechen von Panathinaikos. Doch der eigentliche Grund für unseren Kontakt war, dass er ein Jahr unter den argentinischen barras bravas verbracht hatte, insbesondere bei der barra der Boca Juniors, der womöglich berüchtigsten Fangruppierung der Welt, La Doce (»Die Zwölf«), die ihren Namen der Tatsache verdankt, dass sie Bocas zwölfter Mann ist.
Die Grundpfeiler der globalen Ultra-Bewegung sind einerseits Vertrauen, andererseits Misstrauen. Kein Ultra vertraut einem Journalisten, doch unter den Gruppierungen besteht weltweit ein inoffizieller Ehrenkodex. Sofern sich jemand für einen verbürgt, stehen einem alle Türen offen. Wenn nicht, bleiben sie verschlossen. Wie bei den europäischen Ultras und Hooligans war es auch bei den barras bravas außerordentlich schwierig, Gesprächspartner zu finden. Diese organisierten Fangruppierungen werden oftmals als die südamerikanische Variante der Ultras bezeichnet. Ihre ersten Vorläufer tauchten in den 1920er-Jahren in Argentinien auf und breiteten sich von dort schon bald über den gesamten spanischsprachigen Subkontinent aus. In den barras versammeln sich die heißblütigsten hinchas eines Vereins, ihnen verdankt sich die einzigartige Atmosphäre in den südamerikanischen Stadien, die weltweit ihresgleichen sucht und den Stadionbesuch zu einem einzigartigen Erlebnis macht. Doch zugleich haben die barras auch eine finstere und gewalttätige Seite und den Schritt von der ritualisierten Fußballgewalt zum organisierten Verbrechen vollzogen. In Argentinien und Uruguay kontrollieren die äußerst mächtigen barras sämtliche Geschäfte rund um das Stadion, von den Parkplätzen über Tickets und Drogen bis zu den Imbiss- und Fanartikelständen. Die Begegnung Nacional gegen Peñarol gehört zu den größten clásicos Südamerikas – und zu den gewalttätigsten. Doch während in Argentinien die Gewalt derart eskaliert war, dass seit sechs Jahren keine Auswärtsfans mehr zugelassen waren, konnte Nacionals barra La Banda del Parque das Spiel vor Ort im Stadion verfolgen. Mikael würde mein Fremdenführer, Mittelsmann und, so hatte ich gedacht, Bodyguard sein.
Mikael ging auf die 50 zu und war rund 30 Zentimeter kleiner als ich. Er hatte einen langen Pferdeschwanz und einen Rauschebart. Sein hellblaues West-Ham-United-Shirt mit dem Aufdruck »Cockney Rejects« verdeckte nur unzureichend seine Tattoos. Gleich mehrere zogen sich über Hals und Nacken, darunter ein großer rosa Kussmund. An anderen Stellen seines Körpers hatte er – neben Hammarby, natürlich – die Klubs verewigt, zu denen er im Lauf der Jahre freundschaftliche Bande geknüpft hatte und die ihn bei seinen Besuchen am meisten beeindruckt hatten: Roma, Rapid Wien und natürlich die Boca Juniors. Ein Tattoo am Bein zeigte Andy Capp, einen politisch inkorrekten britischen Cartoonhelden, der weltweit zu einem Symbol der Ultra-Bewegung avanciert ist. Über Mikaels Bauchpartie zog sich in großen Lettern der Schriftzug ULTRAS.
»Hey, Kumpel«, begrüßte er mich herzlich und mit leichtem Cockney-Akzent. Ein Freund hatte sich dafür verbürgt, dass er kein Psychopath war. Genau genommen war er ein pazifistischer, Death Metal hörender Ultra, der kein Interesse an der gewaltsamen Seite der Szene hatte. Er hatte schlechte Neuigkeiten für mich. Der uruguayische clásico war von einem Tag auf den anderen abgeblasen worden. Und La Banda del Parque hatte dringendere Probleme. »Einer der Anführer der barra sitzt im Knast, weil er jemanden umgebracht haben soll«, teilte Mikael mir nüchtern mit. Er zweifelte an dem Vorwurf. »Ich vermute mal, es geht um Macht und Geld, wie immer in Südamerika.«
Der Fall war entsetzlich. Sechs Wochen zuvor waren die Leichen von zwei Männern – Mitglieder von La Banda del Parque – in einem ausgebrannten VW-Lieferwagen im Stadtbezirk Tres Ombues gefunden worden. Einen Monat darauf waren drei andere Mitglieder der barra verhaftet worden, einer von ihnen auf dem Flughafen von Montevideo, als er von Nacionals Copa-Libertadores-Auswärtsspiel bei Atlético Mineiro aus Brasilien zurückgekehrt war. Zu Beginn der gerichtlichen Anhörungen hatte einer der Anwälte der Angeklagten erklärt, dass sein Mandant von Nacional pro Spiel 40.000 uruguayische Pesos (gut 830 Euro) erhalte – dafür, dass er Banner und Trommeln organisiere und die hinchas in Zaum halte.19 Der Verein stritt das ab, dennoch war das ein Skandal, weil sich viele Uruguayer in ihrer Vermutung bestätigt sahen, dass die Klubs sich nach wie vor mit Jobs und Tickets das Wohlwollen der barras erkauften. Uruguay ist das wohlhabendste und sicherste Land Südamerikas, dennoch sind auch dort in und vor den Stadien Dutzende Menschen gestorben. Eine Zäsur hatten die Schüsse auf zwei Peñarol-Fans vor dem clásico