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Migrationsland Schweiz


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familiären Beziehungen, Angst vor Verletzung und Tod, Hoffnung auf ein besseres Leben sowie berechtigtem Anspruch auf Schutz vor Krieg und Verfolgung. Angesichts der vielen Personen, die seit einigen Jahren nun schon fliehen müssen und auf Aufnahme in einem sicheren Land hoffen, steht auch die Schweiz in der Pflicht.

      Migration betrifft heute darüber hinaus jedoch sehr viel mehr Menschen. 232 Millionen sind laut der Uno gegenwärtig international als Migrantinnen und Migranten zu registrieren; das sind all jene Menschen, die sich seit mehr als zwölf Monaten ausserhalb der Grenzen jenes Landes befinden, in dem sie geboren worden sind.4 Diese Zahl ist gemäss den Statistiken seit 1960 stabil bei drei Prozent der Weltbevölkerung.5 Darunter fallen, mit Blick auf die Schweiz, auch jene Personen, die sich dazu entschliessen, die Schweiz zu verlassen, um sich an einem anderen Ort niederzulassen. In den letzten Jahren hat diese Zahl der Auswanderungen aus der Schweiz kontinuierlich zugenommen.6 Zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt gegenwärtig im Ausland.7 Diese sogenannte Fünfte Schweiz der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer umfasst mehr als 700 000 Bürger. Dass heute sogar ein Mitglied des Nationalrats offiziell seit Jahren in Berlin lebt und von dort jeweils zu den Sessionen anreist und danach wieder nach Deutschland heimkehrt, mag nur ein Indiz für die offene, weltverbundene, in Europa fest verankerte Schweiz sein, aber es ist eines.8 Dem unverstellten Blick zeigen sich unschwer viele weitere.

      MOBILITÄT ALS FAKTUM UND TREIBENDE KRAFT

      Die Grenzen der Schweiz waren stets durchlässig und Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Die Menschen, die sich zwischen den Koordinaten der geografischen oder politischen Schweiz begegneten, bewiesen in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder die Fähigkeit zur Adaption an neue Bedingungen, manchmal taten sie dies sogar fragwürdig wendig. Voraussetzung dazu war und ist die Bereitschaft und Fähigkeit, unvoreingenommen miteinander zu reden und in intensiver Auseinandersetzung gemeinsam nach tragfähigen – und das bedeutet für alle tragbaren – Lösungen für Gegenwart und Zukunft zu suchen. Das Eigeninteresse ist stets zusammen mit den Interessen anderer Beteiligter zu konzipieren und zu verfolgen. «Wenn wir zusammenspannen, sind wir stärker», könnte das politische Motto der Schweiz lauten. Denn in vielen Fällen haben die Bewohnerinnen und Bewohner Mitteleuropas dies getan und die besten Ideen unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft übernommen und in den Alltag integriert. Bei gewissen Gerichten wie etwa Spätzle, Kebab, Sushi oder Pizza scheint uns die nationale Herkunft noch einigermassen klar bestimmbar zu sein, obwohl es auch hier schnell einmal zu Täuschungen und Fehlzuordnungen kommen kann.9 Wer aber brachte in Schweizer Landen zum ersten Mal den Dill zum Lachs? Welcher Gedanke wurde an welcher Stelle der Welt zum ersten Mal gedacht? Wodurch war er inspiriert und wer war mit dabei? Die Frage nach dem Ursprung von Entwicklungen führt in ein schwer durchschaubares Geflecht aus Zusammenhängen. Aus dem permanenten Prozess von Austausch, Verständigung und Vernetzung unterschiedlicher Interessen ergeben sich immer wieder modifiziert konkrete, gerechte und effiziente Entscheidungen. Auf den Schultern von Riesen fragen wir schelmisch: «Wer hats erfunden?».

      Die Schweizer! Natürlich. Bleibt die Frage, wer damit gemeint ist. Wer gehört dazu, wer nicht, wer bringt was ein, wer gestaltet wie mit, wer belastet, wer beglückt, ab wann und für wie lange? Hannah Arendt macht in «Wir Flüchtlinge» darauf aufmerksam, dass es bei Migrationsbewegungen keine klaren Grenzen gibt zwischen denen, die schon da sind, und denen die kommen, um zu bleiben; zwischen denen, die weggehen, und denen, die nur kurz zu Besuch sind.10 Es ist eine Fiktion, davon auszugehen, dass neue Umstände nur die einen betreffen und die anderen nicht. Vielmehr sind alle schon längst mittendrin und mit dabei, sich umzustellen, anzupassen, einzurichten und zu verändern, wenn noch darüber verhandelt oder lamentiert wird, dass die Bereitschaft zur Veränderung fehle. Dass sich die Dinge fortlaufend wandeln, können wir nicht verhindern. Es bleibt nicht alles beim Alten, ob wir das erfreulich finden oder nicht. Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet, welche Veränderung wünschbar und wie das Gewünschte umzusetzen ist. Übertragen auf Migration bedeutet es, dass wir die nationale, regionale und internationale Mobilität gleichzeitig als Faktum unserer Welt und als treibende Kraft von tiefgreifenden Umwandlungen anerkennen und uns der Frage zuwenden müssen, wie wir diese Prozesse intelligent und fair gestalten können.

      MUT ZUM UMDENKEN

      Das vorliegende Buch fragt nach konkreten Vorschlägen für eine offene, wohlwollende und prosperierende Schweiz. Es mischt sich damit ein in einen Diskurs über Migration, der heute ebenso von Ängsten und Befürchtungen geprägt ist wie von Idealisierung. Der Diskurs über Zuwanderung ist in vieler Hinsicht blockiert. Die Meinungen sind gemacht. Für sachliche Argumente, objektive Informationen oder neue Ideen gibt es wenig Spielraum. Um aus dieser diskursiven Sackgasse herauszukommen, braucht es einen Schritt zurück oder einen zur Seite, vermutlich sogar einen Sprung über den eigenen Schatten. Wir müssen uns zuerst von den vielen «Frames» lösen, die unsere Denkweise prägen. Wie der Linguist George Lakoff aufzeigte, wirken solche überwiegend unbewusst vermittelten Basisvorstellungen auf unsere Wahrnehmung der Realität, indem sie gewisse Eigenschaften stärker in den Fokus nehmen und andere verschwinden lassen.11 Ob wir es wollen oder nicht, wir setzen uns bestimmte Brillen auf, um die Realität überhaupt wahrnehmen zu können. Der Prozess des «Framing» bringt oft eine Metapher hervor, die allein einen grossen Teil der Realität zu erklären vermag. Die Schweiz sei ein «Boot», die Mobilität eine «Welle», das Land ein «Zu-Hause». Diese sprachlichen Bilder sind mächtig, sie prägen unsere Realität und wie wir sie wahrnehmen.

      «Frames» gehören zur Sprache, zur Kommunikation. Sie bilden unser Vokabular, um Herausforderungen zu identifizieren und Ansätze zu formulieren. Um den Möglichkeiten des Migrationslands Schweiz gerecht zu werden, sollten wir den Sprachgebrauch kritisch hinterfragen. Wie wäre es, wenn wir jegliche wasserbasierten Analogien in der Migrationspolitik wie Fluss, Welle, Überschwemmung oder Tsunami konsequent in Frage stellten? Würden wir langsam anfangen, anders, und vermutlich angemessener, über Mobilität zu diskutieren?

      Voraussetzung für dieses Umdenken ist Mut. Es braucht politischen Mut, um auf zu einfache Muster zu verzichten und konstruktiv an Lösungen zu arbeiten. Es braucht den Mut aus der Wissenschaft, sich dem öffentlichen Diskurs zu widmen. Erkenntnisse sind erst dann gesellschaftlich nützlich, wenn sie von einer Vielfalt engagierter Akteurinnen und Akteure weitergetragen werden. Und es braucht vor allem Mut von uns allen, die wir am Projekt Schweiz und am Projekt Weltgemeinschaft teilnehmen. Alle sind aufgefordert, aus ihrer Komfortzone rauszugehen, sich zu erklären und auf andere Meinungen einzugehen.

      ANGEMESSENE, TRAGFÄHIGE UND TRAGBARE LÖSUNGSANSÄTZE

      Dieses Buch leistet einen Beitrag zu dieser Debattenkultur. Es versammelt Stimmen, die möglichst unaufgeregt, eigenständig und zuversichtlich Antworten entwickeln. Wie lässt sich die Schweiz im Hinblick auf Migration zukunftsfähig gestalten? Was ist zu tun, um die humanitäre Tradition und das Interesse an Prosperität wirksam zu verbinden und die Schweiz weiterhin als solidarische und starke zu verwirklichen? In diesem Buch machen Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik Vorschläge. Ausgehend von ihrer Kenntnis, ihrer Forschung und Erfahrung formulieren sie in ihren Essays konstruktive Standpunkte und konkret umsetzbare Handlungsmöglichkeiten. Dabei sind sich die Autorinnen und Autoren nicht in jedem Fall einig. Manche Vorschläge stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, einzelne widersprechen sich sogar. Was die hier versammelten Texte verbindet, ist der Versuch, auf aktuell drängende Probleme angemessene, tragfähige und möglichst für alle tragbare Lösungen zu finden.

      Das ist der gemeinsame Nenner der am Buch Mitwirkenden: der Wille, zusammen möglichst frei von Dogmen, Programmen und Vorurteilen nach Lösungen zu suchen, die Grausamkeit und Leid reduzieren und Freiheit, Zuverlässigkeit, Wachstum und Solidarität stärken. Diese minimale und hier nur allgemein skizzierte gemeinsame Grundlage legen wir den Leserinnen und Lesern mit diesem Band zur kritischen Prüfung vor, in 15, teils divergierenden Konkretisierungen. Wir möchten an dieser Stelle einen 16., im Titel nicht genannten, aber für eine zukunftsfähige und offene Schweiz in unseren Augen unverzichtbaren Vorschlag ergänzen: Jeder ernsthaft vorgebrachte Beitrag zur Lösung sollte wohlwollend geprüft und in die Lösungsfindung miteinbezogen