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Migrationsland Schweiz


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ist somit ein Zwischenstatus entstanden zwischen Staats- und Weltbürger, etwa «denizen»6 oder Wohnbürger7 genannt. Unter diesem Status wird ein automatischer Zugang zu sozialen Rechten auch für Nicht-Staatsbürger nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer verstanden.8 Gleichzeitig werden aber die entscheidenden Weichenstellungen gerade im Bereich der Sozialpolitik von den Staatsbürgerinnen und -bürgern getroffen, wesentliche Teile der Betroffenen also ausgeschlossen. Das kann politisch langfristig nicht funktionieren. Immer mehr Menschen nutzen die Sozialwerke eines Landes nur für eine begrenzte Zeit, immer weniger Menschen nehmen deren Leistungen ein Leben lang in Anspruch. Die Rechte, die wir heute als Bürger und Bewohner eines Staates auf den unterschiedlichsten Ebenen haben, können daher nicht mehr als Einheit gedacht werden. Wir betonen die staatsbürgerliche Ebene der Zugehörigkeit überaus stark, nehmen die globale Ebene der bürgerlichen Freiheiten als selbstverständlich und vernachlässigen die Ebene der sozialen Rechte.

      Eine unmittelbare und vollständige Gleichstellung aller Bewohnerinnen und Bewohner hat politisch keine Chancen, wie verschiedene Abstimmungen gezeigt haben. Sie dürfte aber auch gar nicht sinnvoll sein, da neu ankommende und nur zeitlich begrenzt hier lebende Menschen weder das gleiche Interesse an der lokalen Gemeinschaft haben, noch die gleiche Verantwortung tragen müssen. Sinnvoll wäre eine Abstufung, sodass die Menschen nach einer bestimmten Zeit bei lokalen Belangen, in die man sich am schnellsten einlebt, mitbestimmen können, in einem weiteren Schritt bei kantonalen und in einem dritten bei nationalen. Dies würde dem Staatsaufbau entsprechen, aber auch eine sinnvolle Entwicklungslinie vom konkreten Umfeld zu zunehmend abstrakteren Ebenen der Politik und der Gesellschaft definieren, was zugleich den Lernprozess fördern würde.

      Menschen, die einige Jahre in einer Gemeinde gelebt haben, würden gemäss diesem Modell das lokale Stimm- und Wahlrecht erhalten. An Veranstaltungen würde ihnen das politische System auf lokaler Ebene vorgestellt. In enger Zusammenarbeit mit lokalen Parteien, Verbänden, Vereinen und Medien könnte zum Beispiel ein Jahrmarkt der Demokratie kreiert werden, wo sich diese Organisationen vorstellen und den Neuwählerinnen und -wählern die Möglichkeiten der Mitarbeit aufzeigen würden. Der zweite Schritt wäre eine Ausweitung auf die kantonale Ebene, wo in die Funktionsweise dieser Behörden, Parteien und Organisationen eingeführt würde, der dritte eine Ausweitung auf die nationale Ebene. Exkursionen mit aktiven Politikerinnen und Politikern, Führungen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern in ihrem Betätigungsfeld, Kurse zur demokratischen Bildung und weitere Anlässe, zu denen die neu Wahl- und Stimmberechtigten speziell eingeladen werden, sollten das Angebot ergänzen.

      DEMOKRATIE GRENZENLOS

      In einer Welt, die immer stärker von Mobilität geprägt ist, in einer Welt, in der immer mehr Menschen in zwei oder mehr Staaten Teile ihres Lebens verbringen, wird man sich aber auch Gedanken darüber machen müssen, ob der Nationalstaat als Aktionsradius der Demokratie genügt. Das Versprechen dieses Nationalstaats ist die exklusive Deckungsgleichheit von Gesellschaft, Politik und Territorium, also von sozialem, politischem und geografischem Raum. Nun haben wir es spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei einer zunehmenden Anzahl grenzüberschreitender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Prozesse mit einer Emanzipation des sozialen Raums vom geografischen Raum zu tun. Sozialräume und geografische Räume stimmen daher immer weniger überein. Die geografischen Räume rücken durch Technik und Kommunikation näher zusammen; gleichzeitig werden die sozialen Räume einerseits komplexer, stapeln sich quasi auf; das heisst, es finden sich auf engstem Raum unterschiedlichste Lebensformen und soziale Netzwerke. Andererseits weiten sich die sozialen Räume auch aus, bilden geografisch nicht mehr verbundene Einheiten. Räumlich weit auseinander lebende Communities stellen durch die Mittel des Transports und der Kommunikation einen gemeinsamen sozialen Raum her.9 Wenn soziale Interaktionen aber losgelöst vom geografischen Raum stattfinden können, ist örtliches Zusammensein keine zwingende Bedingung mehr für gemeinsame politische Rechte. Es wäre zu überlegen, wie staatsbürgerschaftliche Modelle jenseits des nur flächenräumlich gedachten Staats funktionieren könnten.

      Wenn Staatsbürger mit zwei oder mehr Pässen in verschiedenen Staaten ein Mitspracherecht haben, fördert das in einem ersten Schritt sicherlich die gegenseitige Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit politischen Prozessen in Ländern, mit denen man eine gewisse Schnittmenge an gemeinsamen Bürgerinnen und Bürgern hat. Mitreden und mitentscheiden ist dann nicht mehr an den Wohnsitz gebunden, sondern auch möglich, wenn man an anderen Orten der Welt lebt. Man beteiligt sich dann aus räumlicher Distanz, aber dennoch mit einem Gefühl der Zugehörigkeit am politischen Prozess.

      Zweitens wären in die demokratischen Entscheidungsprozesse Betroffene unabhängig von ihrer staatlichen Zugehörigkeit einzubringen, sofern sie sich nicht nur temporär in diesen Regionen aufhalten, sondern über längere Zeit dort leben. In einem dritten Schritt wären demokratische Entscheidungsprozesse über die nationalstaatliche Ebene hinaus in Gang zu setzen. Die EU hat mit ihrer Europäischen Bürgerinitiative, die im schweizerischen Sprachgebrauch eher einer Petition entspricht, ein solches Instrument etabliert, das aber noch nicht wirklich als Instrument demokratischer Mitbestimmung funktioniert.10 Solche Bestrebungen müssten ausgebaut werden, auch auf der Ebene grenzüberschreitender regionaler Entscheidungsprozesse, da diese häufig die Bewohnerinnen und Bewohner einer Region betreffen, auch wenn sie in verschiedenen Staaten leben.

      Wäre es also denkbar, sich die Ausübung demokratischer Rechte in Zukunft neu vorzustellen? Einerseits würde es selbstverständlicher, dass Menschen in zwei oder sogar mehr Staaten mitbestimmen dürfen, weil eben immer mehr Menschen zwei oder mehr Pässe besitzen. Das existiert als Möglichkeit schon heute, wäre also lediglich eine quantitative Ausweitung bereits bestehender demokratischer Rechte.

      Zweitens aber würden vermehrt Menschen Mitspracherechte bekommen, die nicht Bürgerinnen und Bürger, aber Bewohnerinnen und Bewohner eines bestimmten Territoriums sind. Dies hingegen wäre eine qualitative Ausweitung demokratischer Rechte, weil sie an vielen Orten noch nicht existiert. Einige Leute dürften angesichts eines solchen Szenarios eine unkontrollierbare Basisdemokratie befürchten. Andere hingegen würden eine Ausweitung der Zivilgesellschaft erkennen, die ein dringend benötigtes Gegengewicht demokratischer Kontrolle schaffen könnte, welches das heutige Ungleichgewicht zwischen faktischer Globalisierung fast aller Lebensbereiche einerseits und staatlicher Begrenzung der Entscheidungsmechanismen andererseits korrigieren und demokratisch verfassten Gremien wieder mehr Macht einräumen würde.

      Doch um dieses Ungleichgewicht wirklich beheben oder zumindest verkleinern zu können, wären wohl noch radikalere Schritte der Demokratisierung zu denken, nämlich die Ausweitung demokratischer Entscheide über einzelne Staaten hinaus, also die gemeinsame demokratische Einflussnahme von Menschen, die in mehreren Staaten leben.

      Warum sollte Demokratie, einst aus der Polis geboren und dann lange Zeit auf die Ebene des Nationalstaats beschränkt, im Rahmen der Globalisierung nicht in der Lage sein, einen weiteren Schritt zu machen und sich auf neuen Ebenen zu verankern? Und wer, wenn nicht die Schweiz mit ihren langen direkt-demokratischen Traditionen, wäre der richtige Anschieber und Taktgeber, um solche Entwicklungen gemeinsam mit anderen Staaten anzustossen? Wäre der Schritt so viel mutiger als die demokratischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in einem Umfeld, das zum überwiegenden Teil noch völlig undemokratisch funktionierte? Und wäre es nicht ein folgerichtiger weiterer Schritt, um der Demokratie auch im Zeitalter der Globalisierung und der Migration die ihr gebührende Stellung zu sichern?

      Walter Leimgruber ist Professor für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migration sowie gesellschaftliche Mechanismen der Integration und Ausgrenzung.

      VORSCHLAG 2

      JOACHIM BLATTER, CLEMENS HAUSER, SONJA WYRSCH

      Fast alle Schweizerinnen und Schweizer sind stolz