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Migrationsland Schweiz


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erscheint eine Berücksichtigung der realen Inklusivität notwendig. Eine alleinige Bewertung auf der Basis solcher Zahlen ist aber auch problematisch, weil die reale Inklusivität auch durch Faktoren beeinflusst werden kann, für die nicht die Demokratie des Landes verantwortlich ist – zum Beispiel die Staatsbürgerschaftsgesetze der Herkunftsländer.

      Der IMIX berücksichtigt zwei Möglichkeiten, wie Demokratien Immigrantinnen und Immigranten inkludieren können: durch die Einbürgerung oder durch die Einführung eines Ausländerstimmrechts – angemessener wäre der Begriff «Bewohnerinnenstimmrecht». Obwohl wir der Ansicht sind, dass es für das Ausländerinnen- und Ausländerstimmrecht ebenso viele gute demokratietheoretische Argumente gibt wie für die Einbürgerung, wurde im IMIX die Einbürgerung doppelt gewichtet. Dies zum einen, weil im theoretischen und praktischen Diskurs Letzteres immer noch als Königsweg gilt. Zum anderen, weil es angemessen erschien, im Zweifelsfall eine eher konservative Position einzunehmen, um die Akzeptanz des IMIX und seiner Ergebnisse zu stärken. Für die beiden Perspektiven und die beiden Möglichkeiten der Inklusion wurden dann konkrete Indikatoren festgelegt, und für die meisten Mitglieder der Europäischen Union und für die Schweiz Daten gesucht.

      Inklusivität europäischer Nationalstaaten in Bezug auf Immigrantinnen und Immigranten.

= Durchschnitt. Quelle: Blatter, Schmid, Blättler, 2016 (siehe Anm. 3).

      Insgesamt ergab sich folgendes Bild: Auch in den bestentwickelten Demokratien Europas sind wir von einem universellen Wahlrecht noch weit entfernt. Einem grossen Teil der erwachsenen Wohnbevölkerung wird bis heute das Stimm- und Wahlrecht verwehrt. Dies lässt sich unabhängig davon feststellen, ob wir die Gesetze der Länder analysieren oder die De-facto-Inklusivität betrachten. Es gibt zwischen den Ländern aber deutliche Unterschiede: Skandinavische Länder sowie Belgien und die Niederlande sind besonders inklusiv, wohingegen die deutschsprachigen Länder, insbesondere auch die Schweiz, sich als besonders exklusiv erweisen. Die hohe Exklusivität der Schweiz lässt sich dabei nicht nur damit erklären, dass das Land viele Migranten anzieht und diese im Rahmen der bilateralen Verträge auch einwandern liess. Die Schweiz schneidet auch bei der Vermessung ihrer De-jure-Inklusivität sehr schlecht ab, was zeigt, dass sie Einwandernde nicht oder nur sehr zögerlich inkludiert beziehungsweise inkludieren will.

      Auch Deutschland schneidet beim IMIX kaum besser ab als die Schweiz. Das leicht bessere Abschneiden resultiert aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, denn alle EU-Länder müssen den Bürgerinnen und Bürgern anderer EU-Länder auf der kommunalen Ebene das Wahlrecht zugestehen.3 Allerdings gab es in Deutschland in den letzten Jahren bürgerschaftliche Initiativen, die darauf ausgerichtet sind, die demokratischen Defizite, die durch Exklusion von Migranten und anderen Betroffenen entstehen, zu thematisieren und sie etwas zu reduzieren. Zwei dieser Initiativen stellen wir im Folgenden vor.

      FREIBURGER «WAHLKREIS 100 %»

      Bei den Kommunalwahlen sind in Deutschland auch ausländische Staatsangehörige wahlberechtigt, allerdings nur jene, die einen EU-Pass vorzeigen können. Für sie gelten dieselben Voraussetzungen wie für deutsche Staatsangehörige: Nach drei Monaten gemeldetem Wohnsitz in einer Kommune erhalten sie ihre Wahlbenachrichtigung und können am Wahlsonntag ihre Stimme für die Parlamente der Kommunen und Kreise abgeben. Der überwiegende Teil der ausländischen Staatsangehörigen in Deutschland kommt aber nicht aus anderen EU-Ländern. Sie mögen drei Monate oder 30 Jahre im Gemeinwesen gelebt haben, ihre Stimme ist nicht gefragt und zählt nicht. Dies bedeutet, dass in der Bundesrepublik Deutschland 7,8 Millionen der erwachsenen Wohnbevölkerung kein Wahlrecht besitzen.

      Im Südwesten der Bundesrepublik allerdings gibt es seit 14 Jahren eine Ausnahme: Neben dem offiziellen Wahlkreis werden in einem zusätzlichen Wahlkreis, dem Freiburger «Wahlkreis 100 %», die nicht-wahlberechtigten 19 000 Migrantinnen und Migranten zu einer symbolischen Stimmabgabe aufgefordert. Nach demselben Verfahren und mit denselben Parteien und Kandidaten des offiziellen Wahlkreises können die Migrantinnen und Migranten mit ihrer symbolischen Stimmabgabe am Wahlsonntag ihr Votum für ein gleichberechtigtes Wahlrecht und für demokratische Teilhabe zum Ausdruck bringen. Der «Wahlkreis 100 %» bringt sich mit Strassenständen, Wahlplakaten, Veranstaltungen, Wahlprüfsteinen, Kinospots und aktiver Medienarbeit in den Wahlkampf ein. Bei vier Wahlen in den Jahren 2002 bis 2014 konnten bis über 1000 Menschen zu einer symbolischen Stimmabgabe in den 100 %-Wahllokalen in Freiburg begrüsst werden.4 Parallel zur offiziellen Wahl wählten nicht-wahlberechtigte Migrantinnen und Migranten ihren symbolischen Gemeinderat oder Bundestag. Die abgegebenen Stimmen wurden den gewählten Bundestagsabgeordneten feierlich als «Wählerauftrag» übergeben, und die von den Migranten gewählten kommunalen Vertreter wurden zu einer symbolischen 100 %-Gemeinderatssitzung einberufen, um politische Partizipation und die Einführung des kommunalen Wahlrechts öffentlich zu debattieren.

      Wahlberechtigte mit deutschem und EU-Pass sind ebenfalls aufgerufen, in den 100 %-Wahllokalen mit ihrer Stimme eine Wahl zu treffen: für oder gegen die Einführung des kommunalen Wahlrechts aller Bürgerinnen und Bürger einer Kommune – unabhängig vom Pass. Denn die demokratische Beteiligung liegt nicht nur im Interesse der ausgeschlossenen Migrantinnen und Migranten, sondern ist ein vitales Interesse einer sich demokratisch verstehenden Gesellschaft und braucht die Unterstützung derer, die zur anerkannten Wahlbevölkerung gehören.

      Die Frage der Partizipation ist ein gemeinsames und einendes Thema für alle Migrationsgruppen – jenseits ethnischer und nationaler Zuschreibungen und Unterschiede. Schon die Zusammensetzung der kleinen Gruppe von 25 registrierten Vereinsmitgliedern des Freiburger «Wahlkreis 100 %›» spiegelt die selten breite Diversität einer Migrantenselbstorganisation. Staatsangehörige aller Kontinente zählen dazu, 18 haben einen Migrationshintergrund und stammen aus 17 verschiedenen Ländern. Atheisten sind genauso vertreten wie praktizierende Gläubige, deutsche ebenso wie eingebürgerte, EU- sowie Nicht-EU-Staatsangehörige. Die Bandbreite der Lebenssituationen reicht vom geduldeten Asylantragstellenden aus Afghanistan bis zum Universitätsprofessor aus Mexiko.

      Seit 2008 ist der Verein «Wahlkreis 100 %» in Kontakt mit Organisationen in der Schweiz, mit der Stimmrechtsinitiative in Basel und mit gewählten Migrantinnen und Migranten («Gewählte Stimme»). Sechs Schweizer Kantone haben mittlerweile eine Wahlbeteiligung von Migrantinnen und Migranten eingeführt. Das ist ermutigend und europaweit bereits eher die Regel als die Ausnahme: 15 von 28 EU-Staaten – plus Norwegen, Island und eben zu Teilen auch die Schweiz – praktizieren heute eine unterschiedlich ausgeprägte, aber gesetzlich geregelte Wahlbeteiligung von Nicht-EU-Staatsangehörigen auf der kommunalen Ebene, einige sogar bei regionalen und nationalen Wahlen. Das leuchtende Beispiel allerdings bleibt das weit entfernte Neuseeland. Dort werden Migrantinnen und Migranten nach einem Jahr Aufenthalt demokratisch integriert und sind an allen Wahlen wahlberechtigt.

      Die Kooperationen und die Vernetzung, die der Freiburger «Wahlkreis 100 %» aktiv sucht und eingeht, ergeben ein dichter werdendes Netz, das Migrantenvertretungen und Organisationen in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Bremerhaven sowie in Freiburgs Partnerstädten Padua und Granada, Strassburg und Florenz verbindet. Im Rahmen eines EU-Projekts der Jahre 2014/15 mit fünf europäischen Partnern entwickelte sich das 100 %-Modell zu einem kleinen Exportschlager. Anlässlich der Kampagne «Hier lebe ich, hier wähle ich» tauchten an den Projektorten in Andalusien, nördlich von London und in der Toskana ähnliche symbolische Wahlurnen auf wie in den Strassen von New York bei den Bürgermeisterwahlen im November 2013. In Deutschland hatten in Berlin 2011 und in Sachsen-Anhalt 2016 symbolische Wahlen stattgefunden.

      Würde das 100 %-Modell als Form der politischen Aktion zur Erreichung eines gleichberechtigten Wahlrechts in der Schweiz angewandt, wäre dies genaugenommen eine Art Reimport. Denn als die «New York Times» am 3. März 1957 «First Votes Cast by Swiss Woman» titelte, bezog sie sich auf 33 nicht-wahlberechtigte Bewohnerinnen des Walliser Dorfes Unterbäch, die am Abstimmungstag unter gewaltiger Medienbeachtung ihre symbolische Stimme an der Wahlurne abgaben und damit ihre politische Beteiligung einforderten. Es sollte zwar noch 14 Jahre dauern, bis ihre Stimmen an der Wahlurne auf Bundesebene