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Migrationsland Schweiz


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Gesellschaft bietet heute grundsätzlich viele Möglichkeiten der Partizipation: Man wird Mitglied in Vereinen, man arbeitet freiwillig in Institutionen, man tut mit in Schul- oder Gemeindekommissionen, in denen häufig keine Beschränkungen bezüglich nationaler Zugehörigkeit bestehen. All dies geschieht auch, doch in viel zu kleinem Ausmass. Die Gründe dafür sind das Unwissen der Einen und die Untätigkeit der Anderen: Viele, die in die Schweiz einwandern, kennen die Mechanismen der Gesellschaft zu wenig, weil es in ihren Herkunftsländern anders läuft. Die wesentliche Rolle von Vereinen etwa ist eine schweizerische Eigenheit, die vielerorts fehlt. Die demokratischen Mitsprache- und Mitgestaltungsrechte sind oft nicht markiert als offen für alle, sondern werden in der Wahrnehmung der Menschen automatisch mit der Staatszugehörigkeit verbunden.

      Die Einheimischen ihrerseits tun wenig dafür, das Wissen um das Funktionieren dieser Gesellschaft zu vermitteln. Einerseits ist es ihnen so vertraut, dass sie gar nicht realisieren, dass es anderen unvertraut ist, andererseits gehen sie von einer Hol-, nicht von einer Bringschuld aus: Sie sind der Ansicht, die anderen müssten sich halt informieren. Das ist aber im feinmaschigen Netz schweizerischer Assoziierungen gar nicht so einfach. Man braucht ein grosses Wissen, um herauszufinden, wo man mittun kann, welche Kommission neu bestellt wird. Hier wäre der erste Ansatzpunkt für die Herausbildung von «citoyenneté» auch der Zugewanderten: Es gilt, diesen unser System zu erklären und sie in unser politisches Netzwerk einzuführen, so wie wir damals am Mittagstisch, in der Schule, am Arbeitsort eingeführt worden sind.

      «Warum sollen wir das alles tun, was bringt uns das?», lautet eine häufige Frage zu dieser Aufforderung. Der erste Grund für eine breite politische Partizipation ist ein ganz praktischer: Ohne dieses Einbinden möglichst vieler Bewohnerinnen und Bewohner wird das System Schaden nehmen. Wenn immer mehr Leute abseitsstehen, wenn immer mehr Menschen sich nicht für die allgemeinen Belange interessieren und engagieren, ist ein politisches System, das derart föderalistisch, partizipativ und subsidiär wie das schweizerische aufgebaut ist, nicht mehr funktionsfähig. Wir brauchen die Köpfe und Ideen von möglichst vielen Bewohnerinnen und Bewohnern, um all die Aufgaben zwischen Vereinen, Institutionen, Schulen, Kommissionen, Gemeinderäten, kantonalen Interessensorganisationen und gesamtschweizerischen Verbänden bewältigen zu können. Schon heute klagen viele Gemeinden darüber, dass sie kaum noch Personen finden für ihre Ämter; Vereine und gemeinnützige Organisationen sehen sich mit Mitgliederschwund konfrontiert.

      Hier gilt es aktiv zu werden: Gemeinden, Verbände, Kantone sollten alle Bewohnerinnen und Bewohner ohne Schweizer Pass ansprechen und sie über die Möglichkeiten der Partizipation in verschiedenen Gremien informieren. Sie sollten Veranstaltungen organisieren, um die Interessierten in die Funktionsweise der Institutionen einzuführen, und sie sollten sie aktiv ermutigen, sich zu engagieren und sich für Ämter und Aufgaben zu bewerben.4 Viele Menschen, die seit langem hier leben, sind mit der Funktionsweise von Gemeinden, Ämtern und Organisationen wenig vertraut, weil sie sie nie wirklich kennengelernt haben. Angebote, die staatsbürgerliches Wissen anschaulich und praxisnah vermitteln, könnten hier Abhilfe schaffen. Auch in den Schulen müsste der staatsbürgerliche Unterricht wieder eine grössere Rolle spielen.

      Neben diesen eher pragmatischen Gründen für eine politische Einbindung der Migrantinnen und Migranten gibt es aber auch prinzipielle. Es stellt sich die Frage, ob ein politisches System, in dem grosse Teile der Bevölkerung von der Mitsprache ausgeschlossen sind, als Demokratie bezeichnet werden kann. Aktuell ist gut ein Viertel der Bevölkerung ohne politische Rechte. Gibt es eine Grenze, ab der eine Gesellschaft nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden kann? Dazu liegen meines Wissens keine Arbeiten vor, die eine Zahl liefern würden. Aber demokratietheoretisch lässt sich kaum begründen, dass wesentlichen Teilen der Bevölkerung entsprechende Rechte vorbehalten werden. Demokratie basiert auf einer universalistischen Logik, nationalstaatliche Zugehörigkeit hingegen auf einer exkludierenden. Hier liegt ein wesentlicher Widerspruch nationalstaatlicher Demokratie, der sich mit der zunehmenden Mobilität immer grösserer Gruppen stärker akzentuiert.

      Die demokratische Entwicklungsgeschichte der Schweiz ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, denn sie ist geprägt vom langwierigen, aber doch erfolgreichen Einschluss immer weiterer Gruppen. Waren in einer frühen Phase nur Männer, die an einem Ort über Heimatrechte und über einen Mindestbesitz verfügten, mitspracheberechtigt, weitete sich dies mit der Zeit auf alle erwachsenen Männer aus.1848 waren allerdings die nichtchristlichen Männer, das hiess damals praktisch ausschliesslich Männer jüdischen Glaubens, noch ausgeschlossen; sie wurden erst 1866 (auf Druck Frankreichs) als Bürger anerkannt. Es dauerte in der Schweiz dann überaus lange, bis die weibliche Hälfte der Bevölkerung integriert wurde, wie wir wissen (es waren übrigens auch hier die Westschweizer Kantone, die als erste die Trendwende vollzogen).

      Seit 1975, vier Jahre nach dem Frauenstimmrecht, dürfen auch Auslandschweizerinnen und -schweizer stimmen und wählen. Bis zur Briefwahl konnten das aber nur wenige wirklich nutzen. Der Bundesrat hatte sich lange gegen diese Möglichkeit gewehrt, weil er sonst auch Ausländern in der Schweiz gleiche Rechte hätte zugestehen müssen. Daher wurde die Briefwahl erst 1989 eingeführt. Seither können Ausländerinnen und Ausländer auch hierzulande an Wahlen ihrer Heimatländer teilnehmen, seit 1994 auch direkt in Botschaften und Konsulaten.

      Schliesslich hat man auch die Altersgrenzen verschoben, um jüngeren Menschen die Partizipation zu ermöglichen: 1997 wurde das Stimm- und Wahlrechtsalter auf 18 Jahre gesenkt.

      Ein weiteres Argument für ein ausgeweitetes Stimmrecht liegt in der Erfahrung, dass eine breit abgestützte Entscheidungsfindung eine Gesellschaft friktionsärmer, im Idealfall harmonischer funktionieren lässt. Fehlende Partizipation von immer grösseren Gruppen wird die Demokratie mit der Zeit beeinträchtigen, weil diese Gruppen anfangen, ihre Interessen auf andere Art durchzusetzen und weil innerhalb des Systems Partikulärinteressen die Oberhand gewinnen. Im Extremfall entstehen Parallelgesellschaften, wie wir sie aus anderen Ländern bereits kennen, mit all ihren verheerenden Folgen. Politische Partizipation möglichst aller, die von Entscheiden betroffen sind, ist also kein Gnadenakt für diejenigen, denen die Mitsprache gewährt wird – und sie war es auch 1975 nicht für die Frauen, wie im Wahlkampf vor der Abstimmung oft behauptet wurde. Vielmehr ist politische Partizipation möglichst aller von direktem Interesse für das Staatswesen und die Gesellschaft.

      Übrigens ist es interessant, dass gegen die politische Partizipation von Ausländern häufig die gleichen Vorbehalte vorgebracht werden wie damals bei den Frauen. Widerspricht es auch dem Naturell der Ausländer, sich politisch zu betätigen, wie es damals von den Frauen behauptet wurde? Sind auch sie, wie damals die Frauen, so zufrieden mit dem Staat und der Gesellschaft, dass sie gar kein Interesse an einer Mitsprache haben? Sind sie einfach nur auf Arbeit und Verdienst, auf Freizeit und Konsum aus wie die Frauen damals angeblich auf Kinder, Küche und Kirche konzentriert waren? Ein weiteres häufig wiederkehrendes Argument besagt, die Zeit sei noch nicht reif dafür. Auch beim Frauenstimmrecht wurde immer wieder bemerkt, die Zeit sei noch nicht reif. Wann genau wäre sie bei den Frauen reif gewesen? Vermutlich etwa hundert Jahre vor der tatsächlichen Einführung.

      WELCHE RECHTE FÜR WEN, WELCHE MITSPRACHE FÜR WEN?

      Die bürgerlichen Rechte, die politischen Rechte und die sozialen Rechte bildeten seit dem Beginn des Sozialstaats die Trias der staatlichen Zugehörigkeit, erklärte Thomas H. Marshall in seinem berühmten, 1950 publizierten Essay.5 Doch heute verlaufen die Trennlinien ganz anders: Die politischen Rechte gehören den Staatsbürgern. Die bürgerlichen Rechte, die immer mehr zu universell geschützten Menschenrechten geworden sind, gehören allen, egal, welchen Status sie in einem Land haben, denn Rede-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind nicht an einen bestimmten legalen Status gebunden; viele grundlegende Rechte werden daher heute nicht mehr nur durch das Staatsbürgerrecht bestimmt, sondern auch durch Menschenrechtsvereinbarungen. Die sozialen Rechte wiederum gehören der Gruppe, die einen bestimmten, von der staatlichen Zugehörigkeit unabhängigen Aufenthaltsstatus besitzt. Wer über ein stabiles Aufenthaltsrecht verfügt, hat auf sozialer Ebene die gleichen Rechte wie ein Staatsbürger und ist im Hinblick auf AHV, Pensionskasse, Krankenkasse, Versicherungen, Arbeitslosenunterstützung, IV u. a. gleichgestellt. Alle diese Rechte waren ursprünglich geschaffen worden mit Blick auf die Staatsbürger,