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Migrationsland Schweiz


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da das Recht, Bürger oder Bürgerin eines Landes zu sein, lange Zeit exklusiv gedacht wurde. So versuchten internationale Normen und nationale Gesetzgebungen bis Mitte des 20. Jahrhunderts, doppelte Staatsbürgerschaft zu verhindern. In den letzten 20 Jahren hat sich dies stark geändert. Heute wird das Recht auf zwei oder mehr Pässe weltweit in immer mehr Ländern akzeptiert oder zumindest toleriert.2 In einigen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland, bleibt dieses Recht jedoch sehr umstritten. Die Schweiz gehört hier für einmal nicht zu den Nachzüglern, denn sie akzeptiert doppelte Staatsbürgerschaft bereits seit 1992. Heute besitzen über 10 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer und gut 73 Prozent aller Auslandschweizerinnen und -schweizer einen zweiten Pass. Allerdings wird dieses Recht auch in der Schweiz immer wieder in Frage gestellt. Bereits 2004 lancierte die SVP eine – letztlich erfolglose – Motion zur Abschaffung der Doppelbürgerschaft.3 Und erst jüngst forderten SVP-Politiker durch Vorstösse auf nationaler und kantonaler Ebene die Aufhebung des Rechts, gleichzeitig stimmberechtigter Bürger verschiedener Staaten zu sein.4

      In der Debatte um Doppelbürgerschaft wird von deren Gegnern immer wieder argumentiert, man könne nicht zwei Staaten gegenüber loyal sein; doppelte Staatsbürgerschaft unterminiere die Integration, den nationalen Zusammenhalt und die Demokratie.5 Die Befürworter hingegen betonen, dass die Akzeptanz doppelter Staatsbürgerschaft ein Willkommenszeichen gegenüber Zuwanderern sei, indem ihre Bindungen an das Herkunftsland anerkannt würden; sie erhöhe die Einbürgerungswilligkeit und befördere dadurch die politische Integration im Aufenthaltsland.6 Befürchtungen wie auch Hoffnungen, die mit doppelter Staatsbürgerschaft verbunden sind, beruhen häufig auf Spekulationen.

      Wie aber sieht es mit der empirischen Evidenz aus? Sind Doppelbürger tatsächlich weniger loyal gegenüber der Schweiz, identifizieren sie sich weniger mit ihr und beteiligen sie sich weniger politisch? Und wie sieht es mit dem transnationalen oder gar kosmopolitischen Engagement von Doppelbürgern aus? Aktuelle Studien, die auf Umfragedaten unter Schweizer Doppelbürgerinnen und -bürgern im In- und Ausland beruhen, liefern dazu aufschlussreiche Hinweise. Sie legen nahe, dass doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaft die politische Loyalität gegenüber diesen Staaten nicht schwächt. Im Gegenteil: Gerade auch aus einer transnationalen Perspektive bringt sie ein Mehr an Loyalität.

      EXKLUSIVE UND INKLUSIVE ZUGÄNGE ZUM STAATSBÜRGERSCHAFTSKONZEPT

      In der Debatte um doppelte Staatsbürgerschaft stehen häufig die Auswirkungen auf die politische und soziopsychologische Integration von Eingewanderten in ihr Aufenthaltsland im Mittelpunkt. Weniger prominent diskutiert, letztlich aber ebenso relevant sind die Konsequenzen für die Bindung an das Herkunftsland und das dortige Engagement. Wie man die Auswirkungen eines zweiten Passes auf Integration und Demokratie im Herkunfts- und im Aufenthaltsland bewertet, hängt eng mit der eigenen Vorstellung von nationaler Identität, Loyalität und Zugehörigkeit zusammen. Werden diese Konzepte singulär und exklusiv gedacht, geht man von einem Trade-off aus: Mehrfachzugehörigkeiten führen aus dieser Perspektive zwangsläufig zu weniger Identifikation und Beteiligung im Aufenthaltsland oder zu einer entsprechend reduzierten Bindung an das Herkunftsland. Doppelte Staatsbürgerschaft ist aus dieser Sicht eine Form von Bigamie, die durch die vorhandene «Exit-Option» Patriotismus untergräbt. Auch rationalistische und weniger identitätsbezogene Argumente bauen darauf auf, dass sich Individuen aufgrund ihrer begrenzten Ressourcen nur in einem Land sinnvoll politisch beteiligen könnten; Mitglieder mehrerer politischer Gemeinschaften konzentrierten ihre Anstrengungen in der Regel auf ein Land und könnten ihrer Verantwortung zwei Ländern gegenüber nicht gerecht werden.7 Doppelte Staatsbürgerschaft verringert aus dieser Sicht die politische Identität und das Engagement, da Aufmerksamkeit, Motivation und Loyalität auf zwei Länder aufgeteilt werden müssten. Diese Perspektive kann als traditionell bezeichnet werden, da sie – ganz im Sinne des Nationalstaatenkonzepts – exklusive Zugehörigkeit und daher eine Loslösung vom Herkunftsland und vollständige Assimilation im Aufenthaltsland erwartet.8

      Die Befürworter doppelter Staatsbürgerschaft argumentieren anders. Sie gehen davon aus, dass viele Menschen heute multiple soziale Identitäten haben und sich transnational engagieren und binden können. Mehrfachzugehörigkeiten müssten deshalb keine negativen Auswirkungen haben – im Gegenteil: Wird die Vergangenheit der Eingewanderten anerkannt, die Bindung an ihr Herkunftsland akzeptiert, so sei dies ein wichtiges Willkommenszeichen des Aufenthaltslands und ein Akt der Anerkennung, was wiederum Zugehörigkeitsgefühle und politisches Engagement fördere.9 Die Möglichkeit, in mehreren Ländern vollwertiges Mitglied zu sein, erhöhe das Selbstwertgefühl Migrierender und damit das Interesse und die Bindung an das Aufenthaltsland, ohne dass ihr Engagement im Heimatland reduziert würde.10 Aus dieser transnationalen Perspektive hat doppelte Staatsbürgerschaft keinen negativen Einfluss auf die politische Integration, weder im Aufenthaltsnoch im Herkunftsland. Sie steigert vielmehr Identifikation und Partizipation in beiden Ländern.11

      Eine dritte Perspektive nimmt das Potenzial doppelter Staatsbürgerschaft und mögliche Konsequenzen für die Demokratie jenseits nationaler Grenzen in den Blick. Der multiple Status von Personen mit Mehrfachzugehörigkeiten relativiere die Bedeutung nationaler Grenzen und könne daher Grundlage für komplementäre, kosmopolitische Orientierungen sein. Tourismus und global verbreitete Medien ermöglichen den Kontakt mit unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und politischen Akteuren, doch bei Migrierenden, die freiwillig oder unfreiwillig ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlegen, ist dieser Kontakt viel intensiver. Potenziell führen ihre transnationalen sozialen Kontakte und Netzwerke daher auch zu mehr kosmopolitischen Einstellungen und Identitäten. Das müssen sie aber nicht in jedem Fall: Zwei Pässe sind häufig auch schlicht eine praktische Sache, und deren Besitz muss nicht zwangsläufig mit tieferen Zugehörigkeitsgefühlen verbunden sein. Ob Doppelbürger eine kosmopolitische Avantgarde darstellen, ist daher letztlich eine offene Frage.

      EMPIRISCHE EVIDENZ

      Durch Studien belegt ist hingegen, dass die Akzeptanz doppelter Staatsbürgerschaft im Aufenthaltsland mit tieferen Hürden für eine Einbürgerung einhergeht und dadurch zu höheren Einbürgerungsraten führt.12 Erst jüngst konnte eine Studie für die Schweiz auch nachweisen, dass Einbürgerung die politische Integration von Eingewanderten positiv beeinflusst.13 Zwei weitere Studien untersuchten, ob doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaft zu weniger Integration im Aufenthaltsland führt.14 Grundlage waren Daten zweier Online-Umfragen, die 2013 und 2015 im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts durchgeführt wurden.

      In der ersten Umfrage wurden Daten zur politischen Identität und zum Engagement unter Doppelbürgern sowie unter Kontrollgruppen in der Schweiz erhoben. Die zweite Umfrage ergänzte diese Daten, indem Auslandschweizer mit und ohne zweiten Pass in acht Ländern weltweit befragt wurden. Während Identifikation anhand von kognitiven Selbstbeschreibungen, emotionalen Zugehörigkeitsgefühlen sowie Solidaritätsäusserungen gemessen wurde, galten als Kriterien für den Grad an politischer Beteiligung Bekundungen politischen Interesses und Wissens, Wahlbeteiligung sowie nichtelektorale Formen politischer Beteiligung. Diese Indikatoren können auch als Formen von Loyalität interpretiert werden, denn Loyalität ist einerseits eine affektive Bindung15 und andererseits eine Haltung, die gegenüber einer Sache verpflichtet.16 Die Umfrage in der Schweiz wurde unter 1764 eingebürgerten und autochthonen Schweizerinnen und Schweizern mit und ohne zweiten Pass sowie unter Ausländerinnen und Ausländern aus Deutschland, Frankreich, Italien und dem Kosovo mit dauerhaftem Aufenthalt in der Schweiz durchgeführt.

      Das Ergebnis der Studie: Doppelbürger unterscheiden sich im Ausmass ihrer Loyalität gegenüber der Schweiz nicht von Schweizern mit nur einem Pass.17 Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern, weder im Ausmass der Identifikation noch im Ausmass der politischen Beteiligung.18 Ansässige Ausländerinnen und Ausländer beteiligen sich hingegen deutlich weniger an Schweizer Politik. Direkt gefragt, in wessen Interesse sie sich politisch beteiligen, antworteten Doppelbürger sogar signifikant häufiger als Einfachbürger, Schweizer Interessen zu berücksichtigen. Das Einwanderungsland Schweiz scheint durch die Akzeptanz doppelter