Inga Häusermann

Nikolka


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Affäre öffentlich zu machen, was ihn eine hübsche Summe Schweigegeld gekostet hat. Abgesehen von seiner Vorliebe für prunkvolle Auftritte und seinem ausschweifenden Lebensstil ist er auch für solche Belange immer wieder dringend auf Nebeneinkünfte angewiesen.

      Mich persönlich ärgert die Unsitte, sich Gefälligkeiten zu erkaufen, auch wenn ich zuweilen selbst gewisse Zuwendungen entgegennehme. Im Gegensatz zu Hieronymus aber versuche ich, meine Weste wenigstens einigermassen sauber zu halten.»

      «Was das Regieren manchmal schwierig macht», erklärte der Schultheiss, «ist der Umstand, dass Hieronymus und ich jede unserer Entscheidungen von den Ratsmitgliedern, die nicht selten bereit sind, ihr vertrauliches Wissen gegen gutes Geld zu verkaufen, absegnen lassen müssen. Und je heikler die Geschäfte sind, umso schneller erfährt die ganze Gesellschaft davon. Die besten Ergebnisse erziele ich noch mit Geheimverhandlungen, doch auch diese versucht man mir mehr und mehr zu unterbinden. Hinzu kommt, dass Louis XV. wenig bis gar kein Verständnis für unser Politsystem aufbringt. Aber wie soll man auch einem französischen König alle Eigenarten eines so kleinen und unbedeutenden Staatenbundes wie der Eidgenossenschaft erklären?»

      Nach dieser Bemerkung erhob er sein Glas und schloss mit den Worten: «Wie dem auch sei, ich will euch nicht länger aufhalten, und die Geschäfte drängen. Trinken wir einen letzten Schluck auf das gemeinsame Wohl, getreu dem Sprichwort: ‹Venedig ist auf Wasser, Bern aber auf Wein gebaut›.»

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      Masleniza

      Der Kellner klopfte uns sanft auf den Rücken und stellte einen Teller mit Käse und Trockenfleisch auf den Tisch. Wir mussten beide in Gedanken gewesen sein und fragten uns, wie wir eigentlich in diesen Keller gelangt waren. Als der Mann uns Wein nachschenkte, bemerkte er, es komme nun mal nicht alle Tage vor, dass man einen derart edlen Tropfen öffne. Nach einem Blick auf die Etikette schauten wir einander staunend an. Die Flasche trug den Jahrgang 1730.

      Jetzt erst begriffen wir, dass wir im «Klötzlikeller» sassen, der ältesten noch erhaltenen Weinstube Berns. In einer Nische des seit vierhundert Jahren unveränderten Raumes stand noch immer der helle, zylinderförmige Kachelofen. Und über den schweren, dunklen Tischen hingen an holzverkleideten Wänden alte Zeichnungen, Kupferstiche und gerahmte Zeitdokumente sowie Porträts der legendären Kellerwirtinnen.

      Als Niklaus für den Wein aufkommen wollte, winkte der Kellner ab. Die Rechnung sei bereits beglichen worden. Ob es tatsächlich Schultheiss Christoph von Steiger gewesen war, der uns eingeladen hatte, wagten wir nicht zu fragen. Stattdessen erhoben wir uns und stiegen wieder die Stufen zur Gerechtigkeitsgasse hoch.

      In der Postgasse setzten wir uns auf die schmiedeeiserne Treppe, die der Künstler Carlo Lischetti am Kronenbrunnen angebracht hatte und auf die jeder Berner steigen kann, um sich einmal im Leben wie eine Brunnenfigur zu fühlen.

      Niklaus kam auf die Französische Revolution zu sprechen, die letztlich auch das Ende des alten Bern eingeläutet hatte. Er sprach von der Eroberung der Alten Eidgenossenschaft durch die Franzosen, was für das Patriziat einen tiefen Einschnitt und den Verlust der politischen und gesellschaftlichen Vormachtstellung bedeutet hatte. Der Adel war bis anhin entweder im Staatsdienst beschäftigt gewesen oder hatte von seinen Ländereien, die er bewirtschaften liess, gelebt. Grosse Teile des landwirtschaftlichen Besitzes gingen nun aber verloren. Ausserdem war das Patriziat unter dem «Direktorium», der letzten Regierung vor der Machtübernahme Napoleons, mit beträchtlichen Reparationszahlungen belegt worden. Und als im Jahre 1816 schwere Ernteausfälle zu einer grossen Hungersnot führten, ging dies auch am Berner Adel nicht spurlos vorüber.

      Obschon sich die Franzosen inzwischen hinter den Rhein zurückgezogen hatten und die Aristokratie sich langsam wieder etablierte, waren manche der bernischen Patrizierfamilien so verarmt, dass sie sich für die Auswanderung entschieden. In den 1820er-Jahren setzte eine breite Auswanderungswelle ein, obwohl das Reisen zu jener Zeit nicht ungefährlich war. Viele Familien, die bereit waren, die Strapazen auf sich zu nehmen, wurden Opfer von Überfällen und Krankheiten, noch bevor sie ihr Ziel erreichten.

      Auch der Besitz der Familie von Steiger war enorm geschrumpft. Ein Zweig war in Bern geblieben, konnte sein Gut in Tschugg aber nur mit Mühe halten. Für Niklaus’ direkten Vorfahren Johann Rudolf aber, dessen Familie das Weiermannshausgut im Steigerhubel besass, wurde es schwierig. Neben den Einschränkungen, die alle Patrizier betrafen, verlor er Prozesse gegen die damalige Stadt Bern, was ihn beinahe in den Ruin trieb. Sein Sohn Rudolf erinnerte sich an den Patensohn seines Vaters, der als Küher nach Russland ausgewandert war und ihm voller Begeisterung von den Vorzügen und Perspektiven jenes unermesslichen Landes geschrieben hatte. Und so nahm die Idee, die Eidgenossenschaft zu verlassen, allmählich Gestalt an.

      Rudolf, der ein regelrechter Wildfang gewesen sein muss, nannte man in Bern nur «den Kreuzbuben». Aus einer «Mesalliance», wie man damals eine nicht standesgemässe Verbindung nannte, mit einer Frau aus Sankt Gallen hatte er fünf Töchter und zwei Söhne. Als aus der Affäre mit einer Pfarrerstochter ein weiterer Sohn hervorging, verschärfte sich die Kritik an ihm sowohl im bernischen Grossen Rat wie auch an seinem Wohnort Frienisberg, was ihn in seinen Plänen zusätzlich bestärkt haben mag.

      Vor seiner endgültigen Entscheidung, das Land mit seiner Familie zu verlassen, hatte er Russland ein erstes Mal besucht. Nach seiner Ankunft in Jaroslawl, einer Stadt nordöstlich von Moskau, liess er sich in einem bescheidenen Hotel nieder. Es war die Zeit der Masleniza, der sogenannten Butterwoche, unmittelbar vor der Grossen Fastenzeit. Auf einem Abendspaziergang durch die Stadt kam er mit einem Mann ins Gespräch, der ihn zu sich nach Hause einlud. Dort waren meterhoch Blinis, eine Art russische Pfannkuchen, aufeinandergestapelt und daneben Wodkagläser aufgetürmt. Diesen Berg trug man in einer wilden Völlerei von oben nach unten ab, und Rudolf war so begeistert von diesem Brauch, dass er in sein Hotelzimmer zurückging und sich sagte: «Dieses Land gefällt mir, hier will ich hinziehen.»

      Die späte Vormittagssonne liess die Häuser der unteren Altstadt in herbstlichem Licht erstrahlen, als Niklaus und ich uns wieder erhoben. Die Gasse war menschenleer und still. Nur das leichte Aufschlagen von Niklaus’ Stock auf den Pflastersteinen war zu hören. In den Laubengängen dämpfte der graue Sandstein das Licht, sodass ich die Tür erst gar nicht bemerkte, vor der er stehen geblieben war. «Was meinst du, wollen wir?», fragte er mich. Da erst realisierte ich, dass wir vor dem lutherischen Gotteshaus standen, in dessen Krypta sich die Russisch-Orthodoxe Kirche befand.

      Durch die unverschlossene Tür gelangten wir in den hohen, schwach beleuchteten Eingangsbereich mit der Treppe, die in den Vorraum der Krypta hinunterführte. Als wir die mit rotem Teppich belegten Stufen hinabstiegen, hörten wir aus dem Untergrund leise Stimmen in russischer Sprache. Auf den rustikalen Holzbänken, die sich im Vorraum den Wänden entlangzogen, warteten Gläubige in abgedämpftem, warmem Licht. Ich bedeckte die Haare mit meinem Halstuch, wir bekreuzigten uns und betraten die mit Kerzen beleuchtete und von Weihrauch geschwängerte Krypta. Nur ein Geistlicher, der in einem prächtig eingefassten Buch las, einer Bibel vermutlich, sass in der Ecke neben einer Seitentür. Alte, hölzerne Klappstühle standen in einem Halbrund um einen Sockel, auf dem eine Ikone lag. Ich nahm Niklaus am Arm, damit er sie küssen und sich vor ihr bekreuzigen konnte. Dann setzten wir uns auf zwei der hinteren Stühle.

      «Damals kursierten in den Kreisen der Ausreisewilligen verlockende Versprechungen, die vielen den Entscheid, auszuwandern erleichterten», nahm Niklaus seine Erzählung wieder auf. «So geriet etwa eine Frau von Krüdener, eine geborene Juliana Barbara von Vietinghoff, die in Bern lebte und dem baltischen Adel angehörte, regelrecht ins Schwärmen, wenn sie vom Russischen Reich, den Gegenden Mittelasiens Samarkand oder Buchara erzählte. Nicht nur das biblische Paradies habe sich dort befunden, sondern es sei auch die Stelle gewesen, wo Noahs Arche nach der Sintflut wieder auf Festland gestossen sei. Manchen lockte ihre Verheissung, man sei dort dem Himmel näher als der Erde. Ein politisch neutrales Reich sei im Entstehen begriffen, und man sei in Erwartung des tausendjährigen Reichs Christi.

      Es gab aber durchaus auch handfeste, rationale Argumente, um nach Russland auszuwandern. So versprach