aus den umliegenden Sümpfen aufsteige und an manchen Tagen wie ein Schleier über der Stadt liege. Wie alle Russen blickte er voller Stolz auf die prachtvolle Metropole. Aber auch wer sich als Ausländer in Sankt Petersburg niederlasse, versicherte er, gerate alsbald in den Bann der heiteren und zugleich würdevollen Melancholie, von der die Stadt durchdrungen sei.
An den folgenden Tagen kümmerte sich Rudolf um die Weiterreise, und bald schon wurden ihre Koffer auf eine Barke, die am Ufer der Wolga angelegt hatte, verladen. Glücklich, aber auch etwas wehmütig, nahmen sie Abschied von der ihnen lieb gewordenen Stadt.
Nach der Fahrt durch scheinbar endlose Nadelwälder erreichten sie zehn Tage später die Ortschaft Jaroslawl und gingen am Ufer vor dem Verklärungskloster an Land. Schon am nächsten Tag suchte Rudolf das Haus seines Bekannten auf, der ihn bei seinem letzten Aufenthalt zur Masleniza eingeladen hatte. Er überbrachte ihm Geschenke aus seiner Heimat und erkundigte sich nach einer möglichen Arbeit. Tatsächlich wollte es das Glück, dass für den ehemaligen Schaffner aus Frienisberg der Posten eines Direktors an der agronomischen Akademie frei wurde.
Obwohl er auf dem landwirtschaftlichen Gut seines Vaters aufgewachsen war und ein gewisses Fachwissen mitbrachte, musste er rasch feststellen, dass in Russland manches anders gehandhabt wurde als in Bern. Vor dem Einzug der Franzosen hatten seine adligen Verwandten zwar noch Untertanengebiete verwaltet, eine Leibeigenschaft wie in Russland gab es in Bern jedoch schon längst nicht mehr.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten, sich in die örtlichen Gegebenheiten einzufinden, gelang es ihm schliesslich dennoch, auf den Gutshöfen der Umgebung vor allem auf dem Gebiet der Milchwirtschaft erhebliche Fortschritte zu erzielen.
Der Umstand, dass Jaroslawl bereits unter Kaiserin Katharina der Grossen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Gouvernementshauptstadt des Zarenreichs geworden war, eröffnete Rudolf als Patrizier neue Perspektiven.
Mit seiner Einführung in die Kreise des Adels kam er zum Posten des Verwalters der zaristischen Krongüter, und schliesslich wurde ihm der Titel eines Kaiserlichen Hofrats, der mit hohem Ansehen verbunden war, verliehen. Es war ihm gelungen, sich in der russischen Gesellschaft zu etablieren, und mit dem Eintritt der Familie in die Russisch-Orthodoxe Kirche hatten die von Steigers auch das russische Bürgerrecht erlangt.
Sie waren noch nicht lange in Jaroslawl, als seine Frau Susanne ernstlich erkrankte. Rudolf war es, als würde ihnen ihr grosses Glück nun seinen Tribut abverlangen. Obwohl die besten Ärzte bei ihnen ein- und ausgingen und er jeden Abend an ihrem Krankenbett sass, überbrachte man ihm eines Tages in seinem Kontor die traurige Nachricht, dass seine Frau ihrem Leiden erlegen sei.
Rudolf verfügte inzwischen über die nötigen finanziellen Mittel, um seine beiden Söhne in ein Berner Internat zu schicken. Da er aber auf Dauer mit dem Alleinsein nicht zurechtkam und kein Mann von Traurigkeit war, konnte man ihn schon bald wieder an gesellschaftlichen Anlässen antreffen. Die Frau, die wenig später in sein Leben trat, kam aus gutem Haus und verhalf der Familie zu grossem Reichtum. Leider verstarb auch sie früh, und mit dem Tod seines Sohnes Rudolf während eines militärischen Auslandseinsatzes, musste er einen weiteren schweren Schicksalsschlag hinnehmen. Seine dritte und letzte Frau brachte erneut eine hohe Mitgift in die Ehe. Aufgrund eines schlecht ausgehandelten Erbvertrags fiel jedoch nach Rudolfs Tod sein gesamtes Vermögen der Familie seiner Frau zu, und sein eigener Sohn Eduard ging leer aus.
Konstantinopel
In Russland weitete sich die wirtschaftliche und technische Rückständigkeit mehr und mehr auf alle Bereiche des geschäftlichen Lebens aus. Die Schifffahrtsgesellschaft «Roput» hingegen, die 1856 unmittelbar nach dem Krimkrieg vom langjährigen Stadtpräsidenten Odessas mitbegründet worden war, blühte unter Admiral Nikolai Tschichatschow förmlich auf. Zwei Jahre nach der Inbetriebnahme hatte das Unternehmen bereits 35 Schiffe in französischen und englischen Werften bauen lassen, die weit über hunderttausend Passagiere und über vier Millionen Tonnen Ware auf zwölf Seewegen transportierten. Die Firma wurde grösser und grösser, fuhr bis in die Häfen von Ägypten und Frankreich und entwickelte sich zur führenden Reederei im Handel mit dem Osmanischen Reich. In der Folge berief man den Admiral in den Marinestab und übertrug ihm später sogar das Amt des Marineministers.
Auf der Suche nach einem neuen Direktor kam Rudolf von Steigers Sohn Eduard, der sich nach der Rückkehr aus der Schweiz und dem Studium in Sankt Petersburg während seiner 15-jährigen Tätigkeit im Marineministerium einen Namen gemacht hatte, ins Spiel. An seinem Vorstellungsgespräch gelang es ihm, die Unternehmensgründer davon zu überzeugen, dass sie mit ihm die beste Wahl für den weiteren Ausbau ihrer Flotte treffen würden.
Als Eduard seine Stelle in Konstantinopel antrat, hatte die einst blühende Hauptstadt des Osmanischen Weltreichs ihren Zenit bereits überschritten. Es war versäumt worden, die notwendigen Modernisierungen durchzuführen, überall herrschte Korruption, und die militärischen Niederlagen hatten auch auf das Leben in der Metropole ihre Auswirkungen. Trotzdem war Konstantinopel, wo zwei Kontinente und eine Vielzahl von Nationalitäten aufeinanderstiessen, noch immer ein faszinierender und lebendiger kultureller Schmelztiegel. In den Strassen und Gassen vermischten sich Menschen christlicher, jüdischer und muslimischer Prägung mit allen erdenklichen Ethnien, und das gegenseitige Interesse am Austausch trieb die Geschäfte voran. Im «ägyptischen Basar» reihten sich in einer langen, überwölbten Passage kleine Läden aneinander, die Gewürze und allerhand Erzeugnisse für Apotheker, Färber und Parfümeure anboten. Langbärtige Händler sassen mit untergeschlagenen Beinen in Kaftanen und mit Turbanen würdevoll inmitten von Gefässen mit geheimnisvollen Salben und Tinkturen und warteten auf Kundschaft. In der Nähe des Basars lagen die Gasthäuser und Karawansereien, wo die von weit her gereisten Kaufleute übernachten und ihre Güter einlagern konnten. Unmengen von Stoffrollen und Gefässen mit eingelegten Oliven und getrockneten Datteln standen bereit, und in den riesigen Lagerhallen stapelten sich kostbarste Teppiche.
Auf einem dieser Basare begegnete Eduard erstmals Philomène Durand, der Tochter eines französischen Bankiers, die durch ihre ausserordentliche Eleganz die ganze Gesellschaft Konstantinopels bezauberte. Auch Eduard konnte sich dem Charme dieser Frau nicht entziehen und hielt schliesslich bei ihren Eltern um ihre Hand an.
Das grosse Haus, das die beiden nach ihrer Heirat bezogen, trug den schönen Namen «Petit Champs», auch wenn weit und breit kein Feld zu sehen war. Philomène brachte all ihre Kinder in «Petit Champs» zur Welt. Den älteren Kindern Walerija, Anatolij und Rudolf folgten mit etwas Abstand Nikolai und Sergej – die späteren Grossväter von Niklaus und Sergius Golowin.
Während die Söhne zu Hause von einer Gouvernante und einem Schweizer Privatlehrer unterrichtet wurden, besuchten Walerija und die meisten ihrer Cousins und Cousinen das französische Pensionat Notre Dame de Sion. Die Sonntage verbrachten Walerijas Brüder oft bei ihnen im Kloster, wo die Atmosphäre stets fröhlich und unbeschwert war.
1921 kam Sergej, der jüngste der Brüder, auf seiner Flucht vor der Russischen Revolution noch einmal bei jenem Kloster vorbei. Am äusseren Erscheinungsbild hatte sich nichts geändert, und auch in den Gängen roch es noch immer wie in seinen Kindertagen. Und obwohl inzwischen mehr als vier Jahrzehnte vergangen waren, kam es ihm vor, als wären es dieselben Schwestern, die ihn empfingen. Noch trotzten die schweren Mauern dem Weltgeschehen und waren von Ruhe und Frieden erfüllt.
Die Eltern Eduard und Philomène führten ein offenes Haus. Abends empfingen sie entweder Besucher oder waren selbst irgendwo zu Gast. Dann wurde gesungen, musiziert und eine Partie Whist gespielt. Dieses Kartenspiel, das ursprünglich aus England stammte und aus dem sich später das Bridge entwickelte, hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts um den ganzen Erdball verbreitet und wurde vor allem in jenen Kreisen mit Begeisterung gespielt, die den britischen Lebensstil priesen. Obwohl auch im russischen Adel der gelegentliche Gebrauch französischer Redewendungen zum guten Ton gehörte, war die Bewunderung für englische Sitten und Gebräuche weit verbreitet.
Bei den grossen Empfängen in «Petit Champs» waren die Kinder nicht dabei. Nur bei kleineren Einladungen kam es zuweilen vor, dass sie zusammen mit der Gouvernante an einem separaten Tisch essen durften. Meistens jedoch nahmen die Knaben ihre Mahlzeiten im hauseigenen