Darlehen für die Übersiedlungskosten und genügend fruchtbaren Boden für einen landwirtschaftlichen Betrieb. Er garantierte Religionsfreiheit, die Einwanderer waren von Zollgebühren befreit, und den Kolonisten wurden eigene Bezirke mit weitgehender Selbstverwaltung zuerkannt, in denen sie nachbarschaftlich unter ihresgleichen leben konnten. Es war ihnen erlaubt, Fabriken zu gründen und Handel im In- und Ausland zu betreiben. Jeder konnte sich auf den Schutz und den Beistand der Kaiserlichen Majestät verlassen, und den Angehörigen ausländischer Adelsfamilien wurden die Rechte und Privilegien des russischen Adels eingeräumt.
Besonders jener letzte Punkt wird für Rudolf ausschlaggebend gewesen sein, sich auf das Abenteuer Russland einzulassen. Im Frühherbst des Jahres 1822 verliess Rudolf schliesslich mit seiner Familie Frienisberg.
Die Pfarrerstochter und seinen unehelichen Sohn liess er ohne finanzielle Hilfe in der Heimat zurück. Später musste sich dieser als Hausierer durchschlagen. Dank seines kaufmännischen Geschicks brachte er es aber trotzdem bis zum Buchhalter bei der Kantonalbank. Ein Sohn von ihm baute später in Bern das bekannte Porzellangeschäft Steiger auf, das noch bis in die Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts in der Marktgasse beheimatet war.»
Nach Russland führten verschiedene Wege. Viele der Eidgenossen, die sich im Süden ansiedelten, wählten den Flussweg über die Donau nach Wien und weiter in Richtung Schwarzes Meer. Da sich die von Steigers für den Nordwesten Russlands entschieden hatten und nicht zu den Ärmsten unter den Auswanderern gehört haben dürften, nahmen sie vermutlich den Weg über Preussen und die Ostsee.
«Wie schön doch unsere Heimat ist», dachten sie immer wieder wehmütig während der ersten Tage ihrer Reise, «wie abwechslungsreich die Landschaft, die Alpen, Täler und Gehöfte!» Und Rudolfs Frau Susanne staunte, mit welcher Begeisterung ihr Mann aus dem Kutschenfenster schaute und die Kinder auf jede noch so kleine Sehenswürdigkeit hinwies. Als die Wege jedoch schmaler und holpriger wurden und sie nur noch schleppend vorankamen, schienen die Tage immer länger zu werden. Man sass sich gedankenverloren gegenüber. Es gab kaum Pausen, und die Füsse konnte man sich nur kurz vertreten, wenn man neuen Proviant beschaffen, die Tiere versorgen oder den Wagen wechseln musste. Nur mit Mühe gewöhnten sich die Reisenden daran, dass der Fahrer meist erst tief in der Nacht einen Halt einlegte, sich ein paar wenige Stunden auf dem Kutschbock in seine Decken hüllte und bereits in den frühen Morgenstunden die Pferde wieder anspannte.
An der eidgenössisch-preussischen Grenze nahm ein neuer Kutscher die Fahrt in Richtung Lübeck auf. Vor der Abreise besprach er mit Rudolf die nächste Etappe. Gemeinsam entschieden sie, die Berge möglichst zu umfahren, um die Pferde zu schonen. Ausserdem war man dadurch weniger Wegelagerern ausgesetzt, kam immer wieder an Gehöften vorbei und konnte sich mit dem Nötigsten eindecken. Durch das Elsass fuhren sie in Richtung Norden und kamen nach mehreren Wochen Fahrt durchs oberrheinische Tiefland erschöpft, aber unversehrt in Frankfurt an.
Sie waren froh, dass der Fahrer sich vor Ort auskannte. Er fuhr sie zur Herberge, versorgte die Pferde und brachte Wagen und Gepäck in Sicherheit. Als sie abends nach langer Zeit endlich wieder in frisch bezogenen Betten lagen, war ihnen, als spürten sie das Rumpeln der Fahrt noch immer in ihren Knochen.
In den folgenden Wochen überquerten sie Hessens Bergland, umfuhren das Harzgebirge und gelangten endlich wieder in ebenere Gebiete. Da sie vom immerwährenden Sitzen steif und wund geworden waren, baten sie den Kutscher, Zelte zu organisieren, damit sie sich während der Rast kurz hinlegen konnten. Abends sassen sie dann unter dem freien Himmel um eine Feuerstelle, und die Mutter erzählte den Kindern Geschichten vom Land, in dem die Kirchtürme mit Zwiebelhauben bekrönt waren und nachts Wölfe und Bären um die Gutshöfe strichen.
Nachdem sie bereits mehrere Monate unterwegs gewesen waren, wurde es zunehmend kälter. Für das Übernachten in Zelten war es zu kühl geworden. Stattdessen wärmte man sich nach dem Essen kurz die Hände über dem offenen Feuer, zog sich so rasch wie möglich in den Wagen zurück und schmiegte sich eng aneinander. Als der Winter einbrach, musste Rudolf immer öfter aussteigen, um gemeinsam mit dem Kutscher Schneeverwehungen wegzuräumen, die erschöpften Tiere anzutreiben oder den festgefahrenen Wagen anzustossen. Längst hatten sie aufgehört, die Tage zu zählen.
Die Kälte wurde immer unerträglicher. Starke Winde wirbelten den trockenen Schnee auf den Feldern auf, peitschten den Pferden ins Gesicht und drangen durch die Ritzen der Kutschenwände. In Wolldecken eingewickelt, sassen sie eng beisammen und waren froh, wenn sie endlich wieder ein Dorf erreichten und sich kurz in einer Gaststube stärken konnten. Rudolf bestellte für seine Frau und die Kinder eine warme Suppe und gönnte sich selbst ein grosses Glas Branntwein. Es tat ihm gut zu sehen, wie die Gesichter der Buben und Mädchen wieder etwas Farbe annahmen.
Nach der Fahrt durch die Lüneburger Heide überquerten sie die Elbe. Statt die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten, döste Rudolf immer öfter vor sich hin. Zweifel kamen in ihm auf, ob es richtig gewesen war, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben, und die Ungewissheit darüber, was sie in der Fremde erwarten würde, machte ihm zu schaffen.
Die Tage wurden schon wieder länger, als sie endlich in Lübeck eintrafen. In der Nähe des Hafens fanden sie eine günstige Herberge, und Rudolf ging an die Schiffsanlegestelle, um sich um die Überfahrtspapiere nach Sankt Petersburg zu kümmern. Am übernächsten Morgen bezog die Familie auf einem dreimastigen Frachtschiff ihre Kajüte, und das Schiff stach in die hohe See.
Das Essen an Bord war eintönig und der Ton unter den Matrosen rau. Schon nach kurzer Zeit jedoch liessen sie den einen oder anderen Buben bei der strengen Arbeit mitanpacken. Nach drei Wochen hörte man den kleinen Eduard jubeln, der zusammen mit dem Kapitän vorne auf der Reling stand. In weiter Ferne tauchten, als wäre es ein Traum oder eine Sinnestäuschung, das Festland und die Stadt Sankt Petersburg auf.
Nachdem das Schiff am Hafen angelegt hatte, begleitete der Kapitän die Familie auf einer Droschkenfahrt durch die Stadt. Rudolf und Susanne waren überwältigt von der Grösse der Häuser, den unzähligen Kanälen und der Eleganz der Menschen. Russland begreife man erst, erklärte der alte Seemann, wenn man den Newski-Prospekt gesehen habe, und als sie schliesslich in den breiten Boulevard mit der mächtigen Kasernenkathedrale einbogen, kamen sie tatsächlich nicht mehr aus dem Staunen heraus.
Schon der Schriftsteller Gogol hatte über den Newski-Prospekt geschrieben: «Kein Glanz, der diese schönste Strasse unserer Residenz entbehren müsste! […] Wenn man den Nevsky betritt, spürt man sogleich diesen gewissen Duft von frohem Müssiggang. Und bist du auch in dringenden und wichtigen Geschäften unterwegs, betrittst du ihn, hast du jegliches Geschäft vergessen. Das ist der einzige Ort der Stadt, den man nicht aufsucht, weil man muss, zu dem uns nicht nur die Notwendigkeit und das Geschäftsinteresse lenken, die doch sonst ganz Petersburg regieren.»
Ganz ähnlich erging es den von Steigers, als sie sich mit dem Kapitän vor ein Café an die Sonne setzten. Alle Last schien auf einmal von ihnen abzufallen. Die beschwerliche Reise, die Furcht vor einer ungewissen Zukunft und das bittere Heimweh, das sie immer wieder geplagt hatte. Ein Strahlen lag plötzlich auf ihren Gesichtern, während sie an ihren Gläsern nippten und zusahen, wie sich der Newski allmählich mit Händlern füllte. Bauern priesen ihre Ware an, alte Frauen feilschten mit fuchtelnden Armen um Groschen und Kopeken, während emsige Knaben in buntscheckigen Kitteln leere Flaschen einsammelten oder Stiefel auslieferten.
Schon kurze Zeit später veränderte sich das Strassenbild erneut. Hohe Beamte und Würdenträger schritten über das breite Pflaster, Angestellte des Aussenministeriums, die man an ihren tiefschwarz glänzenden Backenbärten, die sie kunstvoll unter ihre Halsbinden gesteckt hatten, erkannte, flanierten vorbei, und junge Mädchen in Begleitung ihrer Gouvernanten, die sich diskret ein paar Schritte hinter ihnen hielten, trugen hocherhobenen Hauptes ihre Schönheit zur Schau. Die Tische vor dem Café waren bis auf den letzten Platz besetzt. Die Herren lasen Zeitung, und die Damen studierten die Theaterprogramme oder tauschten sich gegenseitig über das Befinden ihrer Kinder aus.
Der Kapitän unterbrach das wortlose Staunen der Neuankömmlinge und geriet ins Schwärmen. Er erzählte, wie unter Zar Peter dem Grossen Hunderttausende von Arbeitern unter schwierigsten Bedingungen in nur wenigen Jahren die Stadt in einer unwegsamen Moorlandschaft errichtet hatten. Dass der Boden, in dem