Valentin Groebner

Wilhelm Tell, Import - Export


Скачать книгу

Gerold Meyer von Knonau ist Staatsarchivar des Kantons Zürich. Die Obwaldner Regierung hat ihn gebeten und beauftragt, das Archiv des Kantons Obwalden «zeitgemäss» in Ordnung zu bringen.5 Dabei kommt ihm ein handgeschriebenes «Copialbuch» aus dem 15. Jahrhundert in die Hände, 508 Seiten aus gutem, weissem Papier zwischen zwei soliden Buchdeckeln aus Holz, 30 Zentimeter hoch, 22 Zentimeter breit, eingebunden in weisses Schweinsleder, 6 auf dem Einband die Notiz «Das sogenante älteste / weiße Bůch / oder / Abschriften der / alten Bündnüßinen».7 Fast zuhinterst, auf Seite 447, der «thäll».8

      Gerold Meyer von Knonau weiss, dass er eine Sensation in seinen Händen hält, den ältesten Beleg für den «thäll». Er bespricht seinen Fund mit Kollegen, und offenbar macht die Entdeckung schnell die Runde, zu schnell für Gerold Meyer von Knonau. 1856, ein Jahr ehe er selbst seinen Fund sorgfältig kommentiert und «mit Bewilligung der Hohen Regierung von Obwalden» in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen kann, 9 berichtet er gleich selbst in der «Neuen Zürcher Zeitung» von seiner Entdeckung und druckt vorsorglich – auf dass ihm niemand die Ehre der Erstveröffentlichung streitig macht – schnell ein paar Zeilen aus dem Buch.10 Der älteste Beleg für Tell macht offenbar nervös. Bis heute hat man noch keinen älteren Beleg gefunden.

      Doch was genau hat Gerold Meyer von Knonau 1854 im sogenannten «Weissen Buch von Sarnen» entdeckt? Es sind knapp zwei Seiten Text. Tell heisst darin zwar noch nicht Wilhelm, sondern einfach «Tall» oder «Thaell», sonst ist uns das Meiste vertraut, zum Beispiel der Apfelschuss: «Nu was der Tall gar ein gut schütz er hat öuch hübsche kind die beschigt der herr zu jmm / vnd twang den Tallen mit sinen knechten / das der Tall eim sim kind ein Öpfel ab dem höupt Müst schiessen / denn der herr leit dem kind den Öpfel vf das höupt / Nu sach der Thall wol das er beherret was / vnd nam ein pfyl und stagt jnn jn sin göller den andern pfyl nam er jn ein hand / vnd spien sin armbrest / vnd bat got das er jmm sins kind behuete / vnd schös dem kind / den Öpfel ab dem höupt / Es geviel dem herren wol (…).»11

      Der tyrannische Landvogt Gessler, der in Altdorf eine Stange mit seinem Hut aufstellt und verlangt, dass man den Hut so ehrerbietig grüssen soll, als wäre er selbst anwesend. Tell, der diesen Gruss verweigert und als Strafe dem eigenen Kind einen Apfel vom Kopf schiessen muss – und trifft. Die Verhaftung des Tell, der Sturm auf dem Urnersee und Tell, der sich mit einem Sprung aus dem Schiff auf die «Tellen blatten» rettet, nach Küssnacht eilt, dem Landvogt Gessler in der Hohlen Gasse auflauert, ihn mit seiner Armbrust erschiesst und über die Berge wieder entkommt. All das ist auf den zwei Seiten kurz und prägnant erzählt.

      Eingebettet ist die Geschichte des Tell in eine kurze Chronik mit dem Titel «Jtem / der anefang der drÿer lendern Uri Switz und vnderwalden (…)».12 Auf nur 25 Seiten wird die Geschichte der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden erzählt, deren Herkunft, Bündnisse und Kriege vom antiken Rom bis ins Jahr 1426. Den «anefang» oder Ursprung bilden die alten römischen Freiheitsrechte der drei Orte, als sich Römer in Unterwalden und Schweden in Schwyz ansiedeln. Die Geschichte berichtet, wie die Habsburger – erst später – in die Nähe der drei «lender» kommen, was der römische König Rudolf von Habsburg ihnen verspricht, wie nach dem Tod des Königs dessen Vögte hochmütig werden und wie die drei Länder auf dem Rütli den Schwur leisten. Erzählt wird, wie man den einen Vogt beim unsittlichen Baden in Altzellen erschlägt, wie ein anderer Landvogt namens Landenberg im Melchtal Ochsen wegführen und den Bauern blenden lässt, wie Stauffacher in Schwyz sein Steinhaus an einen dritten Vogt namens Gessler verliert, wie Tell den Landvogt Gessler tötet, wie die «Eidgnossen» die Burgen der Landvögte erobern und den letzten noch lebenden Landvogt, Landenberg, vertreiben.13

      Doch das Weisse Buch von Sarnen ist kein Geschichtsbuch und schon gar kein Buch über Wilhelm Tell. Das Buch befindet sich heute im Staatsarchiv des Kantons Obwalden, in der Obhut der staatlichen Verwaltung, und da ist es in den 1470er-Jahren auch entstanden, auf der Kanzlei des Standes Unterwalden ob dem Wald in Sarnen, angelegt vom damaligen Landschreiber Hans Schriber.14 Von den 508 Seiten des Weissen Buches sind knapp die Hälfte, 225 ½ Seiten, mit schöner, sorgfältiger Handschrift beschrieben. Die meisten Einträge stammen aus den Jahren 1470, 1471 und 1472, vereinzelte Nachträge aus späteren Jahren, der letzte Eintrag aus dem Jahr 1607. Die Geschichte der drei «lender», in der Handschrift von Hans Schriber, umfasst nur 25 Seiten. Die übrigen 200 ½ beschriebenen Seiten im Weissen Buch von Sarnen enthalten vor allem: Abschriften von Rechtsdokumenten – Bündnisse mit anderen eidgenössischen Orten oder mit Fürsten, Privilegien und Freiheiten, wichtige Verträge und Gerichtsurteile zu Grenzbereinigungen, zur Erbschaftssteuer, zur Fischerei auf dem Alpnachersee und so weiter. Kurz: Alles, was man zur Staatsführung eines vormodernen Gebildes an Informationen und Grundlagen benötigt. Das Buch hat ein ausführliches Register. Es ist ein Nachschlagewerk. Die einzelnen Rechtsdokumente sind zudem thematisch geordnet. Bei jedem Themenbereich sind am Schluss noch ein paar Seiten freigelassen, um spätere Urkunden oder Verträge nachführen zu können – daher die vielen leeren Seiten. Wird ein Bündnis durch ein neues ersetzt, wird der Text des alten, ungültigen Bündnisses durchgestrichen.15 Es ist ein Handbuch für die Arbeit des Landschreibers und des Landammanns. Und so sieht es auch aus.

      Das Buch wird an Kanzleien nach Stans oder Altdorf ausgeliehen, damit diese die wichtigsten Dokumente abschreiben können. Spezialisten aus anderen eidgenössischen Orten konsultieren bei Recherchen auf der Obwaldner Kanzlei auch das Weisse Buch. Man weiss von Abschriften oder Auszügen in St. Gallen, Glarus und Luzern. Irgendwann im 17. Jahrhundert, nicht lange nach dem letzten Eintrag von 1607, wird das Register erneuert, das gesamte Buch zur Sicherung noch einmal abgeschrieben und in neues, weisses Schweinsleder eingeschlagen. Noch einmal hundert Jahre später schreibt jemand auf das weisse Schweinsleder: «Das sogenante älteste / weisse Buch / oder / Abschriften der /alten / Bündtnüssinen». In den Augen der Kanzlei des 18. Jahrhunderts enthält das Buch also nicht mehr aktuelle und gültige, sondern nur noch «alte» Rechtsgrundlagen, nichts, was man bei der alltäglichen Arbeit auf der Kanzlei noch benötigt. Die Logik des Büros: Es wird zwar nicht mehr gebraucht, liegt aber doch noch eine Weile herum. Vielleicht kann man es ja irgendwann noch irgendwie verwenden. Ein paar der unbeschriebenen Blätter des Weissen Buches – weisses Papier in hervorragender Qualität – werden herausgeschnitten und anderweitig verwendet. Braucht man Platz, legt man es woanders hin und vergisst es – bis Gerold Meyer von Knonau am 29. September 1854 das Buch wieder in Händen hält.

      Wie kommen Tellschuss und Rütlischwur, Gessler und Burgenbruch in ein Kanzleibuch? Was soll die Geschichte vom «anefang» der drei «lender» in Verwaltungsschriftgut, zwischen Urkunden, Verträgen und Schiedsgerichtsurteilen?

      Als Hans Schriber, der Landschreiber von Unterwalden ob dem Wald, um 1470 mit der Arbeit am Weissen Buch beginnt, ist er bereits 34 Jahre als Landschreiber im Amt.16 Es sind lange, teils turbulente Jahre, in denen er wohl Gelegenheit und Anlass genug gehabt hätte, ein Kanzleibuch zu erstellen. Und doch beginnt er erst 1470, die relevanten Rechtsgrundlagen seiner Arbeit in einem Kanzleibuch zusammenzustellen.

      Der Grund dafür liegt auf der Hand. 1470 hat Unterwalden ein Problem, und damit auch der Obwaldner Landschreiber. Kaiser Friedrich III. hat im Sommer 1469 über die Eidgenossen die Reichsacht ausgesprochen.17 Die Eidgenossen verlieren die Ansprüche an allen ihren Regalien, Lehen, Privilegien, Gerichten, Rechten und Gerechtigkeiten. Allen Untertanen des Reiches steht es zu, die Rechte der Geächteten zu behändigen und gegen die Geächteten Krieg zu führen. Hinter der Reichsacht steht Herzog Sigmund von Habsburg. Er will die habsburgischen Rechte in der Eidgenossenschaft wiederherstellen, und zwar mit Waffengewalt.

      Denn die Habsburger haben ihre an die Eidgenossen verlorenen Rechte und Besitzungen in den Innerschweizer Orten, in Zug, Luzern, im Aargau und im Thurgau nie aufgegeben. Die Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und den Eidgenossen im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert sind kompliziert, alt und blutig. Zum Beispiel stirbt 1386 Herzog Leopold in der Schlacht bei Sempach gegen die Eidgenossen – in den Augen der Habsburger in eigener Angelegenheit, auf eigenem Land, ermordet von eigenen Untertanen. Oder, ein anderes Beispiel: 1412 schliessen Habsburg und die Eidgenossen zwar einen 50-jährigen Frieden. Das hindert die Eidgenossen aber nicht, im Jahr 1415, nachdem Habsburg in Reichsacht gefallen ist, sogleich den gesamten habsburgischen