erfolgreiche oder gescheiterte Verträge sowie Waffenstillstände ab. Gerade die ins Weisse Buch eingetragenen Verträge und Urkunden zeugen vom Auf und Ab der kriegerischen und diplomatischen Auseinandersetzungen mit Habsburg. Je komplexer und anspruchsvoller die Konflikte, desto mehr Dokumente fallen dabei an – am meisten in den Jahren unmittelbar vor 1470.
Bei den Verhandlungen und gegenseitigen Anschuldigungen führen die Habsburger jeweils ihre Rechtsansprüche ins Feld, verweisen auf die Illegitimität der eidgenössischen Ansprüche und werfen den Eidgenossen – seit der Ermordung von Herzog Leopold 1386 – offene Rebellion vor. Die Eidgenossen reagieren darauf jeweils mit zwei Argumenten. Einerseits betonen sie seit 1420 gebetsmühlenartig den Machtmissbrauch habsburgischer Vögte und Herren, die Misshandlung von Frauen, die Willkür. Anderseits verweisen sie auf ihre alte Reichsfreiheit, auf kaiserliche Privilegien, die bestätigen, dass sie niemand anderem Untertan seien als eben dem römischen König.
Eine solche Urkunde, mit der ein römischer Kaiser oder König die Reichsunmittelbarkeit erteilt, hat Uri tatsächlich bereits 1231 und Schwyz bereits 1240 erhalten. Unterwalden jedoch, und das zeigen gerade die im Weissen Buch zusammengetragenen Urkunden unübersehbar, fehlt ein solches Dokument, und zwar schmerzlich. Auch die späteren Unterwaldner Urkunden, die Reichsunmittelbarkeit bezeugen sollen, sind nicht über alle Zweifel erhaben. Das älteste Dokument, das Unterwalden zur Hand hat und das Hans Schriber 1470 in das Weisse Buch eintragen kann, ist eine von König Heinrich IV. 1309 in Konstanz ausgestellte Bestätigung aller Rechte und Freiheiten, die Unterwalden früher von römischen Königen und Kaisern erhalten habe18 – nur leider gibt es diese Freiheitsbriefe, auf die sich die Bestätigung bezieht, gar nicht.19 Die nächst jüngere Bestätigung der Unterwaldner Reichsfreiheit, 1316 von König Ludwig dem Bayern ausgestellt und von Hans Schriber ebenfalls in das Weisse Buch eingetragen, verweist auf 1240 von Kaiser Friedrich II. und 1291 von König Rudolf von Habsburg ausgestellte Freiheitsbriefe20 – nur sind diese eben leider ausgestellt für Schwyz, nicht für Unterwalden.21
Und das ist 1470 ein echtes Problem. Im Reichsachtverfahren 1468 und 1469 gegen die Eidgenossen hat sich gezeigt, dass die Habsburger beeindruckend dokumentiert sind und ihre Rechtsansprüche erschreckend gut belegen können.22 Zwar haben die Eidgenossen 1415 bei der Eroberung des habsburgischen Aargaus auch das Archiv der Habsburger erobert und alle wichtigen habsburgischen Unterlagen konfisziert oder gleich vor Ort zerstört. Aber dennoch kann die Habsburger Kanzlei 1469 in Innsbruck eine achtzig Seiten starke Sammlung einerseits der habsburgischen Rechtsansprüche und anderseits der eidgenössischen Rechtsbrüche von den Anfängen bis 1468 vorlegen, welche die Eidgenossen in Reichsacht bringt.23 Eine Reichsacht ist kein abschliessendes Urteil, sondern auch eine Aufforderung und Gelegenheit für die Geächteten, sich innert Jahresfrist zu rechtfertigen und die Rechtmässigkeit der eigenen Position mit guten Argumenten zu begründen.24 Das ist offenbar der Anlass, der den Obwaldner Landschreiber Hans Schriber dazu bewegt, die relevanten Rechtstitel, Bündnisverträge und Schiedsgerichtsurteile in einem Kopialbuch zusammenzustellen und eben das Weisse Buch von Sarnen anzulegen.25
Ein Landschreiber weiss, was in Verhandlungen ein gutes Argument ist. Ein Landschreiber wie Hans Schriber, der schon seit Jahrzehnten mit dabei ist und die Realpolitik im Heiligen Römischen Reich des 15. Jahrhunderts genau kennt, der weiss auch, wann die Argumente schwach sind.
Der chronikalische Text im Weissen Buch von Sarnen beginnt so: «Jtem / der anefang der drÿer lendern Uri Switz und vnderwalden / wie sy da har gar Erlich komen sind Zum Ersten / So ist vre das erst / land das von eim römschen rych enpfangen hat / das jnnen gönnen ist / da ze rüten vnd da ze wönen / Dem nach so sind römer kömen gan vnderwalden / den hat das römsch rych oüch da gönnen ze rüten vnd da ze wonen / des sind sy gefryet vnd begabet / Dar nach sind kömen lüt von Sweden gan Swytz das dera da heim ze vil was / die enpfiengen von dem römschen rych die fryheit / vnd würden begabet da ze bliben ze rüten vnd da ze wonen (…).»26
Reichsfreiheit für alle drei also, vergeben schon zu Zeiten des antiken Rom, zunächst an die Urner, dann an die Unterwaldner, die eigentlich Römer sind, und an die Schwyzer, die aus Schweden nach Schwyz gekommen sind.
Weiter im Text zu den Landvögten Gessler und Landenberg: «Denen ward nu die vogty verluwen / das sy die lender mit truwen sollten bevögten zu des richs handen / Sy taten aber das nit / denn das sy je lenger je strenger wurden / vnd (…) taten den lüten grossen trang an / sy beschatzten ein hie / den andern da / vnd triben grössen mütwillen vnd anders denn sy gelöbt und verheissen hatten / vnd giengen tag vnd nacht da mit vmb wie sy die lender vom rich bringen möchten ganzt in jren gewalt (…).»27
Die in den drei «lendern» eingesetzten Vögte herrschen anders, als sie gelobt haben, nämlich mutwillig, willkürlich, missbräuchlich, moralisch verwerflich, illegitim. Gipfel der Bösartigkeit und damit der Illegitimität: Einer der bösen Vögte zwingt einen Vater, das Leben seines Sohnes aufs Spiel zu setzen, es kommt zu Tells Apfelschuss. Tell rächt sich, muss, darf sich rächen, indem er den adligen Landvogt in der Hohlen Gasse erschiesst. Vor allem aber wollen die Vögte «die lender vom rich bringen (…) ganzt in jren gewalt». Die Vögte wollen diese Länder, die Teil des Römischen Reiches sind, die also dem Kaiser gehören, aus dem Reich lösen und vollständig in ihre Gewalt bringen. Für tapfere, reichstreue Untertanen des Kaisers ist es geradezu eine Pflicht, die tyrannischen Vögte zu verjagen und die drei Länder für das Reich zu retten.
Und das tun sie, die Verschwörer vom Rütli. Nach der Tat von Wilhelm Tell, als sie stark und zahlreich genug geworden sind, erobern sie die Burgen und verjagen die Vögte: «Dem nach hand die dru lender sich mit den eiden so die / heimlich zu sammen gesworn hatten sich so vast gestergt / das der so viel was worden / das sy meister würden.»28
Das ist die Pointe, «das sy meister würden», dass sie selbst wieder ihre eigenen Herren und Meister werden, in reichsunmittelbaren Tälern, ohne Vögte, aber als umso treuere Untertanen des Reiches und des Kaisers. So gesehen, kann die kaiserliche Reichsacht von 1469 nur ein Fehler, ein Missverständnis sein. Kein Wunder, findet sich der älteste schriftliche Beleg der Tellsgeschichte nicht im Kanton Uri, sondern in Unterwalden, in einem Kanzleibuch von 1470. Die Helden des Rütlischwurs und Tell sind in die Welt gekommen, um ein konkretes Problem zu lösen. Und zwar in einer Kanzlei.
Die Geschichte vom Bauern, der in einem Hohlweg einem verhassten Adligen auflauert und ihn aus dem Hinterhalt erschiesst, wird dabei kein Zeitgenosse – ob eidgenössischer Ratsherr oder habsburgischer Hofrat – überhören, und jeder kann sie ganz gewiss auch zuordnen. Sie spielt auf Hans von Rechberg an, einen süddeutschen Adligen und Fehdeunternehmer, der in fast allen damaligen Kriegen und Fehden mit dabei ist, auf wechselnden Seiten, aber meist gegen die Eidgenossen, zum Beispiel im Alten Zürichkrieg. Auf eidgenössischer Seite ist er entsprechend bekannt und verhasst. Als Hans von Rechberg 1464 im Fehdekrieg gegen die Rittergesellschaft St. Georgenschild und gegen die Stadt Württemberg Vieh davontreibt, das er von Bauern geraubt hat, wird er von einem Bauern mit einem Pfeil- oder Bolzenschuss in einem Hohlweg aus dem Hinterhalt tödlich getroffen. Der Tod dieses berühmt-berüchtigten Adligen wird weitherum zur Kenntnis genommen. Ein anderer Schreiber, nicht Hans Schriber, sondern Erhart Wintergast in der Stadt Memmingen, notiert 1471, er wünsche diesen Bauern zu krönen, der diesen «gröst wüetrich (…) als bey unsserem gedencken keiner gewessen» endlich erschossen habe.29
Geschichten über böse Vögte sind seit dem 12. Jahrhundert weit verbreitet. Richten diese Erzählungen zu Beginn ihr Augenmerk vor allem darauf, wie die Vögte ihre eigenen Herren, Klöster und Fürsten hintergehen, tritt mit den Jahren zunehmend die Willkür der bösen Vögte gegen ihre Untertanen in den Vordergrund. Die Belästigung von Frauen durch den Adel und Geschichten von sexuellem Missbrauch sind zu der Zeit fast schon stereotype Motive. Man findet sie nicht nur im Weissen Buch von Sarnen, sondern auch in Habsburger Texten derselben Zeit. Habsburger Polemiken gegen den burgundischen Vogt Hagenbach im Elsass werden mit Berichten über dessen Lüsternheit angereichert, die Legitimität seiner Amtsführung wird mit solchen Verweisen gezielt in Frage gestellt.30 Im Weissen Buch von Sarnen kommen beide Aspekte der «bösen Vögte» zum Zug: einerseits ihre «luxuria», ihre Lüsternheit und ihre Willkür gegenüber den Untertanen, anderseits die Art