Verena E. Müller

Liebe und Vernunft


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Linas Tod schrieb der einsame Witwer über sieben Jahre lang Lina täglich einen Brief – auch ein Ersatz für die gemeinsamen Gespräche am Mittagstisch. Sie geben einen vielleicht einseitigen, aber faszinierenden Einblick in die Alltagsgeschichte jener Epoche, und sie spiegeln darüber hinaus die Gedanken und Gefühle eines Mannes zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

AUFTAKT

      HINTERLIST MIT FOLGEN

      Sonntagmorgen, 16. November 1873, an der Schifflände in Zürich: Am Eingang des «Café Boller» – im Volksmund «Bollerei» genannt – meldet sich in aller Frühe Emil Zürcher bei der 22-jährigen Kellnerin Lina Weissert. Er überbringt ihr eine mündliche «Citation» auf das Obmannamt, die Staatsanwaltschaft. Um kein Aufsehen zu erregen, habe er auf eine formelle Vorladung durch den Weibel1 verzichtet. Lina solle sich um acht Uhr auf sein Büro bemühen, um «in einer eiligen Prozedur Auskunft zu geben». Das Obmannamt, keine zehn Minuten von Linas Arbeitsplatz entfernt, liegt am Rand der Zürcher Altstadt. Mit welchen Gefühlen sie sich wohl auf den kurzen Weg machte? Wie sie auf dem Amt eintrifft, empfängt der Jurist Zürcher Lina mit den Worten: «Fräulein, der Mensch wünscht sie zu sprechen, wollen sie ihm Audienz geben.»2 Verblüfft erkennt sie Eugen Huber und macht Zürcher ein Zeichen, er möge weg gehen.

      Der 24-jährige Eugen Huber, auch er Jurist, war als Student regelmässiger Gast in der Bollerei, seit Kurzem arbeitet er in Bern. Über Freund Zürcher erhielt er einige Tage vorher endlich ein Bild von Lina, ein Zeichen ihres Wohlwollens, auf das er Jahre gewartet hatte. Erfüllten sich jetzt seine Hoffnungen? Huber mochte nicht schreiben, er wollte Linas Antwort auf der Stelle hören. Während der Fahrt von Bern nach Zürich überlegte er hin und her: Hätte er seiner Angebeteten nicht doch besser einen Brief gesandt? Was, wenn er sie missverstehen und sie ihm einen Korb geben würde? Kurz vor Zürich fiel ihm der rettende Plan ein, wie es anzustellen wäre, um mit Lina allein sprechen zu können.3 Die Samstagnacht verbrachte Huber bei Zürcher und sie heckten den «fidelen Bubenstreich»4 aus, am frühen Sonntagmorgen steht er dann «im kalten Wind»5 und beobachtet von fern die Szene an der Schifflände.

      In der Amtsstube kommt Huber sofort zur Sache, bietet Lina das Du an, gibt ihr «halb elend, halb glücklich»6 den ersten Kuss und bittet sie, seine Frau zu werden. Lina, vom Gang der Ereignisse überrollt, lässt alles mit sich geschehen. Huber «ist selig»,7 glaubt sich am Ziel seiner Träume, er ist mit Lina verlobt: «Mir kam es vor», schreibt er ihr einen Tag später, «wir gleichen zwei Heimatlosen [und] wie wir auf dem Bureau unsres Freundes mit Küssen den Schwur besiegelten, zusammen uns eine Heimat zu gründen.»8

      Kaum verlobt, hetzt Lina zur Arbeit zurück. Jetzt erst kommen Huber Zweifel. «Als du die Treppe herunter giengst, kam ich mir ganz elend vor, dass ich dich ins Obmannamt gerufen.»9 Fürs Sinnieren bleibt indessen keine Zeit, Zürcher warnt vor der drohenden Ankunft seines Chefs, des Staatsanwalts, die beiden jungen Männer machen sich aus dem Staub.

      Von Hubers Aufenthalt in Zürich darf niemand etwas erfahren. So nehmen die Freunde den Zug nach Baden, spazieren «in traulichem Geplauder über unsere zukünftigen Frauen» durch die Stadt, essen zu Mittag, besteigen den Felsvorsprung oberhalb der Schlossruine und bewundern den schönen Abendhimmel. Huber denkt fast ununterbrochen an Lina und ist überglücklich.

      Zurück im Wirtshaus kann Lina ihrer Chefin Frau Vontobel nur mit Mühe «eine scheinbar gleichgültige Antwort» geben. Sie sei gerufen worden «wegen einem Individuum, das seinerzeit Überröcke gestohlen habe und da meine Aussage nicht mit den polizeilichen Anzeigen stimmte, so wurde ich entlassen unter Verdankung der geleisteten Dienste».10

      Lina ist in grosser Aufregung, doch richtet sich ihr Zorn nicht gegen Huber, sondern gegen Zürcher. In ihm sieht sie «die Quelle einer grossartigen Hinterlist, von der ich mich umzingelt glaubte; ich sagte mir, dass ich sozusagen wie ein armer Spatz in einem Netz gefangen wurde, ohne nur irgend eine Ahnung zu haben».11

      In den folgenden Tagen erkranken die Wirtsleute Vontobel und Lina kümmert sich sowohl um die Gäste im Lokal wie um die beiden Patienten. Ihre privaten Sorgen rücken in den Hintergrund.

      Hubers Hochstimmung bleibt indessen ungetrübt: «Wenn ich nur Worte finden könnte, dir zu sagen, wie klar? wohl es mir ist, seit ich weiss, dass du mich auch lieb hast – bist du nicht auch so glücklich? Ich danke dir unsäglich für deinen Entschluss, für deine Liebe. Mit jeder Stunde fühl ich es mehr, welche Lücke sie in mir ausfüllt, und hoffe nur eines, dass bei dir die gleiche Ruhe und Sicherheit obwalte.»12 Ungeduldig wartet er auf ein Lebenszeichen aus Zürich.

      Als sich Lina vier Tage nach der Vorladung endlich einige Minuten für einen Brief stehlen kann, versetzen ihre Vorbehalte Huber in Panik. In der Zwischenzeit hat sie nachgedacht: «Das plötzlich unerwartete Zusammentreffen auf diese Weise raubte mir allen Halt, die Seelenangst in die ich in jener Stunde gerathen, wirkte zu sehr auf meine sonst schon empfängliche Natur. Erst jetzt wird mir klar, was ich Dir Alles gelobt, welch grosses Wort ich wagte auszusprechen und mein armer Verstand sucht jetzt einen Ausweg aus diesem Labyrinthe von Verwicklung.»13

      War diese Verlobung ein grandioses Missverständnis? Oder Auftakt zu einer aussergewöhlichen Liebesgeschichte? Lina Weissert und Eugen Huber brauchten Jahre, um darauf eine gemeinsame, gültige Antwort zu finden.

TEIL I

      LINA WEISSERT AUS HEILBRONN

      Linas Kindheit liegt weitgehend im Dunkeln. In ihren Briefen tauchen vereinzelte Erinnerungen auf, kleine Geschichten aus der Schulzeit oder gelegentliche Episoden aus dem Leben ihrer Mutter, mehr nicht. Es ist anzunehmen, dass sie ihre ersten Jahre als Handwerkerkind in einer bescheidenen, jedoch wohlbehüteten Umgebung verbrachte. Erst der frühe Tod ihrer Eltern versetzte sie unvermittelt in ein fremdes Umfeld und eine unbarmherzige Arbeitswelt.

      Als achtes Kind in der Ehe von Johannes Weissert und Johanna Barbara Rückert kam Lina am 6. August 1851 zur Welt (siehe Stammbaum auf S. 250/251). Heilbronn mit seinen rund 14 000 Einwohnern gehörte zum Königreich Württemberg, damals eine konstitutionelle Monarchie mit einer ausgeprägt liberal-demokratischen Opposition. Die Stadt schaute auf eine lange Tradition zurück und war auf dem Weg in eine neue Zeit: Tüchtige Unternehmer suchten den Anschluss an die Moderne. Auf dem Neckar erreichte am 7. Dezember 1841 das erste Dampfschiff von Mannheim herkommend Heilbronn,1 ein symbolischer Augenblick. Linas ältester Bruder Ernst war damals 10 Monate alt, ihre Schwester Pauline zwei Jahre alt.

      Vater Johannes Weissert (1818–1865) stammte aus dem Dorf Stetten am Heuchelberg, im Januar 1840 erwarb er das Heilbronner Bürgerrecht.2 Am 2. Mai desselben Jahres folgte das Meisterrecht als Sattler. Schon am nächsten Tag verheiratete er sich mit der Heilbronnerin Johanna Barbara Rückert (1814–1864). Das Paar hatte in der Folge zwar elf Kinder, dennoch blieb die Familie klein – eine Folge der dramatischen Kindersterblichkeit selbst noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie sehr die fortwährenden Schwangerschaften die Gesundheit einer Frau beeinträchtigten, lässt sich nur erahnen.

      Fünf der zwölf Kinder des Paares kamen tot zur Welt oder starben im Jahr ihrer Geburt. Ob Pauline Weissert, 1839 die Erstgeborene, Linas Schwester oder Halbschwester war, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, die entsprechenden Dokumente