Verena E. Müller

Liebe und Vernunft


Скачать книгу

«und hier ging ihm ein neuer Gesichtskreis auf, mächtig ihn anregend nach allen Seiten hin. Vor allem aus fesselten ihn die Vorlesungen und die klinischen Vorträge Schönlein’s und förderten entschieden seine wissenschaftliche Anschauungsweise.»38

      Die praktische Erfahrung eignete sich Hans Conrad Huber als «Gehülfe» bei Dr. Johann Jakob Hegetschweiler (1795–1860) in Rifferswil an. Hegetschweiler, Sohn eines Mediziners, hatte in Göttingen studiert; er durfte seine Ausbildung durchaus mit derjenigen seiner Stadtzürcher Kollegen vergleichen. Neben seiner Praxis führte er seit 1831 das Statthalteramt des Bezirks Knonau. Johann Jakobs bekannterer Bruder Johannes Hegetschweiler (1789–1839), ebenfalls Arzt, sprach als einer der Redner am erwähnten Ustertag 1830. Inzwischen war dieser Regierungsrat, das heisst Mitglied der Zürcher Exekutive geworden, trug als Mediziner massgeblich zur Berufung Schönleins an die Universität bei und ging als Gründer des Kantonsspitals, der Kantonsapotheke sowie der Tierarzneischule in die Zürcher Medizingeschichte ein.39 Beide Brüder waren nicht nur Ärzte und politisch engagierte Bürger, sondern auch begeisterte, fachkundige Botaniker. Landärzte stellten damals Medikamente selbst her. Johannes Wyss, Hans Conrad Hubers Jugendfreund berichtet, wie er als Bub mit seinem Vater Heilkräuter sammelte.40 Hubers Vater hatte auch in diesem wichtigen Bereich versierte Lehrmeister. In Rifferswil hatte Hans Conrad Huber nicht nur Gelegenheit, sein medizinisches Wissen zu vertiefen und mit Patienten zu arbeiten – er lebte in einem eleganten Umfeld, in dem die neuesten Ideen diskutiert wurden. Das herrschaftliche, 1827 erbaute «Doktorhaus» steht heute unter Heimatschutz.41

      Nach einem Jahr kehrte Hans Conrad Huber 1834 in sein Heimatdorf Altstetten zurück und eröffnete eine Arztpraxis. 1836 heiratete er Anna Widmer (1818–1869). Diese hatte während zwei Jahren auswärts das Schneiderinnenhandwerk erlernt, war für ihre Zeit überdurchschnittlich gut ausgebildet.42 Für Hans Conrad Huber muss Anna Widmer eine gute Partie gewesen sein, düsterer sah es für die Braut aus, da sie als 17-jährige Waise gegen ihren Willen verheiratet wurde, wie Huber sich erinnerte.43

      Über Hubers Vorfahren mütterlicherseits ist Folgendes bekannt: Im Alter von fünf Jahren hatte Hubers Mutter Anna ihren Vater Heinrich Widmer (1784–1823) verloren. Mit seinem Tod verschwand das Geschlecht der Widmer aus dem Dorf.44 Hubers Grossmutter Magdalena Widmer-Meyer (*1793) heiratete in zweiter Ehe einen Landwirt, Leonhard Weber, den späteren Gemeindepräsidenten. Es entstand eine Patchworkfamilie, wie man das heute nennen würde. Weber brachte aus erster Ehe die Tochter Küngold (1820–1880) mit. Das Paar hatte zudem ein gemeinsames Kind, Magdalena (1832–1876). Trotz des grossen Altersunterschieds stand diese jüngere Schwester Hubers Mutter sehr nahe, sie war Hubers Patin, das «Ebenbild seiner Mutter»,45 wie er sie Lina beschrieb.

      Eugen Hubers Tante Magdalena Gwalter-Weber war die Vertraute seiner Mutter. Ihr Schicksal erlaubt einen Einblick in das Gefühlsleben der damaligen Zeit. Sie heiratete auf die andere Seite der Limmat ins Nachbardorf Höngg. Dort betrieb ihr Gatte Hermann Gwalter (†1877) eine erfolgreiche Landwirtschaft. Als sie im Alter von 44 Jahren an Herzversagen starb, hinterliess sie sieben Kinder, Sohn Emil stand vor dem medizinischen Abschlussexamen. Huber empfand den Onkel zwar als Ehrenmann, aber auch als barsch und hart. Nur 16 Monate später starb der Witwer an gebrochenem Herzen.46 Huber war überrascht, «wie ihm nun der Tod seiner Frau zu Herzen gieng, die er mit seiner Unerbittlichkeit so oft zur Arbeit getrieben, wenn sie fast nicht mehr konnte». Auch Huber quälten Schuldgefühle. «Es war nicht recht von mir, dass ich ihre mütterliche Zuneigung zu mir so wenig erwiderte –, aber früher hielt mich falsches Unabhängigkeitsgefühl und später der Plan, mit meiner lieben Frau zusammen das Versäumte nachzuholen ab, meine nächstliegenden Verwandten- und Gotteskindspflicht gehörig zu erfüllen.»47 Die Kontakte zwischen Zürich und «Höngg» waren stets sehr rege. Musste sich Mutter Huber über ihren Jüngsten ärgern, fand sie in der Familie ihrer Schwester stets ein verständnisvolles Ohr.

      Eine ebenfalls sehr enge Beziehung verband Huber mit der Familie seiner anderen Tante. Küngold Weber heiratete 1837 Heinrich Gyr (1812–1888) aus Uster. Wie Hubers Mutter bei ihrer Trauung war auch sie erst 17 Jahre alt. Über Gyrs familiären Hintergrund ist nichts bekannt. Küngold und Heinrich Gyr suchten ihr Glück in der Fremde, sie wanderten nach Württemberg aus. Im Lauf seines langen Lebens machte der Unternehmer eine glänzende Karriere und erwarb ein enormes Vermögen. 1855 wurde Gyr Mitbegründer und von 1856 bis 1881 Direktor der Württembergischen Baumwollspinnerei. Diese lag in der Nähe von Esslingen auf einer Halbinsel am Neckar genannt «Brühl». 1871 erweiterte er die Unternehmung und kaufte die Mechanische Baumwollspinnerei in Bleichach/Allgäu hinzu.

      Immer wieder verbrachten die Geschwister Huber Ferien bei Tante und Onkel Gyr in der Fabrikantenvilla. Als Huber kurz vor Abschluss des Gymnasiums in eine schwere Lebenskrise geriet, bat ihn seine Schwester Pauline, nicht die Nerven zu verlieren, und empfahl ganz selbstverständlich: «Gehe für einige Zeit zum Onkel in Esslingen oder auch vielleicht zum Onkel in der Enge.»48 Nach einem Fiasko in London lebte Pauline selbst 1874 einige Zeit bei den Gyrs, bis sie sich wieder aufgefangen hatte und nach Russland weiter zog. Wusste ein Familienglied nicht ein und aus, war der «Brühl» das letzte Refugium. Als Hubers Mutter 1869 gestorben und er Vollwaise war, fühlten sich Onkel und Tante zusätzlich in der Pflicht. «Ich führe hier ein Schlaraffenleben. Bald geht’s da, bald dorthin, ins Theater, auf Besuch»,49 berichtete Huber auf der Reise ins Studienjahr nach Berlin.

      Heinrich und Küngold Gyr hatten nicht nur Söhne, die ins Geschäft eintraten, sondern auch mehrere Töchter; bei deren Verheiratung zählten nicht Gefühle, sondern wirtschaftliche Überlegungen. Huber sowie Lina blieben ein Leben lang mit der vorwitzigen Cousine Ida Gyr befreundet. Huber hatte gar kurz erwogen, um Idas Hand anzuhalten, sollte ihn Lina für immer abweisen.50 Trotz der in Aussicht stehenden guten Mitgift blieb sie unverheiratet. War daran ihr kaum sichtbarer kleiner Buckel schuld?51 Später empfingen Gyrs Eugen Hubers Frau Lina herzlich auf dem «Brühl» und zeigten weniger Vorbehalte als einige Angehörige in der Schweiz. Am Ende ihres Esslinger Besuchs 1883 notierte sie ihre Eindrücke. «Lebewohl du gastliches, strammes Haus, du blühender Garten, du traute Stille! Mit dankbarer Liebe will ich noch oftmals Euer gedenken, Ihr, die Ihr mich so freundlich aufgenommen und so weitherzig behandelt habt! Der Umgang mit Euch gab mir ein bisher noch nie empfundenes Bewusstsein, Freunde, wirkliche Freunde zu gewinnen, ist wohl eines der schönsten Ziele des Lebens und ein Kreis von lieben Bekannten mit allen ihren Licht- und Schattenseiten dient schon wesentlich dazu, uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu verleihen. Wir fühlen uns Mensch unter Menschen und die Kluft, die sich unwillkürlich bildet, wenn wir an ein abgeschiedenes Leben gewöhnt sind, schwindet allmählich dahin bei solchem Zusammenleben.»52

      Heinrich Gyr war der begüterte Clanchef, der für die Grossfamilie einzustehen hatte. Dass er diese Aufgabe übernahm, ist aus heutiger Sicht umso erstaunlicher, als seine Frau mit der Familie Huber nicht blutsverwandt war. Der Selfmademan Gyr hatte Achtung vor der eigenständigen Leistung anderer, wie Huber nach dessen Tod erfuhr: «Er hat stets grosse Sympathie und Vorliebe für dich empfunden und seine Freude bezeugt über die bevorzugte Stellung, welche du dir durch eigene Arbeit und Tüchtigkeit errungen hast.»53 Als Vetter Conrad Gyr diese Zeilen schrieb, war Huber zwar erst Professor in Basel, sein eigentliches Lebenswerk lag noch vor ihm.

      Hubers älteste Schwester Anna weilte im Juni 1871 zur Erholung in Esslingen. Bei der Gelegenheit wurde sie Zeugin eines Streiks: «Letzte Woche machten die Fabrikarbeiter auch Streike, sie wurden aber durch Oncles energisches Einschreiten bald wieder zur Vernunft gebracht. … Oncle ärgerte sich nachher sehr, dass die Kerle auf solch niederträchtige Art eine Lohnerhöhung erzwingen können; aber er sagte, nur einige Tage ohne Arbeit würde ihnen mehr schaden, als eigentlich die Summe der Lohnerhöhung ausmache; warum thuns auch die Herren nicht vorher, dann würde es gewiss nicht so weit kommen.»54 Der Onkel, «der neben bei gesagt von allen so ziemlich gefürchtet wird», war und blieb Respektsperson, selbst seine Kinder «[waren] alle viel fröhlicher und ungezwungener», wenn er aus dem Haus war.55

      Der gyrsche Reichtum weckte zwiespältige Gefühle. Ohne Bedenken nahm Huber von Onkel Gyr zum Abschluss seiner Studien ein Geschenk von 1000 Franken an. Während Huber gelegentlich spitze Bemerkungen über die Millionäre in der