Verena E. Müller

Liebe und Vernunft


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geraten und habe heute längere Zeit die Lösung gesucht – statt gescheiteres zu tun.»21

      Mit knapp 18 Jahren war sich Huber sicher. «Ich kenne nun das Leben durch und durch … so kann ich hoffen, einstmals tüchtiger Jurist, Staatsmann und Dichter zu werden; wie ein Dante, ein Machiavelli oder so einer; ein Redner Thiers!22 Ah, das muss fein sein. So was zu werden!»23 «Mann sein und etwas Tüchtiges werden» ist ein Leitmotiv der Tagebucheinträge jener Zeit. Andererseits notiert er oft ein typisches Unbehagen. «Wieder Kämpfe – ich weiss nicht, was ich tun soll. In der Schule geht’s nicht wie’s sollte, zu Hause auch nicht, im Verein auch nicht; ich könnte mir die Haare ausraufen.»24

      Im Januar 1867 wurde Huber Mitglied des Gymnasialvereins, einer Art Debattierclub. Huber war es ein Anliegen, sich im Hinblick auf eine staatsmännische Laufbahn in Rhetorik zu schulen. Dieser Kreis gab ihm den Spitznamen Schwärmer. «Es muss was Schwärmerisches an mir hangen, und dieses Schwärmerische macht gerade meine schwache Seite aus»,25 klagte er. Ein Höhepunkt seiner Schulzeit war die Aufführung von Schillers «Die Räuber» im Stadttheater26 am 21. Dezember 1867. Huber spielte den Karl Moor und verfasste für den Anlass einen Prolog. Erstmals wurde sein Name als Dichter in der Öffentlichkeit genannt. «Wenn’s einem so gut geht, so schreibt man weniger ins Tagebuch, wenn man dasselbe, wie ich, nur für Herzensergüsse braucht»,27 konstatierte er befriedigt. Drei Jahre später erinnerte er sich. «Jahrestag der Räuber. Vieles anders. Ob besser?»28 Inzwischen war seine Mutter gestorben und er hatte zwei Studiensemester in Berlin absolviert.

      Hubers Traum von einer literarischen Laufbahn ging ebenfalls auf die Gymnasialzeit zurück. In der Schule schrieb er einmal statt eines Aufsatzes ein Drama, las es vor, der Lehrer schmunzelte, die Klasse applaudierte «und ich war stolz und hochmütig». «Ich dichtete bald, weil ich wirklich so gestimmt war, bald, weil ich nun glaubte, ein Dichter werden zu müssen»,29 schrieb er an Lina. Er verfasste ein neues Drama im Frühling 1864, vermutlich «Polycrates – Geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen»,30 dann einen langen Roman, den die Freunde sehr lobten, «Politisches Zeitgemälde aus der Schweiz anno 1839».31 Die Geschichte setzt sich mit der Epoche des Züriputsches auseinander. Sein Deutschlehrer, Pfarrer Spörri, war von dieser Produktion nicht eingenommen und noch im Alter beklagte sich Huber, dass er von ihm nicht verstanden und gefördert worden war.32

      Musik war eine weitere wichtige Leidenschaft Hubers, der er bis ins hohe Alter treu blieb. Zeit seines Lebens besuchte er regelmässig Konzerte. Wegen seines gelähmten Arms kamen für ihn nur wenige Instrumente in Frage. Er entschied sich für die Flöte. Huber muss es recht weit gebracht haben, denn Freund Schaggi lud ihn zu Besuch bei seinem Dienstherrn auf der Kyburg ein, «wobei auch deine Flöte ja nicht fehlen darf, die du so ausgezeichnet gut zu handhaben weisst».33 In vorgerücktem Alter hatte sich der Zustand seines Arms derart verschlechtert, dass Huber nicht mehr selbt spielen konnte. Auf Musik wollte er nicht verzichten, und er schaffte sich ein Aeolion, ein mechanisches, selbstspielendes Musikinstrument an, das er wenn nötig eigenhändig reparierte. Hausmusik bedeutete ihm viel.

      Kurz vor der Maturitätsprüfung gerieten mehrere Schüler aus Hubers Klasse in schwerste Krisen. Im Januar 1868 wollte Ritter, später Arzt in Uster, die Schule verlassen. Der Rektor hielt ihn zurück und erliess ihm den Griechischunterricht.34 Im März plante Huber eine Flucht ins ägyptische Alexandria zu seiner Schwester Pauline. Er fing sich wieder auf, doch einige Monate später spitzte sich die Lage erneut zu: Kleiner und Huber wollten gemeinsam in den Tod gehen. War es Alfred Kleiners Idee? In Hubers Nachlass finden sich einige Abschiedsbriefe, aber wie es zu diesem fatalen Wunsch Hubers kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Typisch sind seine Worte an Freund Schaggi: «Das ist der letzte Akt des Trauerspieles! Der Kummer, meine Ideen für unmöglich, mich für zu schwach zu erkennen, erdrückt mich … Ich sterbe – mein Freund und ich – wir thuen uns den letzten Dienst.»35 Offenbar kam Huber als erster wieder zu Vernunft und musste sich von Freund Kleiner übel beschimpfen lassen.

      Nach zwei Monaten bestanden beide die Maturitätsprüfung und nahmen ihr Studium an der Universität Zürich auf. Kleiner begann mit Medizin und schloss dieses Fach auch ab, zur Physik kam er erst danach. Huber geriet mit der Berufswahl in eine Notlage, wie er meinte. Er wählte Jurisprudenz, weil er sich vorstellte, «es werde mir hier am ehesten möglich sein, meine eigentlichen Pläne, für welche ich einzig mich begeistert fühlte, durchzusetzen, das waren meine Dichterpläne».36

      Im ersten Studiensemester verfasste Huber ein Versdrama in fünf Akten, «Der Landamman aus der March – Trauerspiel aus den letzten Tagen der alten Eidgenossenschaft».37 «Mit heiligem Schwur hatte ich gelobt, dieses Werk mit aller Reinheit meines Herzens zu beginnen, und hielt Wort.» Feierlich trug er in Zürchers Bude die Tragödie seinen Freunden Zürcher, Kleiner, Schröter und Heim vor. Sie waren nicht begeistert. «Mein Elend war grenzenlos. Ich war zu stolz, es zu zeigen, wie mich ihr Schweigen kränkte.»38 Die Geschichte hatte Jahrzehnte später ein Nachspiel. Beiläufig bemerkte 1917 Emil Zürcher bei einem Besuch in Bern, der «Landamman» habe ihm seinerzeit gefallen.39 Huber erinnerte sich, wie ihn der fehlende Beifall seiner Freunde, die Skepsis Professor Kinkels,40 dem er sein Werk offenbar gezeigt hatte, sowie die Bedenken der Mutter zu den Gesetzbüchern greifen liessen.

      In der Familie erzählte man sich, Huber sei in jungen Jahren ein recht bequemer Bursche gewesen, der oft von seinem Bruder aus dem Bett gejagt werden musste, auf dass er pünktlich zum Unterricht erscheine.41 Hubers Alltag veränderte sich mit dem Übertritt an die Universität kaum. Die familiäre Überlieferung deckt sich mit Hubers Rückschau. «Ich habe diese Zeit übrigens auch in der Erinnerung als ein unglückliches Entwicklungsstadium. Ich war die ersten vier bis fünf Semester ein sehr unreifer Student. Erst mit dem Sommer 1871 wurde es besser, als ich meine Fusskrankheit herumschleppte und anfing zu lesen.»42 Schon während des Semesters 1872 in Wien dämmerte ihm allerdings die Einsicht, dass er allzu viel Zeit verloren hatte. «Zwei Semester gedichtet und spaziert, zwei mich getummelt und an Praxis gedacht, eines discutiert über Praxis und Politik, eines krank und elend, eines Arbeit – und nun, vor mir der Berg von Material, aus dem ich mein Wissen aufbauen soll!»43

      BEWEGTES FAMILIENLEBEN IN ZÜRICH UND MUTTERS TOD

      Huber war in der ersten Zürcher Zeit voll Bewunderung für seinen grossen Bruder. Was er zeichnete, komponierte oder malte, alles schenkte er August, der ihn ebenfalls nach Noten verwöhnte.44 Als Huber ins Teenageralter kam, änderte sich allmählich der Ton zwischen den Brüdern, Eugen wurde im Gespräch mit August aufmüpfiger. Als eines Tages eine unbeliebte Speise aufgetragen wurde, behauptete August moralisierend, «er glaube es wäre für den Charakter von höchst guter Wirkung, wenn man sich erst recht widrige Speisen geben liesse, dass überhaupt sich selbst Unangenehmes zuzufügen zur Stärkung des Charakters beitragen müsste». Von so viel Stärkung des Charakters wollte Eugen Huber nichts wissen. «Ich entgegnete darauf, da könnte man ja aus gleichem Grunde sich das Haus anzünden, damit man durch dieses ‹Unangenehme› gebessert würde.»45

      Nach Pauline ging auch Emma ihren eigenen Weg. Ihr Abschied von der Familie war für Huber bestimmt schwierig, war sie doch seine Vertraute, seine Lieblingsschwester. Schon zu Lebzeiten des Vaters hatte Emma gewünscht, Diakonisse zu werden, doch waren die Regeln strikt. Sie durfte erst im 21. Lebensjahr ins Diakoniewerk Neumünster bei Zürich eintreten.46 Am 16. Dezember 1864 hatte sie ihr Ziel erreicht, sie wurde aufgenommen. Nach erfolgreicher Probezeit wurde Emma am 5. Mai 1867 eingesegnet. Die Mutter mit ihrer freigeistigen Weltanschauung war empört: «Der zweite Conflikt, den ich erlebte, war die leidenschaftliche masslose Bekämpfung der Mutter gegen das Orthodoxe Emmas und seinem Eintritt ins Asyl. Ich erinnere mich böser Stunden, und verstand damals von allem nichts»,47 erzählte Huber später Lina. Nun, Mutter Huber war nicht die einzige, die sich über Emmas Entschluss wunderte. Auch Schaggi konnte der Sache nichts abgewinnen. «Mich dauert, dass deine Schwester Emma in ein solches Leben eingetreten, sie, früher so lebhaft und heiter, soll sich so zurückziehen. Nehme dagegen auch Theil an der Freude, die euch durch die Heimkehr Pauline[s] bereitet