Zu Beginn war Herr Vontobel unerbittlich. Schaute Lina zum Fenster hinaus, um zu sehen, wie Schwager Blatter als Kondukteur mit dem Omnibus der Linie Central-Tiefenbrunnen vorbeifuhr, rief sie der Wirt barsch zurück. «Ich begreife täglich weniger, wie ich in diesem Sklavendienst so lange ausgehalten. Wenn auch die letzten paar Jahre nimmer waren, was die früheren, so war doch Vieles zu wünschen»,67 kommentierte sie in der Rückschau. Als sich die Verhältnisse allmählich besserten, schuftete sie zwar weiterhin bis zur Erschöpfung und war oft kränklich, inzwischen jedoch anerkannten und schätzten Vontobels ihre Tüchtigkeit. «In den Räumen wirkte eine liebliche Erscheinung besonderer Art. Eine arme Waisentochter war von den Wirtsleuten sozusagen an Kindesstatt angenommen worden und wurde von ihnen gepflegt und besorgt»,68 berichtete Hubers Juristenfreund Emil Zürcher in einem Brief an seine Verlobte.
Ansehen genoss eine Kellnerin in der bürgerlichen Gesellschaft kaum, dieser Beruf lag nahe bei der Prostitution. Allein die Tatsache, dass eine Frau ausser Haus arbeitete, war für sie schlimm genug. Lina kannte die Vorurteile und achtete konsequent auf ihren guten Ruf. Das Schicksal ihrer Schwester Emma hatte ihr drastisch vor Augen geführt, in welch wirtschaftliche und soziale Bedrängnis eine junge Frau geriet, die vom Pfad der Tugend abkam. «In dieser … gewiss nicht immer angenehmen Stellung wusste sie sich mit einer solchen Würde zu bewegen, dass sie allen imponierte und … dass Niemand es gewagt hätte, in ihrer Nähe nur unziemlich zu denken, geschweige denn zu reden.»69 Als Fabrikarbeiterin hätte sie sich zwar nicht in gleichem Mass auf moralischem Glatteis bewegt, wäre jedoch ausschliesslich mit Frauen oder Personen aus ihrer eigenen sozialen Schicht in Kontakt gekommen. Selbst finanziell hätte sie sich um einiges schlechter gestellt.
Im Wirtshaus dagegen verkehrte Lina unter Männern und traf regelmässig auf interessante Persönlichkeiten in verantwortungsvoller Stellung. Die Bollerei wurde, wie Emil Zürcher schrieb, «von den geachtetsten Einwohnern Zürichs» besucht, etwa von Staatsschreiber Gottfried Keller, dem Präsidenten des Obergerichts Honegger, es kamen «Majoren und anderes Militär, Professoren», wie Stararchitekt Gottfried Semper vom Polytechnikum. Unternehmer vom linken Zürichseeufer, Politiker und Studenten tranken regelmässig ihr Bier an der Schifflände. Nach Linas Tod erinnerte sich Professor Escher an seine Jugendjahre und an «das Bild des feinen, schlanken Mädchens … das seinem zierlichen, freundlichen und doch so sicheren Wesens halber aller Liebling war».70 Oder nochmals Zürcher: «Sie war eine tüchtige Arbeiterin und ihre anmuthige Erscheinung hatte so manchen jungen und alten Mann an den Ort gefesselt und die Stube mit Stammgästen gefüllt.»
Nie hätte sich eine behütete höhere Tochter in einer solch vielfältigen, illustren Gesellschaft bewegen können. Bei Privateinladungen verabschiedeten sich die Herren nach dem Essen ins Raucherzimmer und führten dort ihre ernsthaften Gespräche, die Damen überliessen sie dem Kaffeeklatsch. Anders lag der Fall bei Lina. Während sie die Herrschaften bediente, hörte sie deren Diskussionen, Neckereien, Meinungsverschiedenheiten und oftmals auch mehr oder weniger alkoholbedingte Streitereien. Ihr wacher Geist erhielt unzählige Anregungen und entwickelte dabei Verständnis für politische Zusammenhänge. Der kritische Huber anerkannte rückblickend: «Du hast, meine Lina, den Menschenschlag der Politik in deiner früheren Stellung von einem eigenen Standpunkt aus zu beobachten Gelegenheit gehabt.»71
Vielen Gästen in der Bollerei war Lina mehr als eine Kellnerin; bei den einen erkundigte sie sich, wann ihr Schiff fahre, andere fragte sie, wann sie ins Theater oder ins Konzert wollten, um ihnen dann ihr Essen rechtzeitig zu bringen. Lina war sich ihres Ansehens bewusst: «Schon viele, viele Anträge sind mir gemacht worden in Hotels, Gasthöfen, Cafés, doch mein Plan, das Wirtschaftsleben aufzugeben, wird dadurch nicht geändert.»72 Sie träumte von einer leichteren Verkaufsstelle in einem Geschäft, wo sie auch das Handarbeiten erlernen könnte. Ihre Freude an solchen Arbeiten war auch den Gästen in der Bollerei bekannt. Der Mitarbeiter eines Seidengeschäfts brachte ihr jeweils kleine Restchen mit, die sie dann zum Beispiel in ein Fensterrouleau verarbeitete.73
Lina hatte einen lebensfrohen Charakter, wie ihre Schilderung der Silvesternacht 1873/74 belegt: «Und wage es auszusprechen, dass durch mich auch die allgemeine Fröhlichkeit bei den Gästen wachgerufen wurde.»74 Um halb sechs Uhr morgens kam sie endlich ins Bett, zweieinhalb Stunden später war sie wieder an der Arbeit.
Manchmal jedoch trauerte Lina ihrer verpassten Jugend nach: «Ich gelangte namentlich in jener Zeit zu der Einsicht, wie hart das Schicksal doch mit mir verfahren, wenn ich sah, wie viele junge Mädchen meines Alters in Zerstreuungen und Vergnügen ihre schönen Jahre verbrachten, während ich eigentlich so viel wie nichts vom Leben genossen.»75 In anderem Zusammenhang klagte sie: «Ich, die ich beinahe meine Gesundheit, meine schönen jungen Jahre dem Geschäft geopfert.»76
Lina beobachtete ihre Kunden scharf, und es ist zu vermuten, dass ihre verblüffende Menschenkenntnis auf die Erfahrungen im Wirtshaus zurückgeht. Typisch ist ihr Urteil über einen Herrn Zundel von der Bahnhofstrasse, mit dem Linas künftige Schwägerin Anna 1875 Probleme bekam. Während Familie Huber den Fehler bei Anna suchte, äusserte sich Lina skeptisch. Sie glaubte, «dass dieser Herr sicherlich nicht das Solideste sei in moralischer Beziehung». Zwar benahm er sich im Restaurant korrekt, «allein sein Blick, sein ganzer Körper, seine Sprache machten mich manchmal stutzen, weil ich es nicht im Zusammenhang mit seinen Reden fand; er wollte immer Moral predigen und das langweilte mich oft an ihm».77
In der Bollerei hatte Lina stille und weniger stille Verehrer. «Ich bewegte mich in einem Kreis, der wenngleich keineswegs beneidenswerth, doch derart war, mich meine verfehlte Erziehung nicht so fühlen zu lassen, wie ich erst später eingesehen. Ich hatte eine kleine Welt um mich gesammelt, die tagtäglich um mich war und sich bemühte, durch freundliche Worte, durch aufmerksame Bewunderung meines andauernden Fleisses und meines wenigstens äusserlich immer guten Humors, mich zu achten und zu bewundern. Das fühlte ich wohl, dass in dieser Art von Bewunderung immer ein klein wenig von Liebe vorhanden war, ist ganz klar, und in diesem Bewusstsein, geliebt und geachtet zu werden, trotz des schwierigen Berufes, vergingen die Tage.»78 Von ihrer Liebe zum Medizinstudenten Otto Stoll und von Gottfried Keller wird noch die Rede sein.79
Als Huber im November 1871 einen ersten schriftlichen Annäherungsversuch wagte, wimmelte ihn Lina energisch ab, seinen Schutz brauchte sie nicht. Ausführlich verwies sie auf das gute Verhältnis zur Familie Vontobel und insbesondere auf die enge Beziehung zur Wirtin. «Ich bin schon zu lange bei Herrn Vontobels, als dass ich denken müsste, wenns mit meiner Gesundheit schlimmer gienge, dass mich namentlich Frau Vontobel so gut als Ihr [sic] nur möglich, mich verpflegen würde …»80 Lina hatte nicht übertrieben. Im Juni 1872 schickten Vontobels sie zur Erholung ins sogenannte Nidelbad oberhalb von Rüschlikon. Die Wirtsleute kannten auch Linas kulinarische Vorlieben. «Wenn man mir in der Bollerei ein Fest machen wollte, so liess man mir nur eine grosse, mit viel Zwiebeln gebratene Bratwurst mit Blumenkohl oder Kartoffeln machen. Sowohl Herr als auch Frau V[ontobel] wussten das; und währenddem Fr. V. einmal eine Woche lang im Bett war, bestellte mir H[err] V[ontobel] jeden Abend das gleiche, so dass ich zuletzt so satt von Bratwurst war, dass ich lange keine mehr Essen [sic] mochte.»81
Nach der Vorladung Hubers ins Obmannamt war Lina zutiefst besorgt: «Seit Sonntag Nachmittag muss auch Fr[au] Vontobel ernstlich das Bett hüten. Es macht mich sehr bange um sie, denn sie liegt beständig in Fiebern, so dass der Arzt 2 bis dreimal täglich kommen muss.»82 Und am folgenden Tag: «Mit meiner armen Frau Vontobel stehts sehr schlecht, denn kaum noch glaubten wir gestern Abend, dass sie die Nacht noch verlebe. Heute früh ist sie sehr schwach, liegt in beständigem Fieberzustand von 39 bis 40 Grad. Die Arme, könnte ich ihr helfen. Herr V. geht’s auch sehr schlimm.»83 Während Huber in Bern auf Liebesbriefe hoffte, betreute Lina eine Sterbende. «Dieser Tag wird mir zeitlebens im Gedächtnis sein, denn jeder Augenblick drohte ihrem armen Leben ein Ende zu machen. … Um mich darfst Du Dir nicht bange sein, solange ich meine gehörige Nachtruhe habe so geht’s noch immer an. Es ist mir nicht möglich, länger zu schreiben, ich werde an die Arbeit gerufen.»84 Erst ein Jahr später fand sie in Genf die Kraft, Huber die schmerzlichen Stunden zu schildern: «Gegen 9 Uhr lag sie todt in meinen Armen, ich küsste ihre Leiche und war so betrübt, dass ich lebhaft wünschte mit ihr folgen