Verena E. Müller

Liebe und Vernunft


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noch ein braves, liebenswürdiges Kind, das des Nachts wegen des wiedergekehrten Hustens nicht mehr schlafen könne und sich doch den ganzen Tag durch plage und dabei blass und mager geworden sei.» Im selben Brief erwähnt Keller den Architekten Gottfried Semper. Lina «schreibe ihm eine Schachtel mit Handschuhen zu, die sie anonym durch die Post erhalten habe, und möchte ihm gerne dafür danken. Neulich kaufte ich ihr ein Ringlein, das sie mit einem von Semper geschenkten am kleinen Finger trägt, so dass sie beide Narren schön vereinigt mit sich führt. Sagen sie das aber Semper nur, wenn er guter Laune ist, sonst wird er wütend.»98

      Der schüchterne Keller nützte Linas Abwesenheit von Zürich, um ihr anonym das Gedicht «Regenliedchen für Lina» «mit einem Korallenhalsband»99 zu schicken. Korallen waren damals sehr in Mode, Keller hatte Linas Sinn für Eleganz erkannt. Ob er sich tiefere Gedanken zu seinem Geschenk machte? Walter Morgenthaler, der Herausgeber der kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe zitiert das Lexikon des deutschen Aberglaubens: «Korallenschnüre aber werden von der Braut getragen, der sie unheilabwehrende Schutzkraft verleihen.»100 Dass sich Keller vom Regen inspirieren liess, hatte handfeste Gründe. Im Brief, in dem Zürcher seinem Freund Huber von Linas Abwesenheit berichtete, klagte er: «Regenwetter haben wir auch, und zwar seit Wochen konstant», und einige Zeilen später sprach er gar von «apokalyptischem Wetter».101

      «Regenliedchen für Lina

      Für manchen Becher, den Du ihm

      Mit Freundlichkeit gebracht,

      hat jetzt ein guter alter Freund

      still sinnend Dein gedacht.

      Jetzt sitzt sie in dem Regengrau,

      Das fern den Berg verhüllt;

      Es bleibt ihr Wunsch nach Sonnenschein

      Und Lenzluft ungestillt.

      Doch bleib’ nur ruhig, gold’nes Kind,

      Und lach’ den Regen an

      Mit deinem Aug’ voll Sonnenschein

      Den bösen Wassermann!

      Und dankbar aus den Wolken bringt

      Er dir Genesung her;

      Dann rauscht er fort - und diese Schnur

      Holt er Dir aus dem Meer!

      Ein Zeichen, wie er sehr sich schämt,

      Sei dir das tiefe Roth! Ach Gott!

      wie rauscht und plätschert er,

      Bald weint er sich zu todt!

      Blick ihn nur an, so muss entsteh’n

      Des Regenbogens Pracht,

      dann hat dein sonnig’ Auge

      den Regen weggelacht.»

      Nach einem missglückten mündlichen Versuch machte Keller am Donnerstag vor Ostern, am 10. April 1873,102 Lina schriftlich einen offiziellen Heiratsantrag. Das – verschollene – Original schickte sie ihm wie gewünscht zurück, doch erstellte sie vorher eine Abschrift. Während der jugendliche Huber 1871 vor allem von seiner eigenen Zukunft gesprochen hatte, äusserte sich der 54-jährige Keller liebevoll väterlich-besorgt, über seine Stellung brauchte er nichts anzufügen:

      «L. L.

      Sie haben Gestern Abend wahrscheinlich gemerkt, wo ich hinaus wollte mit meiner ungeschickten Ankündigung. Ohne viele Worte zu machen, will ich Sie daher jetzt fragen, ob Sie nicht zu viel Widerwillen haben, meine Frau zu werden? Wenn Sie mich nicht mögen, so wissen Sie es jetzt schon u. ich bitte Sie in diesem Falle mir dieses Briefchen mit einem darüber od. darunter geschrieben Nein heute Abend noch zurückzustellen, damit wir dann über die Sachen lachen können wenn ich zurückkomme. Glauben Sie aber mit mir leben zu können u. wollen sie sich die Sache überlegen so können sie mir das an diesem Abende so zu verstehen geben, wie es Ihnen gefällt u. gut scheint. Vielleicht könnten Sie mir über die Ostertage Gelegenheit geben mich näher auszusprechen u. vielleicht würde J. V. Ihnen hiebei mit Ihrem Rath zu Seite sein da Sie sonst Niemand haben. Alle weitern bei solchen Anlässe übliche Redens Arten, will ich jetzt unterlassen einzig will ich Ihnen sagen, dass es mich sehr glücklich machen würde für Sie sorgen u. leben zu dürfen. Ihr Erg G K»

      Linas Briefentwurf auf der Rückseite einer Menükarte ist in sehr viel herzlicherem Ton gehalten als ihre Antwort vom November 1871 an Huber.

      «G. H. S. [vermutlich: Geehrter Herr Staatsschreiber] Ich kann nicht umhin Ihrem geschätzten Schreiben Einige Worte beizufügen. Genehmigen Sie vor allem meinen besten herzlichsten Dank, für Ihre überaus liebevolle Ansicht, die ebenso unerwartet, als unverhofft an mich gelangte. Der gestrige Abend war wohl derart mich verstehen zu lassen, was Sie mir hier mittheilen u. ich verhehle Ihnen keinen Augenblick, dass mich diese Nachricht (dennoch) ungemein überraschen musste. Allein Sie wissen ja wohl, dass in solchen Angelegenheiten nicht allein der Verstand sondern hauptsächlich das Herz reden soll u. daher zögre nicht länger mit der Antwort wenn Ihnen sage, dass ich auf Ihren wenn auch noch so edeldenckenden Antrag nicht eingehen kann. Genehmigen Sie die Versicherung

      Meines herzlichsten Dankes

      von Ihrer ergebenen

      L. W.»103

      Linas Absage, selbst wenn er sie erwartet hatte, ging Keller nahe. Voll Ironie beschrieb er einige Monate später der Sängerin Emilie Heim seine Verfassung: «Mir selber hat Gott Amohr [sic] wegen eines kleinen Schwabenmädgens noch einen späten Pfeil nachsenden wollen, so dass ich höchlich erschrocken mit dem Bein denselben hab’ abwehren müssen, wobei aber, da ich indessen auf dem andern Bein allein dastund, beinahe die Balance verloren hätte.»104 Da die Episode Keller-Lina in Vergessenheit geraten war, deutete Hans Wysling in seiner Biografie Kellers zu dessen 100. Todestag die Passage literarisch: «Warum aber ‹Schwabenmädgen›? Keller spielt damit auf Gottfried August Bürgers ‹Schwabenmädchen› an.»105 Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit führt der Autor die Quellen dieses Gedichts auf, die zu jenem Zeitpunkt Keller zu Bürger bekannt sein konnten. Dass sich hinter der Briefstelle tatsächlich ein Schwabenmädchen verbarg, ahnte er nicht.

      Lina bewunderte den Literaten Keller. Als sie 1875 in Genf die eben erschienene zweite Folge der «Leute von Seldwyla» las, war sie gefesselt von der Persönlichkeit der Regel Amrein und von deren «schützendem Engel» Fritzli: «Man sieht, dass Keller ein Mann ist, der das Leben versteht, und kennen gelernt hat, als das, was es ist; denn diese Scene ist keine blosse Einbildung, sondern tiefe Wahrheit, die sich oft genug darbietet.» Die Geschichte des einen Gesellen der «Drei gerechten Kammmacher», der in Seldwyla zurück bleibt, erinnerte sie an ihre Zeit in der Bollerei. «Ich finde in diesem Punkt eine ziemliche Ähnlichkeit mit meinem früheren Leben; ich blieb in der Bollerei sitzen im Gefühl, als wäre ich nun halt einfach dafür bestimmt, meine Jugend, meinen Fleiss, meine Kräfte, ja selbst meine Gesundheit zu opfern … Jetzt finde ich, dass in solch unbewusster Pflichttreue eine gewisse Beschränktheit liege.» In Kellers Erzählungen entdeckte sie Ähnlichkeit «mit unserm, namentlich aber mit meinem Leben».106 Gerne würde sie zusammen mit Huber «Romeo und Julia auf dem Dorfe» wieder lesen.

      Während Lina die «Leute von Seldwyla» studierte, hatte Huber als Redaktor der «NZZ» endlich direkten Kontakt zum Schriftsteller. «Später kam ich selber einige Male mit Keller in nähere Berührung, meine Frau aber gar nicht mehr.»107 Sein Mentor Hans Weber, ein guter Freund Kellers, nahm ihn mit zu einem Umtrunk im – inzwischen nicht mehr existierenden – Restaurant zur Meise. Es war ein typischer Männerabend im kellerschen Stil, denn Huber berichtete Lina, «bei nur allzu reichlichem Trinkgelage»108 sei er erst um 1 Uhr morgens ins Bett gekommen.

      Huber muss dem Schriftsteller gegenüber Andeutungen von seinen eigenen literarischen Hoffnungen und Versuchen gemacht haben. «Als ich in jungen Jahren einmal Gottfried Keller von dieser Tätigkeit sprach und beifügte, dass es wohl nicht das richtige [sic] sei, nur so nebenbei der Muse dienen zu wollen, unter Hinweis auf das, was er in seinem Störteler darüber gesagt habe, entgegnete