Verena E. Müller

Liebe und Vernunft


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Emmas Einsegnung wurde 1867 die hoch ansteckende Cholera in Zürich eingeschleppt. Das Diakoniewerk stellte ein Absonderungshaus zur Verfügung. Ein Los bestimmte, welche vier Pflegerinnen zum lebensgefährlichen Einsatz kamen. Die Leitung überliess Gott die Entscheidung, wer sich der Krankheit auszusetzen hatte, die Wahl fiel unter anderem auf Emma Huber. Alle vier Frauen überlebten. Dies war umso erstaunlicher, als jedes Jahr eine Anzahl junger Diakonissen starb, die sich in irgendeiner Form bei Patienten angesteckt hatten.49 Das Diakoniewerk stand deswegen immer wieder in der Kritik der Öffentlichkeit.

      Besonders dramatisch war die Auseinandersetzung zwischen Mutter Huber und ihrem ältesten Sohn August. «Mit August betraf es eine Liebschaft mit einer netten Jungfer aus nicht gerade best beläumdeter Familie, aber einem braven Kind, das August seit der Industrieschule liebte und zwar treu und unschuldig, doch aber verständlich genug ihr von Liebe gesprochen und volle Gegenliebe erfahren hatte.»50 Mutter Huber konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, August, das Familienoberhaupt, an eine ökonomisch zweifelhafte Partie zu verlieren. «Sie kämpfte dagegen mit allen Waffen und August war anfänglich hartnäckig», doch hielt er dem Druck nicht stand und die Beziehung kühlte ab. Er stürzte sich «in einen andern Strudel hinein», verlor dabei seine Gesundheit, «was ihn zwang, den Gedanken der Heirath auf Jahre hinauszuschieben».51 Erst zu diesem Zeitpunkt bereute Mutter Huber ihr abweisendes Benehmen.

      Huber schrieb über diese Jahre später: «Es waren die Zeiten, da ich nach den glücklichen Schulanfängen anfieng, liederlich zu werden, allen fantastischen Erfolgen nachzujagen und anderes mehr. Meine Natur wehrte sich unter dem Einfluss der ruhelosesten häuslichen Vorkommnisse. Keine Liebe, kein Glück wurde mir zuteil.»52 Trotz allem ergriff Huber stets die Partei der Mutter.

      Auch wenn Hubers Tagebuch vor allem unerfreuliche Vorkommnisse aufzeichnete, bestand sein Leben nicht nur aus Trübsinn. Mit seinen Freunden oder im Familienkreis unternahm er immer wieder kleinere oder grössere Reisen. Im Sommer 1866 begleitete er seine kränkliche Mutter nach Seelisberg. «Ich war nach Familienbeschluss zum Kavalier auserkoren, nahm voller Freude den Posten an.» Auf der Hinreise besuchten Mutter und Sohn in Luzern das Löwendenkmal. Gemeinsam fuhren sie auf das Rütli, «wo mich so recht die alt schweizerische Idee umwehte, wie sie alle, die Altväter da kamen und die Freiheit schworen, die wir Schweizer alle noch so tief lieben und für sie zu siegen, oder aber zu sterben bereit sind: wir schritten vorwärts, besuchten nacheinander die schönsten Plätze … von denen ich einige gezeichnet».53 Huber, ein typisches Kind seiner Zeit, liess sich von patriotischen Gefühlen hinreissen. Mit einem Urner Bergführer durfte er den Bauen besteigen. Als er nach dem Abstieg ins Hotel zurückkam, spielte jemand Klavier und Huber bedauerte, seine Flöte in Zürich gelassen zu haben.

      Im Frühling 1868 richteten sich Mutters Zornesausbrüche unvermittelt gegen Eugen. Er beschloss, zu seiner Schwester nach Ägypten zu fliehen. «Es war alles angeordnet und das Geld schon gestohlen»,54 doch kam er mit seinen Plänen bei der Mutter schlecht an. «Da will ich ihr, der Mutter, ganz klar, die Gründe, anstatt nur den Plan angeben. Sie hört eine Weile – und dann werd ich Jesuit gescholten und verketzert. Auch August hilft! Ich bin ein Lümmel, gefehlter Bursche – und Herr Gott – so arg! Mit Prügeln hätte mich die Mutter traktiert, wenn ich nicht geflohen wäre! Und das um Nichts! Um die vernünftige Frage und Bitte!» Mutter Huber war derart aufgebracht, dass sie Trost bei ihrer Schwester in Höngg suchte «und erzählt die Sache dort natürlich nach ihrem Kopfe, mit ihrer Färbung. Auch dort hat sie mich als Jesuit verschrien! Oh! Oh! August verbietet mir, noch ein Wort von der Sache zu schwatzen. Mutter kommt und triumphiert, wie sie es denen in Höngg gesagt und sie ihr geholfen haben. – Oh das alles ertragen müssen an einem Tage! Wo ist ein Ausweg? Wo eine Rettung? Mich tödten? In die Limmath springen?»55 Nun, Huber beruhigte sich wieder. Typisch für die damalige Zeit und Mutters Einstellung ist auch die Verwendung des Begriffs «Jesuit» als Schimpfwort. Noch waren die Wunden des Sonderbundkriegs nicht verheilt.

      Vor diesem Auftritt hatte Huber Pauline in Alexandria umsonst um Hilfe gebeten. «Wie erstaunt es mich, dass die Mutter wieder solche Scenen anfängt, besonders mit Dir, da Du ja bis dahin so bevorzugt warst. Diese Heftigkeiten sind eine Art Krankheit und es wird so Gott will, auch wieder ein Ende haben.» Interessant ist Paulines Vergleich von Männer- und Frauenkarrieren. «Du bist zu jung, um selbständiges Auskommen zu finden (die Frauen können das in deinem Alter, aber von den Männern wird mehr verlangt). Vor Allem … musst du an die Universität gehen, wenn das nicht geschieht, ist deine ganze Zukunft vernichtet.» Und dann spielte die Familiensolidarität. Pauline, die ihr Brot derart mühsam verdienen musste, erklärte sich bereit, 1000 Franken jährlich beizusteuern, damit Huber an einer Universität studieren könne. «Wie traurig ist unsere Familie, ich weiss, dass man so weit getrieben werden kann, dass man nicht mehr weiss, was man thut … ich würde Alles geben, dass du ein wahrhaft gebildeter junger Mensch wirst.56 Paulines Schreiben beruhigte Huber – wenigstens vorläufig. «Es hat mich dies wie der ganze Ton des Briefes ungemein gefreut und ich habe gleich geantwortet: ich erkenne, dass bei der Mutter diese Zornesausbrüche mehr Krankheit als bewusster Herzensakt seien, darum bleibe ich»,57 rapportierte er Kleiner. Ob Mutters Ausbrüche bereits Vorboten ihrer Krebserkrankung waren?

      Huber beschrieb Lina, wie wenig er die Krankheit seiner Mutter verstand: «Da sie als Witwe an der grässlichen Krankheit von keinem ihrer erwachsenen Kinder begriffen, langsam, langsam dahin starb. Auch ich verstand sie zu spät, als sie mir sagte, sei brav – und weiter nichts.»58 Voll Hoffnung las er der Patientin sein neuestes Drama vor, «Die Böcke von Zürich, ein Schauspiel aus den Zeiten des alten Züricher Krieges». Die Mutter hatte alle ihre literarischen Arbeiten vernichtet und mochte ihren Sohn nicht aufmuntern. «Sie lag auf ihrem letzten Krankenlager, als ich ihr meine ‹Böcke› vorlas, und sie meinte, das sei alles recht hübsch, aber der Erfolg! Das sei eine bittere Sache.»59

      Emma wurde zur Pflege der Todkranken nach Hause geholt. «Wir haben gar schon viel miteinander getheilt und die Zeit, die ich bei Hause zubrachte, als die liebe Mutter so todkrank und leidend war, wird mir unvergesslich bleiben, umso mehr, da ich spürte, dass du mit mir gefühlt hast, auch ohne Wort.»60 Die Erfahrung der entsetzlichen Krankheit schweisste Bruder und Schwester zusammen.

      Im Alter von 20 Jahren war Huber nun Vollwaise. Im Gegensatz zu Lina hatte er dank Augusts Fürsorge ein Heim. Zudem erhielt er eine bescheidene Erbschaft. Er beschloss, das ganze Geld in sein Studium zu investieren. Kurz nach Mutters Tod verreiste Huber zu seinem Auslandjahr nach Berlin. Das Dichten gab er bis auf Weiteres auf.61 Ein neues Leben begann.

      DIE BOLLEREI: LINAS LEBENSSCHULE UND ZWEITE HEIMAT

      Am 14. März 1866 kam Lina zu Familie Vontobel in der Bollerei,62 ein «sehr besuchtes» Lokal, dessen «guter Mittagstisch und Bier» der Reiseführer anpries.63 Inzwischen war Lina etwas mehr als 14 Jahre alt und seit acht Monaten Vollwaise. Lina hatte genug vom täglichen Streit zwischen Schwester und Schwager, die sich «sogar einigemal schlugen. Du kannst dir kaum vorstellen», schrieb sie an Huber zurückblickend, «was ich damals gelitten, als Kind von 14 Jahren, ich zog daher vor, lieber zu ganz fremden Leuten zu gehen und kam so vom Regen in die Dachtraufe, zu H[errn] Vontobel».64

      Der Einstieg in die Berufstätigkeit war schwer, das junge Mädchen erledigte die Arbeit einer Erwachsenen. Ihre ersten Erfahrungen geben einen traurigen Eindruck von der damals üblichen Kinderarbeit. Umsonst hatte sich Lina häuslichen Frieden erhofft. «Schon am ersten Samstag, den ich in der Bollerei verlebte, sollte ich ein Bild dieser Ehegatten mir entwerfen. Nach Feierabend etwa um ½ 12 Uhr fieng ich an, die Treppe nebst Hausgang zu fegen und putzen. Ich hielt während der Arbeit einigemal inne, denn ich hörte laut sprechen, machte aber wieder fort und kam so herab bis zur Stubenthüre; ich öffnete um fertig zu machen und hörte die rohesten Worte, die nur ein Fuhrmann sonst gewöhnlich gebraucht und die arme Frau V[ontobel] unter Thränen antworten: ‹Es ist ja schön, dass das junge Kind noch so spät arbeitet.› Nun wusste ich, um was es sich handelte. Dies war die erste Scene, die ich im Vontobelschen Haus erlebt, und nun nahm ich mir fest vor, die nächsten 8 Tage nimmer dort zu sein. Und doch wurden 8 Jahre daraus.»65

      Schwester