gab sich Huber betont bescheiden, während Keller mit seinem trockenen Humor Huber zumindest nicht entmutigte.
Jahrzehnte später lebte die Familie Huber in Halle. Durch die «NZZ» erfuhren Lina und Huber von Kellers Tod am 15. Juli 1890. Ebenfalls der Presse entnahm Huber, dass sein ehemaliger Professor Albert Schneider zum Testamentsvollstrecker bestimmt war. Nun ging es darum, alle Spuren von Gottfried Kellers Werben um Lina im Nachlass zu tilgen. Angeblich in Linas Namen schrieb Huber an Schneider: «In einer ganz vertraulichen Sache möchte ich dich hiemit um deinen gütigen Dienst ersuchen.» Zunächst schilderte er die Beziehung Kellers zu Lina: «Gottfried Keller war seinerzeit ein regelmässiger Gast des Caffe Boller an der Schifflände und war gegen meine 1. Frau während jenen langen Jahren stets besonders theilnehmend u. respektvoll. Dennoch war meine Frau weit entfernt das Verhältnis zu G. K. anders denn von irgend welchen Gedanken dass es sich um eine intime Beziehung handeln könnte, u. als zu einem … Freund aufzufassen u. dies auch dann noch nicht, als ihr Gottfried Keller ein hübsches Geschenk mit einem sehr schönen sinnigen Gedicht widmete.»110 Dann ging es um Kellers Vermächtnis. «Nun ist es ja leicht möglich, dass Keller hierüber Aufzeichnungen, vielleicht die zwei betr. Schriftstücke selbst hinterlassen hat, und so möchte ich dich im Namen meiner Frau angelegentlichst darum bitten, deren Interessen, soweit dies mit deiner Stellung als Kellers Vertrauensmann möglich ist, wahrzunehmen. Am liebsten wäre es ihr, das Schriftstück diese Briefe, wenn sie noch vorhanden sein sollten, zurückzuerhalten. Wir würden sie natürlich alles als pietätvoll aufbewahren. Vielleicht geben auch allfällige Aufzeichnungen Kellers Veranlassung, dafür Sorge zu treffen, dass nicht diese Beziehung, die bis jetzt von beiden Seiten glücklich geheim gehalten worden ist, durch vorzeitiges Bekanntwerden profaniert werde. Vielleicht auch hat Keller umgekehrt selber alles in dieser Hinsicht ausgelöscht und beseitigt, und dann betrachte dies als die Mittheilung eines Freundes, die ausser dir bis jetzt Niemand erhalten hat, und wir wollen dieses Schweigen gemeinsam fortsetzen.» Linas Meinung zu Hubers Vorgehen ist nicht überliefert. Am Ende des Schreibens fügte er bei: «Meine l. Frau hat unabhängig von mir heute morgen selber ein Brieflein an dich aufgesetzt, das ich beilege, um unser Gesuch zu verstärken.»111
Hubers Verschleierungspolitik hatte Erfolg. Kellers Beziehung zu Lina kam erst Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen der kritischen Kellerausgabe ans Licht. Die Dokumente in der Zentralbibliothek Zürich blieben offiziell bis 30 Jahre nach Hubers Tod gesperrt. Selbst Jonas Fränkel, Hubers Kollege an der Universität Bern, der in den 1920er-Jahren die erste Gesamtausgabe Kellers betreute, hatte ausdrücklich keinen Zugang zu diesen Akten.112
Warum liess es Huber nicht bei Linas persönlichem Brief an Schneider bewenden? Meldete sich der alte, eifersüchtige Verehrer zurück? Schneiders Reaktion lässt solches vermuten. Mit klaren Worten wies er seinen ehemaligen, nun arrivierten Schüler zurecht. «Freilich möchte ich dir doch sagen, dass die Werbung eines Mannes wie Gottfried Keller gewiss zu allen Zeiten nur als eine hohe Ehre erscheinen würde, so vernünftig es auch war, sie auszuschlagen, und so sehr auch diese Ablehnung nun wieder zu Gunsten derjenigen spricht, die sie ausgesprochen hat.»113
Wenige Tage vor ihrem Tod im April 1910 übergab Lina ihrer Adoptivtochter Marieli den Rubinring, den sie von Gottfried Keller geschenkt bekommen hatte. Den Opalring, ebenfalls ein Geschenk Kellers, sandte Huber an Linas Patenkind Mariechen Rümelin in Tübingen. Im Brief an seine verstorbene Frau deutete er jene ambivalenten Gefühle an, die er stets mit der Erinnerung an die Bollerei verband: «Den Ring trug ich noch ein paar Stunden an meinem kleinen Finger und betrachtete ihn nach allen Seiten, um ihn mir einzuprägen, bevor ich ihn weggebe. Ich hatte ihn nie so gründlich betrachtet, als du ihn noch etwa trugst. Und ich vergegenwärtigte mir, wie er dir seiner Zeit in deinem damaligen Kreis eine naive Freude bereitet hatte, wie du dafür dem grossen Dichter dankbar gewesen, wie das dich alles Öde der Umgebung überwinden und vergessen liess! Ach, es hat ja auch seine Kehrseite. Ich dachte daher an diesen Ring und anderes immer nur mit einem bangen Gefühl. Bei Mariechen besteht von alledem nichts, auch wenn ich es ihr später sage, dass Gottfried Keller den Ring für dich ausgewählt, wie du kaum neunzehn Jahre zähltest. Es wird Mariechen ein liebes Andenken sein an seine Pathin, und so erfüllt der Ring ein zweites Mal seine Bestimmung, edle Freude zu bereiten!»114
«IHR WILLE ALLEIN FEHLT NOCH ZUR AUSFÜHRUNG»115
Blenden wir ein wenig zurück, ins Jahr 1871, ein Schicksalsjahr in Hubers Leben. Am Neujahrstag stellte er das kommende Jahr unter das optimistische Motto «Es wächst der Mensch mit seinen grösseren Zielen». In den folgenden Monaten waren es allerdings nicht Ziele, sondern Schwierigkeiten, die ihn wachsen liessen: der Beginn seiner langjährigen, schmerzhaften Fussprobleme und die – vorläufig – unglückliche Beziehung zu Lina. Zudem brachte die europäische Geschichte seinen Alltag eine Zeit lang durcheinander.
«Der Nachtwächter singt und bläst sein Horn, die Glocken läuten – das neue Jahr beginnt und mein Streben frischer damit»,116 freute er sich im Tagebuch. Spaziergänge, Eislaufen, das Buchprojekt mit Schulkollege Stoll, diverse Briefe seiner Freunde in der Ferne, die Aufzeichnungen des Monats Januar widerspiegeln ein typisches Studentenleben. Dann beschäftigte ihn plötzlich die grosse Geschichte. Am 1. Februar notierte er: «Übertritt der Franzosen», zwei Tage später: «Mit Wittelsbach am Bahnhof. Kriegselend vor Augen.» In den folgenden Wochen verdrängten Zürcher Ereignisse alles Private aus Hubers Tagebuch.
Gegen Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 stellte Frankreich die sogenannte Bourbakiarmee auf, um Belfort von den Deutschen zurückzuerobern, was misslang. In der Folge kamen vom 1. bis zum 3. Februar 87 000 französische Soldaten und 12 000 Pferde im Vallée de Joux über die Schweizer Grenze; die Zahl der Flüchtlinge entsprach drei Prozent der damaligen Schweizer Bevölkerung. Der junge Schweizer Staat stand vor einer gewaltigen humanitären Aufgabe; die zu betreuenden Soldaten waren schlecht ausgerüstet, unterernährt, viele waren krank. Möglichst rasch verteilte man die Internierten auf 190 Ortschaften in der Schweiz, der Kanton Zürich allein sollte über 12 000 Personen beherbergen bei einer Einwohnerzahl der Stadt von gerade mal gerade mal 20 760.117
Prominente Vertreter der deutschen Kolonie, unter anderem Linas Bewunderer Gottfried Semper sowie der Wagner-Mäzen Otto Wesendonck luden auf den 9. März zu einer Feier des deutschen Sieges in den alten Tonhallesaal118 ein. Während den begeisterten Siegesreden drangen französische Internierte in die Versammlung ein und zettelten eine Schlägerei an, draussen warfen Demonstranten Steine. Die anwesenden Deutschen und ihre Schweizer Freunde mussten diskret fliehen. Die Polizei brauchte Stunden, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, der Zwischenfall hatte die Behörden völlig überrumpelt. In den folgenden Tagen bot Zürich Truppen auf, um jene in Schach zu halten, die die Verhafteten befreien wollten. Am 11. März starben vier teilweise unbeteiligte Personen, als das Militär gegen die Anführer der Krawallanten das Feuer eröffnete. Der Regierungsrat forderte Bundeshilfe an, am 12. März trafen vier Bataillone ein, worauf sich die Proteste legten, und am 19. März die letzten Truppen Zürich verliessen.119 Schon am 9. März hatte sich Huber einen Revolver gekauft und patroullierte an jenem Abend mit seinen Kollegen Stoll und Ziegler durch die Strassen.120 Tags darauf hielten Hubers Schulkollege Wilhelm Oechsli sowie ein Deutscher auf dem Lindenhof – erfolglos – eine beruhigende Rede.121 Am 11. März beschloss die Studentenversammlung eine Adresse an den Senat und beantragte «beim Polizeipräsidenten Mithelfen zu wollen gegen die Unruhestifter»,122 was der Stadtrat dankend zurückwies. Die Studenten verurteilten den Angriff auf das freie Versammlungs- und Vereinsrecht und drückten ihr Bedauern aus, dass ein Grossteil ihrer Lehrer «nicht von diesen rohen Angriffen verschont blieben».123 Auch unter Hubers Dozenten befanden sich deutsche Professoren. Am folgenden Tag notierte er: «Bummel in der Stadt. Keine Unruhen.» Der Spuk war vorüber, Huber wandte sich erneut seinen persönlichen Sorgen zu. Seinem Freund Kleiner, damals Student in Berlin, beschrieb er «die grosse Gefahr, das grosse Unglück», das Zürich getroffen hatte, und bedauerte die «Verletzung der schweizerischen Politik gegen aussen. Die Schweiz, eine internationale Republic im Kleinen, soll Völkersitte, Völkerrecht bilden und hat dies in Zürich verletzt und damit die Axt an ihre eigene Wurzel gelegt.»124
Kaum