er sein Elend, unfreiwillig habe er Zeit zum Nachdenken «wegen einer Entzündung am rechten Fuss, an der ich schon bald drei Wochen laboriere und nun bald acht Tage im Bett bleiben muss». Tag und Nacht sollte er ruhig bleiben «indem ich oft die Nächte vor Schmerz … am Fuss nicht schlafen konnte!» Im Tagebuch fehlte zunächst der Verlauf der Krankheit, Huber las «Die letzten Tage von Pompeji», dann am 18. April heisst es «immer im Bett», schliesslich «schlimmer». Ende Monat wurde er philosophisch. «Eine lange Krankenzeit wegen eines blossen Gelenkleins. Wäre nicht mein immer unerschöpfbarer Humor, ich vermöchte die Geduld nicht zu bewahren … Freilich in mir wächst manches während dieser stillen Zeit heran. Vielleicht noch lange schlimm, um nachher besser zu kommen.»126 Nicht einmal an der Verlobungsfeier Augusts nahm er teil.
Im Mai reiste Huber auf Empfehlung seines Hausarztes zu einer Kur nach Bex. «Allein, allein! Und so soll ich genesen?»127 Doch schon am folgenden Tag tönte es erfreulich anders. «Ich rede zum ersten [sic] mit ihr.» Und kurz darauf «Sie, nur Sie!». Huber hatte sich in eine Pariserin verliebt. Plötzlich war im Tagebuch das Elend seiner Füsse kein Thema mehr, über die Therapien schwieg er sich aus. Huber brachte «Camille» Blumen, ihrer kleinen Schwester «Louison» Schmetterlinge, sein Bruder schickte ihm ein Wörterbuch. Die Gruppe machte gemeinsame Ausflüge, Madame gab Huber Lesetipps. In Zürich wurde August misstrauisch. Mit einem undatierten Brief ermahnte er den Patienten, nur seiner Gesundheit zu leben, bald zurückzukommen und die Arbeit wieder aufzunehmen. «Du bist ja noch dorten gegangen, um gesund zu werden und diesem Zwecke muss natürlich manch Angenehmes geopfert werden.» Huber war so weit genesen, dass er auf der Heimreise vom 13. bis zum 15. Juni Genf besichtigen konnte. Kaum zu Hause beklagte er einen Rückfall. «In Kater zu Haus, kalt, wieder schlimmer.»128
Im Juli konsultierte Huber den Chirurgen Professor Edmund Rose, der ihm keine Hoffnung machte. «Mein Leiden sei quasi unheilbar. Also alles zerstört – Plan und Hoffnung? … Concert der Stuttgarter Virtuosen. Prachtvoll – aber Schmerz während. Was fang ich nun an?»129 Rose fand eine Operation zu gewagt, die Sache sei «nicht bedrückend» und vielleicht würden die Schmerzen mit der Zeit abklingen. Freund Kleiner klagte er sein Elend. «Ich muss meine ganze Lebensweise, vielleicht gar meinen Beruf ändern, vielleicht ja auch meiner gehofften öffentlichen carrriere entsagen», war sein Schicksal «eine stubenluftdurchwürzte ‹Gelehrten›laufbahn»? Freunde kamen selten zu Besuch, immerhin hatte er in Zürcher einen «fidelen Tröster».130 Der Patient erhielt Massschuhe, doch verfolgten und zermürbten ihn Schmerzen. Bei der Schmerzbekämpfung war die damalige Medizin beinahe hilflos. Selbst ein heute so alltägliches Medikament wie Aspirin kam erst 1897 auf den Markt. Im Alter erinnerte sich Huber, wie er sich durch die Krankheit veränderte und sein Studium ernster nahm. «Erst mit dem Sommer 1871 wurde es besser, als ich meine Fusskrankheit herumschleppte und anfing zu lesen und zu zweifeln, oft auch zu verzweifeln.»131
Ab Hochsommer 1871 verkehrte Huber häufiger in der Bollerei, im Tagebuch sind für den Monat August sechs und für September neun Besuche vermerkt. Es ist möglich, dass er im Jahr zuvor erstmals mit seinem Bruder in das Lokal kam,132 anschliessend verbrachte er mehrere Sonntagabende in Gesellschaft von Freunden in der Wirtschaft, einmal notierte er «viel Schach».133
1871 ging es nicht mehr ums Spiel, sondern um Lina. Er beobachtete sie und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zu ihrem Namenstag am 20. September schenkte ihr Huber ein goldenes Uhrenschlüsselchen. Merkte Lina nicht, worum es ging oder übersah sie diskret seine Avancen? Huber war zutiefst verliebt, «Bei Lina und Andeutungen an sie. Pläne!», dann war er niedergeschlagen, wohl weil er in einem andern Gast einen Rivalen vermutete. «Nach Concert Kneiperei in der Bollerei mit den dreien und Dr. Meier. Moralischen.» Die Dinge verliefen nicht nach seinem Wunsch. «Billet an Lina offeriert. Abschlag! Aufrechnung! Abends mit Schaer bei ihr. Beobachten – gegenseitig.» Im Anschluss an ein Konzert war er schon am folgenden Abend wieder im Wirtshaus. «Nachher mit Esslinger in der Bollerei. Tragisch!» Mit einem Freund unternahm Huber einen Ausflug nach Bern. «Geschenk an sie gekauft. Gedankenvolle Rückfahrt.» Mit seiner Gabe hatte er kein Glück. «Missglücken des Geschenkleins an sie. In der Bollerei. Unglückliches Zusammentreffen mit Körner.» Am nächsten Tag verpasste er Lina. Schliesslich: «Bei ihr. Mit Zürcher. Alles vergebens!!! Im Traum bei ihr.»
Huber gab sich nicht geschlagen. Im November schrieb er Lina einen ausführlichen Brief. In seiner gründlichen, umständlichen Art verfasste er keinen glühenden Liebesbrief, sondern ein keineswegs beschönigendes Lebensprogramm, selbst die Zukunft malte er nicht in rosigen Farben.
«Hottingen, den 10. Nov. 71 Abends
Hochzuverehrende Lina!
Nur nach langer tiefer Ueberlegung wage ich es, mit einer Angelegenheit an Sie zu treten, die in Ihre fröhliche sichere Herzensruhe vielleicht unruhige Stunden werfen mag. Ich thue es in der Ueberzeugung, dass in allen Dingen eine offene entschiedene Sprache zum besten Verständnis führt, und in der Ueberzeugung, dass Sie einer solchen Sprache niemals zürnen können. Wenn hinter dem Worte ein fester unerschütterlicher Entschluss begründet liegt, darf man wohl die Verantwortlichkeit auf sich laden, mit der Sprache herausgerückt zu sein. – Dass ich gerade heute vor Sie trete, ist doppelt begründet, einmal darin, dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet, und dann, weil ja auch später voraussichtlich mir nie ein anderes Mittel, mich Ihnen zu nähern, geboten würde, als das, das ich eben heute ergreife. Ich habe es versucht, Ihnen noch und noch näher zu kommen, und gewiss wäre es wünschenswerth gewesen, dass Sie mich, bevor ich Ihnen meine Gedanken eröffnete, genauer kennen gelernt hätten, aber Ihre aussergewöhnlichen Verhältnisse verlangen aussergewöhnliche Schritte und ich lebe der Hoffnung, dass es doch auch auf diesem Wege möglich gemacht werden kann, dass Sie mich begreifen und voll verstehen.
Hochverehrte Lina, es ist nun bald ein Jahr, seit ich Sie zum ersten Mal gesehen – und bald ein Jahr, dass eine Ahnung mein Herz befiel, hier was ich suche gefunden zu haben. Während dieses Jahres haben die Zeit, da ich abgeschlossen für mich die bange Sorge meine gesunden Glieder zu verlieren durchkämpfen musste, haben Beobachten und Nachdenken diese Ahnung in mir zur Gewissheit heranreifen lassen, den Plan, Ihr Schicksal mit dem meinen zu verbinden, war mit dieser Gewissheit in mir beschlossene Sache. Ihr Wille allein fehlt noch zur Ausführung, und diesen Willen zu erlangen, zu erlangen ehe es zu spät ist, ehe Ihre jetzige Lage auf Ihre Gesundheit unverbesserlich einwirkt, das, liebe Lina, nehmen Sie voraus an als die Seele dieses Briefes.
Auch ich bin ein Waise. Doch kannte ich wenigstens meine Mutter noch und lebte mit ihr bis vor wenigen Jahren und lebte mit ihr in innigem vertrauensvollen Zusammensein. Sie starb – mit ihr das einzige Wesen, an dessen Liebe ich mit ganzer Herzensmacht gehangen. Ich verliess wie ein Heimathloser, die Schweiz, soweit meine Mittel reichten, durchreiste ich fremde Länder, und unter Enttäuschungen und Erfahrungen aller Art bildete ich mir einen Lebensgrundsatz, den die Mutter mir schon ins Herz gepflanzt, im Wirken und Leben für die Mitwelt meine einzige Befriedigung zu suchen. Im Ringen, diesen Gedanken in mir zu läutern, in mir die Ausbildung zu erlangen, die uns erst volle Kraft gibt, auf unsre Umgebung einzuwirken, mitten in diesem Ringen traten Sie vor meine Augen. – Anstaunend sah ich hier eine selbstlose Pflichttreue, eine sich selber unbewusste Geistes- und Gemüthstiefe, die mich unwiderstehlich an verflossene Tage erinnern musste, in unzähligen Zügen Ihres Wesens weckten Sie in mir das Andenken an das theure Bild der Verstorbenen, fehlten auch Gelegenheit und gegenseitige Kentniss, um zu reden, zu fühlen, wie ich mit ihr es konnte, – diese kleinen und grossen Züge überzeugten mich doch, dass ich nicht irre, u. dass nur die Entwicklungsrichtung verschieden, der innerste Grund unserer Herzen aber verwandt sein müsse. Ich baute mir in Plänen das Glück aus, dass wir in gegenseitiger Liebe uns vereinen werden und dass wir in dieser Vereinigung uns helfend und unterstützend trotz aller Winkelzüge widrigen Geschickes, die ja nie zu fehlen pflegen, ein schönes Leben glücklich theilen und geniessen werden. Ich kann diese Liebe von Ihnen jetzt nicht verlangen: Sie kennen mich nicht. Aber das darf ich hoffen, dass Sie meiner Liebe vertrauen, dass Sie auf den Plan eingehen, wenn ich es möglich machen will, dass Sie an Ihrer Ausbildung denken und arbeiten können, um dann, wenn ich mir eine Existenz gegründet, und wenn Sie sich ein Urtheil über mich gebildet, von Ihnen frei die Antwort zu vernehmen, ob wir dannzumal nur Freunde bleiben wollen,