die Diakonisse war so abgespannt, dass sie unmöglich eine 3te Nacht durchwachen konnte und so war ich gerne bereit sie abzulösen.»85 Friederike Vontobel-Boller starb im Alter von 50 Jahren.86 Lina hatte ihre mütterliche Freundin verloren. In ihrer literarischen Bildung und ihrem Umgang mit den Gästen war sie ein Vorbild für Lina. Lina kam nicht mehr dazu, mit ihr über ihre Beziehung zu Huber zu sprechen. Was hätte ihr wohl Frau Vontobel geraten?
Dank Gottfried Keller sind Einzelheiten aus dem Leben von Friederike Vontobel überliefert: Im Rahmen einer Publikation von Kellerbriefen veröffentlichte die Zeitschrift «Deutsche Dichtung» im Oktober 1890 eine Ode an Frau Vontobel. Am 26. Dezember 1873 hatte Keller diese Dichtung seinem Freund Friedrich Theodor Vischer87 zugeschickt, «ein wirkliches Biedermeierprodukt … vom rüden und borstigen Dr. Meyer genannt Schneckenmeyer»,88 kommentierte Keller boshaft. Arnold Meyer, Privatdozent am Polytechnikum, war Frau Vontobels Bewunderer.
«Nachruf an Frau Vontobel89
O Schicksal, an dem Menschenwille So schnell und unerwartet bricht!
Nun steht dies Herz für immer stille,
Das nur geschlagen für die Pflicht!
Du gehst dahin zum ew’gen Frieden
Als du ganz nahe sahest schon
Des Abends würdge Ruh hinieden
Als langen treuen Wirkens Lohn!
Geboren in des Wohlstands Schoosse,
Geadelt durch des Geistes Weh’n
Hast du, verfolgt von schlimmem Loose,
Das Glück stets nur von fern geseh’n.
Als Mädchen schon sahst du sie sterben
Die Rosen, die der Lenz uns bringt:
Kaum will dein Liebster um die werben,
Als seine Todtengloc’ erklingt.
Den Zweiten kannt’ ich: Freund der Wahrheit,
Als Mann noch voll von Ideal
War er erwacht zur Lebensklarheit
Als er erlag der Herzensqual.
Da weintest du; die letzte Flamme
Erlosch in dir mit seinem Tod;
Doch geistesstark wardst du zur Amme
Der Deinen nun, im Kampf ums Brod.
Und als sie beide leise wallten
Vom Lebe hin zur Ewigkeit
Sah man dich ruhlos um sie schalten,
Als Schwester der Barmherzigkeit.
Zum Abend wurde so dein Morgen,
Doch als du lebtest neuer Pflicht,
Beladen nun mit neuen Sorgen,
Ward deiner Gäste Kreis dein Licht.
Da kommen sie von allen Enden,
des Mittags und des Abends früh
Zum trauten Port der ‹…-Länden›
Zum Ausruhn von des Tages Müh.
Der Fabrikant, des Staates Leiter,
Der Studio voll der Illusion.
Der Philosoph, der Handarbeiter
Und auch der Schiffahrt derber Sohn.
Und soviel Freunde als der Gäste
Gewannst du dir, so schlicht und recht,
Denn jeden grüsstest du auf’s Beste,
Ob reich, ob arm, ob Herr, ob Knecht.
Gern nahmst du, wenn’s die Zeit erlaubte,
Theil an Gesprächen ernster Art;
Es sagte jeder, was er glaubte,
und widersprachst du, war es zart.
Und weisst du noch, vor vielen Jahren,
Als Vischer unsern Kreis beehrt,
Wie freudig überrascht wir waren,
Als du aus Klopstock ihn belehrt?
So warst du stets ein Bild der Milde,
Gekrönt durch edle Festigkeit.
Drum lieben wir dich noch im Bilde,
Fort, lange über deine Zeit.
So ruh denn sonst im Schooss der Erde,
Du wackre Wirthschaftsführerin;
So lange ich noch leben werde
Kommt ‹Rikli› mir nicht aus dem Sinn.»
Auf den 1. Januar 1874 übernahm eine neue Gerantin, Frau Weiss, das Lokal. Noch stand Lina der Abschied von Herrn Vontobel bevor. Dieser litt an einer schlimmen Erkrankung der Blase.90 Wiederum erlebte Lina Dramatisches: «Die Augen sind schon ganz trübe, die Kräfte nehmen von Stunde zu Stunde ab … Etwa um 1 Uhr in der Nacht ging ich noch zu ihm um zu sehen, wie es gehe und erhielt zur Antwort: Lina, ich muss bald sterben, es währt immer lang.»91 Der qualvolle Todeskampf zog sich über zwölf Stunden hin. David Vontobel war bereits bewusstlos, als sein Bruder auftauchte. Kaum hatte der Wirt den letzten Atemzug getan, nahm der ungebetene Besucher die Schlüssel ab, packte allerhand ein, selbst den Ehering der verstorbenen Frau Votobel liess er mitlaufen und wollte sich eben davon machen. Inzwischen war Lina aufs Waisenamt geeilt und kam mit dessen Direktor zurück. «O! es war grässlich solch ein Aufzug neben einer Leiche!»92 Der «schöne Bruder» musste seine Taschen leeren.
Ihre Wertpapiere hatte Lina bei Herrn Vontobel hinterlegt. Wenige Tage vor seinem Tod übergab er ihr die Unterlagen, ihren ausstehenden Lohn und ein Neujahrsgeschenk. Gross war Linas Überraschung, als sie einige Wochen später erfuhr, dass David Vontobel ihr testamentarisch tausend Franken vermacht hatte. Das war ein Drittel ihres Vermögens, das sie später in die Ehe einbrachte.
FRAU KELLER ODER FRAU HUBER? WERBEN UM LINA
Erst seit wenigen Jahrzehnten ist bekannt, dass Zürichs Staatsschreiber und bedeutendster Schriftsteller Gottfried Keller ebenfalls um Lina warb. Nach Kellers Tod gab sich Huber alle Mühe, diese Episode vergessen zu lassen. Deshalb lässt sich heute nicht mehr feststellen, wann genau Kellers Interesse an Lina erwachte.93
Während längerer Zeit muss Lina mit gesundheitlichen Problemen gekämpft haben. Auch Gottfried Keller war überzeugt, dass Linas Gesundheit ernsthaft bedroht war. Sie hustete und ihre Gäste fürchteten wohl, Lina sei an Tuberkulose erkrankt. In seinem ersten Brief an Lina vom Spätherbst 1871 nannte Huber für sein überstürztes Handeln unter anderem als Grund, «dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet … Ihre jetzige Stellung entspricht in keiner Weise Ihrer Gesundheit, und ich darf hinzufügen in keiner Weise Ihren Gemüths- und Geistesanlagen.»94 Er hatte sich mit seiner Schwester Emma beraten und schlug vor, Lina zur Erholung bei einer befreundeten Familie auf dem Land unterzubringen. Postwendend schrieb ihm Lina eine Absage.
Vontobels liessen die kranke Lina nicht fallen, wie sie zu Recht angenommen hatte, jedoch verzögerte sich ihre Genesung. Im Juni 1872 verbrachte sie einen Erholungsurlaub in der Umgebung der Stadt in einer bekannten Heilquelle, dem Nidelbad ob Rüschlikon. Schon 1553 listete der damalige Zürcher Stadtarzt und Naturforscher Conrad Gessner auf, für welche Krankheiten das Bad Heilung versprach.95 Zürcher rapportierte Linas Kuraufenthalt an Huber in Wien.96 Dies löste gleich eine eifersüchtige Reaktion aus: «Ich möchte wissen, in welcher Eigenschaft sie dort weilt, ob die Sache als ein Schritt zur Selbständigkeit aufzufassen ist, oder als ein ihrer Passivität von aussen aufgelegtes Palliativmittel, das sie schliesslich nur noch mehr an Vontobels bindet.»97
Linas Gesundheit