Johanna Maria (1855–1856) und Adolf (1854–1856) nie. Bei deren Tod war sie bereits fünf Jahre alt und musste deren Krankheiten miterlebt haben. Anders verhielt es sich mit Ernst (1841–1859), dem Familienältesten, der 18-jährig starb. Mutter Weissert gelang es nicht, den tiefen Schmerz über den Verlust ihres Sohnes zu überwinden. An Ernsts 13. Todestag berichtete Lina im Brief an Huber: «Mit dem Tode dieses unvergesslichen Bruders begann der erste Schlag, der mir wirklich nahe ging, nicht nur einzig um des lieben Todten willen, sondern weil von da an meine Mutter untröstlich war, Tage, ja oft ganze Nächte hindurch weinte, und weder durch meinen Vater noch durch irgend Jemand Beruhigung finden konnte.» Umsonst schloss Lina ihre Mutter in die Arme, «zu trösten vermochte ich noch nicht».4
Lina stand ihrer Mutter sehr nahe. Mit der um ein Jahr älteren Schwester Emma (1850–1924) stritt sie sich, wer im Haushalt wie viel helfen dürfe. Die Mädchen trugen Wasser, wichsten Schuhe, machten Feuer, kurz, erledigten alle Arbeiten, für die sie gross genug waren. Lina nahm sich vor, sobald sie erwachsen sei, würde sie sich um die Mutter kümmern und diese müsse es schöner haben.5 Trotz allen Schwierigkeiten verstand es Johanna Weissert, den Kindern zum Beispiel an Weihnachten ein frohes Fest zu bereiten. Sie war überzeugt, dass die beiden Mädchen schliefen, wenn sie den Christbaum schmückte, doch die «kleinen Schelme» spähten durch den Vorhang, weil sie die «seligen Stunden» kaum erwarten konnten.6 1864 starb Johanna Weissert. Ihr einziger, letzter Kummer galt Lina. «Um mich war ihr bange, um die andern zwei Geschwister [Pauline und Emma] nicht, das sagte sie noch auf dem Totenbette.»7 Über Johanna Weisserts letzte Krankheit ist nichts Näheres überliefert.
Problemlos schaffte Lina die Schule. Später bedauerte sie, dass ihr das Lernen inzwischen schwerer fiel: «Ich habe nimmer die Leichtigkeit, die ich ehemals in der Schule besass.»8 Leicht habe sie auswendig gelernt, «wie selten eines in der Schule»,9 erinnerte sie sich stolz. Aus jener Zeit ist auch die Anekdote vom «furchtbar strengen Lehrer» der letzten Klasse überliefert. An ihn erinnerte sie sich «nicht anders als mit gewisser Furcht». Als er den Kindern das Aufsatzthema «Rom ist nicht an einem Tag erstanden» stellte, konnte niemand das Sprichwort deuten. «Und so diktierte uns der Lehrer, Rom ist nicht an einem Tag entstanden; es haben viele fleissige Leute Tage und Jahre lang daran gearbeitet und nicht nachgelassen bis die prächtige Stadt sich nach und nach erhoben; so ist Rom entstanden: Was Du zu thun beabsichtigst, mach’s auch so!» Dem Schulmeister war es gelungen, mit seiner Interpretation in Lina schwäbische Arbeitsmoral, Freude an Leistung und Erfolg einzupflanzen. Es war ein Satz, «der mir als Kind schon so wohl gefiel und den ich wohl nie vergessen werde»,10 schrieb sie Huber und ermunterte ihren Verlobten zum Durchhalten.
Nach dem Tod seiner Frau entschloss sich Johannes Weissert, mit Emma und Lina zur verheirateten Tochter Pauline in die Schweiz zu ziehen. Am 1. August 1864 traf das Trio in Zürich ein «und wir Kinder mit unsern naiven Ansichten glaubten, die grösste Stadt der Welt zu sehen. Wir taumelten in reinstem Glück …»11 Für Lina war es der endgültige Abschied von ihrer württembergischen Heimat. Die Faszination, die Zürich auf die Kinder ausübte, ist umso erstaunlicher, als Heilbronn damals grösser war und mehr Einwohner zählte. Immerhin war das erste Dampfschiff, die «Minerva», schon seit 1835 auf dem Zürichsee unterwegs.
Die beiden Mädchen lebten bei Schwester Pauline und Schwager Blatter an einem malerischen Platz in der Altstadt an der Oberen Zäune 66, der Vater hauste als Untermieter in der Nähe an der Niederdorfstrasse 47.12 Über Johannes Weissert berichtete seine Tochter kaum etwas. Mit einem einzigen Satz beschreibt sie in einem Brief die Welt ihres Vaters: «‹Nur immer kaltblütig›, waren die täglichen Worte meines Vaters, bei allem was Unangenehmes vorkam.»13 Drückt dieser Satz einen gewissen Gleichmut aus – oder war es Ergebenheit ins Schicksal?
Die Freude über das neue Leben war kurz. «Die erste Zeit gings natürlich schön, wir kamen überall herum, der gute Vater wurde mit allen Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgebung bekannt gemacht, und so verstrich ein schöner Theil der Zeit bis der Vater sah, dass er in Zürich nicht fand, was er suchte, eine Stellung die seinem Alter und seinem Handwerk entsprach, denn hätte ihm die Schwester nicht so grosse Versprechungen gemacht, er wäre nie mit uns Kindern nach der Schweiz gekommen. Des Suchens und Nichts Findens wurde er zuletzt überdrüssig und so sagte er denn Zürich Adieu, nachdem er einen schönen Theil seines Geldes verbraucht hatte. Er entschloss sich, mit Emma nach Heilbronn zurückzukehren, dort sein Geschäft wieder anzufangen und dann nachher mich nach Hause zu nehmen.»14 Wenige Wochen nach der Heimkehr starb Johannes Weissert am 12. Juli 1865. Lina, noch nicht 14-jährig, war nun Vollwaise, ihre Schwester Emma kam wieder nach Zürich.
Die 15-jährige Emma sollte sofort ihren Teil zum Familienbudget beitragen. Sie machte Wollarbeiten in einem Geschäft, doch das viele Sitzen bekam ihr nicht. Anderswo, als Botengängerin, klagte sie über schmerzende Füsse und gab auch diese Stelle auf.
Lina hatte miterlebt, wie Pauline und Johann Hartmann Blatter in stetem Unfrieden lebten. Regelmässig drohte die Gattin ihrem Mann, ihn zu verlassen. Eines Tages verschwand sie mit Emma und Lina, übernachtete bei einer Polizeidienersfrau und kehrte erst am folgenden Abend wieder heim.15 Im November 1865 wurde Lina Dienstbotin bei einer Wirtsfamilie, verliess diese aber nach drei Monaten und wohnte nochmals kurze Zeit bei Schwester und Schwager Blatter. Erst mit Antritt der Stelle in der Bollerei und der Beziehung zur Familie Vontobel wurde die Trennung endgültig.
Linas Verhältnis zu Pauline blieb auch nach ihrem Wegzug angespannt: «Ich mag noch schreiben wie ich will, ich werde immer falsch verstanden».16 Pauline habe seit jeher einen «neidischen Ton» ihr gegenüber gehabt und es gebe keine Briefe «ohne Zankereien»,17 beklagte sich Lina bei Huber. Allerdings war auch Lina zurückhaltend mit wichtigen Nachrichten. Sie informierte Familie Blatter nicht, bevor sie 1874 die Bollerei und Zürich verliess, wollte weder «Zu- noch Abratungen»18 hören und verbat sich jede Einmischung.
Linas Schwager Johann Hartmann Blatter – die Familie hatte eine Tochter Emma und wohnte inzwischen in Basel – war Mitglied des dortigen Polizeikorps. Im Oktober 1874 erhielt sie die Nachricht, er sei «schnell und unerwartet»19 gestorben. Erst Mitte November erfuhr Lina nähere Einzelheiten zu Blatters Tod. In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1874 hatte sich eine Tragödie abgespielt: Der Gefreite Blatter hatte sich auf dem Polizeiposten bei der Rheinbrücke mit seiner Dienstwaffe erschossen. Unmittelbarer Anlass war ein geringfügiges Vermögensdelikt. Im Abschiedsbrief an seinen Vorgesetzten Major Hoffmann beklagte er sich wortreich, dass er seit Längerem von einem gewissen Haller «verfolgt und sogar im Dienste mit Beschimpfungen beleidigt» worden sei. An die Adresse seiner Kollegen schrieb er in einem zweiten Brief: «Wünsche zu meinem Abschiede, dass jeder seinem Vorgesetzten den gehörigen Gehorsam leisten möge, jedoch sich nicht unterdrücken oder coujonieren lasse.» Waren es wirklich nur Probleme am Arbeitsplatz, die ihn in den Tod trieben? Trotz früherer Streitereien verabschiedete er sich von seiner Frau Pauline versöhnlich: «… ich weiss mit Wissen und Gewissen, dass du mir … stets eine treue und rechtschaffene Hausmutter warst. Leid thut es mir, dass ich mich auf eine solche Art und Weise von dir trennen muss. Wünsche dir und meinem kleinen Emma ein langes Leben, gute Gesundheit.»20
Paulines unglückliche Ehe hatte elf Jahre gedauert; Linas Schwester war jetzt mittellos. Sie wusste sich zu helfen, eröffnete eine Pension und kochte täglich für über 30 Kostgänger. – Huber war der Familie Blatter nicht gewogen – er fürchtete um Linas Ruf als unverheiratete Frau – und wohl nicht zuletzt um seinen eigenen.
Mit ihrer Schwester Emma (1850–1924) blieb Lina zeitlebens eng verbunden.21 Eine Frau wie Emma Weissert, ohne Ausbildung und Vermögen, hatte keine attraktiven Lebensperspektiven. In München wurde sie – ledig – schwanger, war also im Jargon der Zeit ein «gefallenes Mädchen». «Denke Geliebter, was ich mit meiner Emma durchgemacht, als ich die Nachricht erhielt, sie sei nach Basel gekommen, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Wenn ich zurück denke, wird mir ganz schwarz vor Augen, wenn ich annehme, was für Zeiten schon hinter mir liegen.»22 Das Bébé Emma Weissert kam am 2. Juni 1871 in Basel zur Welt.23 Damals arbeitete Lina in der Bollerei und riskierte, dass jemand den Klatsch nach Zürich trug, mit katastrophalen Folgen für ihr eigenes