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Zivilstand Musiker


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einem Refugium für die neuen Emigranten.77

      Ein andersartiges Beispiel ist, was Thomas Mann später das «Genie-Hospiz» nannte: Während des Kriegs hatten Lily und Hermann Reiff-Sertorius begonnen, jeden Mittwoch zu einem Empfang und meistens einem Hauskonzert einzuladen.78 Ihr Haus an der Mythenstrasse (heute: Genferstrasse) wurde zu einem Treffpunkt von Musikern und Schriftstellern, Einheimischen und Gästen, Arrivierten und Nachwuchstalenten. Auch Alexander Schaichet gehörte zu diesem Kreis. Die Gastgeberin (1866–1958) war Musikerin aus Bamberg, ihr Mann (1856–1938), der Neigung nach Cellist, hatte die von seinem Vater gegründete Firma übernommen, die dann ein Teil der Schweizerischen Seidengaze-Fabrik AG wurde. Von 1907 bis 1935 war er Präsident der Tonhalle-Gesellschaft, zudem war er in der Einwohner-Armenpflege engagiert. Ragte diese kulturelle Gastfreundschaft heraus, so war sie im Bürgertum an sich nichts völlig Ungewöhnliches. So führten der spätere Stadtrat Hermann Häberlin und seine Frau ebenfalls in der Kriegszeit einen (monatlichen) «jour fixe» ein, an dem Musiker und Dichterinnen auftraten.79

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      Das Ehepaar Irma und Alexander Schaichet traf sich ab 1918 immer wieder mit ihrem engen Freund und Cellisten Joachim Stutschewsky zum Klaviertrio.

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      Alexander Schaichet pflegte eine enge Beziehung zu den Künstlern des Stadttheaters. 1930 unterstützte er es mit einem Benefizkonzert. Mitwirkende waren unter anderem Gregor Rabinovitch und Kurt Schwitters.

      Trotz bemerkenswerter Kontinuität gab es im kulturellen Leben der Nachkriegszeit auch Zeichen von Krise und Wandel. Zum einen gingen in den wirtschaftlich schwierigen Jahren die Einnahmen (von Besuchern und Gönnern) zurück. Zum anderen kamen längerfristig weitere, auch technisch neue Angebote auf, die Herkömmliches mindestens indirekt konkurrenzierten. Dazu gehörten der künstlerische Film, die kantonale Volkshochschule als Einrichtung der Erwachsenenbildung und das Radio – 1923 übertrug ein Versuchssender aus der Tonhalle das erste «Fernkonzert».80 Besonders der Lesezirkel Hottingen, der viel dem Engagement der Gründergeneration verdankte, bekam die Veränderungen allmählich zu spüren. Die grossen Institutionen erhielten hingegen zunehmende Unterstützung seitens der Stadt.81

      In einer Zeit von Knappheit, Grippe und Streiks, im September 1918, stimmte das Volk mit Zweidrittelmehr höheren Beiträgen an das Stadttheater zu. 130 000 der total 330 000 Franken pro Jahr waren für Schul- und Volksvorstellungen bestimmt. Die SP trug diese Politik mit, anerkannte somit wie der Stadtrat den «volkserzieherischen» Wert von Kunst und wollte breiten Kreisen den Zugang dazu erleichtern. 1901 hatte sie einen einmaligen Zustupf noch erfolgreich bekämpft, zumal das Stadttheater «keine wahre Volksbildungsstätte» sei, wie es das parteinahe Volksrecht gewiss nicht unzutreffend formulierte.

      Trotz Subvention geriet das Stadttheater 1920 in finanzielle Probleme. Der Verwaltungsrat beschloss daher im folgenden Jahr, sich von der Pfauenbühne zurückzuziehen, was wiederum den Ausschlag dafür gab, dass Alfred Reucker die nach seinen Worten «herrlichste Theaterstadt der Welt» verliess. Unter seinem Nachfolger Paul Trede stabilisierte sich die Lage (Erträge brachte auch der 1924 erstmals veranstaltete Ball). Auch Reuckers Idee von internationalen Festspielen in der Nachsaison wurde wieder aufgegriffen, es bildete sich dafür ein Komitee unter dem freisinnigen Stadtrat Adolf Streuli.82 Nach einer Absage wegen der «ungünstigen Zeitumstände» 1921 kamen vom folgenden Jahr an mehrmals besondere Programme von Bühnen- und Konzertaufführungen zustande. 1923 gastierte sogar Reucker mit der Staatsoper Dresden in Zürich.

      Die Stadt war als Gastspielort nicht zuletzt wegen der Währungsdifferenz attraktiv, sodass es manchmal zu einer unverhältnismässigen Präsenz ausländischer Ensembles kam, die – eine Kehrseite – einheimische Künstler in den Schatten stellten. Einen Gegenakzent setzten Veranstaltungen wie das Schweizerische Tonkünstlerfest, das inländischen Komponisten und Interpreten eine Plattform bot. Es fand – nach 1900 und 1910 – 1920 zum dritten Mal in Zürich statt.83

      Das spätere «Schauspielhaus» am Pfauen ging nach dem Rückzug des Stadttheaters in Pacht an den Berliner Theaterdirektor Franz Wenzler und wurde 1926 von Ferdinand Rieser gekauft. Anfänglich, 1922, rief eine offenbar sehr platte Boulevardproduktion Aufruhr im Saal und eine Boykotterklärung des schweizerischen Studentenverbandes hervor, doch das Programm enthielt auch künstlerisch hochstehende Aufführungen aus einem internationalen Repertoire und beschränkte sich keineswegs auf kommerzielle Unterhaltung.84

      Juden aus Osteuropa – Anfeindungen und Karrieren

      Zürichs Offenheit nach aussen, zumindest hin zum deutschsprachigen Raum, schloss xenophobe Tendenzen keineswegs aus. Dies zeigte sich besonders an der Stellung der Juden aus Osteuropa.85 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren viele Juden, die Russland, Polen und Galizien wegen des Verfolgungsdrucks oder wegen der Bildungs- und Berufsmöglichkeiten im Westen verlassen hatten, in die Schweiz und vor allem nach Zürich gelangt, allenfalls auch nach einem Aufenthalt in Deutschland oder Österreich. Eine städtische Statistik verzeichnet für die Jahre 1911 bis 1917 insgesamt 8000 solcher Zuzüge.86 1920 waren 6500 Juden in Zürich niedergelassen, 2650 davon Ausländer aus Osteuropa. Sie wohnten mehrheitlich in Aussersihl und Wiedikon, auch in Oberstrass, in der Nähe von Universität und ETH, und waren als Handwerker, Händler und Geschäftsleute, später zunehmend akademisch oder künstlerisch tätig. Auch den schweizerischen und anderen westlichen Juden gegenüber grenzten sich viele ab, und es bildete sich als weitere Gemeinde die Agudas Achim, während andere – sofern nicht völlig säkularisiert – der Israelitischen Cultusgemeinde angehörten.

      Hausierer waren bald Objekt von Misstrauen und Schikanen. Ein verbreitetes, zum Teil «offizielles» Bild der Ostjuden war noch pauschaler negativ. Die russischen Juden stünden «auf der denkbar niedrigsten Kulturstufe», urteilte der freisinnige Stadtrat Robert Welti 1906, und für die Eidgenössische Fremdenpolizei stand 1919 fest, dass die Juden aus Polen und Galizien «sich unserem Volk schwer oder nicht assimilieren» könnten.87 Hinzu kam das Konstrukt des staatsgefährdenden «Judeo-Bolschewismus».88 Die mit der Wohnungsnot oder dem Ausländerrecht begründeten Wegweisungen, besonders nach Kriegsende, trafen Juden aus Osteuropa weit überproportional; es soll sich um Hunderte von Familien gehandelt haben.89

      Die vorher im Allgemeinen recht grosszügige Einbürgerungspraxis wurde durch eine restriktivere und diskriminierende Politik abgelöst, indem der Stadtrat, dem demokratischen Polizeivorstand Hans Kern geschlossen folgend, für Ostjuden die «Assimilation» als Vorbedingung betonte und die Wohnsitzfrist (Wartezeit) 1911 von den üblichen 2 auf 10 und 1920 von den sonst geltenden 10 auf 15 Jahre verlängerte.90 Neben dem «Fremdtum» der Betroffenen diente auch die Gefahr einer feindlichen Haltung der Bevölkerung als Argument. Im Weiteren wurde ein beträchtlicher Teil der Gesuche abgelehnt. Alexander Schaichet hatte bereits nach 13 Jahren – im dritten Anlauf – Erfolg, musste allerdings unschöne öffentliche Vorwürfe über sich ergehen lassen. Der Schuldispens am Sabbat wurde trotz wiederholten Angriffen faktisch gewährt.

      Manifestationen des Antisemitismus riefen immer wieder Reaktionen – von Betroffenen und von Nichtjuden – hervor. Beachtlich sind jedenfalls die Beispiele von Juden aus Osteuropa, die in diesem Umfeld besondere Positionen erlangten. David Farbstein, 1868 in Warschau geboren und als Student in die Schweiz gekommen, wurde Rechtsanwalt, engagierte sich in der SP, ebenso als Zionist, und wurde 1922 Nationalrat.91 Der in Kiew aufgewachsene Ökonom Manuel Saitzew wurde 1921 Professor an der Universität. Tadeusz Reichstein, ab 1937 ETH-Professor für Chemie und später mit dem Medizin-Nobelpreis gewürdigt, war in Polen geboren worden, als Kind in die Schweiz gekommen und 1914 Zürcher Bürger geworden. Lazar Wechsler, polnischer Herkunft, seit 1914 in Zürich, gründete 1924 die Praesens-Film AG, die in den 1930er-Jahren «den Schweizer Film» hervorbringen sollte. Die gebürtigen Ukrainer Sinai Tschulok und Max Husmann waren Pioniere mit ihren Privatschulen, die auf die Maturität vorbereiteten.92 Gegen subtile oder massivere Widerstände hatten wohl viele Ostjuden anzukämpfen. Der bereits erwähnte