Das ist ganz besonders dann der Fall, wenn die Gewissensüberzeugung vorherrscht, dass die frühere, unheilbar zerbrochene Ehe niemals gültig war. Eine ähnliche Situation liegt nahe, wenn die Betroffenen schon einen längeren Weg der Besinnung und der Buße zurückgelegt haben. Hinzu kommt das Vorliegen einer unlösbaren Pflichtenkollision, wo das Verlassen der neuen Familie schweres Unrecht heraufbeschwören würde. Eine solche Entscheidung kann nur der Einzelne in einer persönlichen Gewissensentscheidung unvertretbar fällen. Er braucht dafür aber den klärenden Beistand und die unvoreingenommene Begleitung des kirchlichen Amtes, das die Gewissen schärft und dafür sorgt, dass die grundlegende Ordnung der Kirche nicht verletzt wird. Der Priester wird eine so getroffene Gewissensentscheidung gegen Verurteilungen und Verdächtigungen schützen, aber auch Sorge tragen, dass die Gemeinde keinen Anstoß daran nimmt. Bei dieser Gewissensentscheidung sind folgende Kriterien unerlässlich: Wo beim Scheitern der ersten Ehe schweres Versagen mit im Spiel war, müssen die übernommene Verantwortung anerkannt und die begangene Schuld bereut werden. Es muss glaubhaft feststehen, dass eine Rückkehr zum ersten Partner wirklich nicht möglich ist und die erste Ehe beim besten Willen nicht wieder belebt werden kann. Begangenes Unrecht und ein angerichteter Schaden müssen nach Kräften wiedergutgemacht werden, soweit dies möglich ist. Zu dieser Wiedergutmachung gehört auch die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber Frau und Kindern aus der ersten Ehe. Es ist darauf zu achten, ob ein Partner seine erste Ehe unter großem öffentlichen Aufsehen und evtl. sogar Ärgernis zerbrochen hat. Die zweite eheliche Gemeinschaft muss sich über einen längeren Zeitraum hinweg im Sinne eines entschiedenen und auch öffentlich erkennbaren Willens zum dauerhaften Zusammenleben nach der Ordnung der Ehe und als sittliche Realität bewährt haben. Es muss geprüft werden, ob das Festhalten an der zweiten Bindung gegenüber dem Partner und den Kindern eine neue sittliche Verpflichtung geworden ist. Es muss hinreichend feststehen, dass die Partner wirklich aus dem christlichen Glauben zu leben versuchen und aus lauteren Motiven, d. h. aus echten religiösen Beweggründen auch am sakramentalen Leben der Kirche teilnehmen wollen. Ähnliches gilt für die Erziehung der Kinder. Am Schluss des Schreibens wird an den Satz des Kirchenvaters Gregor von Nazianz erinnert: „Nicht durch Strenge übertreiben, nicht durch schwächliche Nachgiebigkeit revoltieren.“8
Die Reaktion Roms
Die Kongregation für die Glaubenslehre beantwortete diesen Vorschlag am 15. Oktober 1994. Das Schreiben wurde an alle Bischöfe der Welt gerichtet. Das anstehende Jahr der Familie sollte dafür einen verobjektivierten Anlass bieten. So hieß es ganz allgemein zu Beginn: „Das internationale Jahr der Familie bietet eine wichtige Gelegenheit, die Zeugnisse der Liebe und der Sorge der Kirche für die Familie wieder zu entdecken und zugleich die unschätzbaren Reichtümer der christlichen Ehe, die das Fundament der Familie bildet, erneut vorzulegen […]. In diesem Anliegen wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Gegenden (!) unterschiedliche pastorale Lösungen vorgeschlagen, denen zufolge zwar eine allgemeine Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur heiligen Kommunion nicht möglich wäre, sie aber in bestimmten Fällen zum Tisch des Herrn hinzutreten könnten, sofern sie sich in ihrem Gewissensurteil dazu ermächtigt hielten.“9 Das Schreiben hält dagegen fest, es komme dem universalen Lehramt der Kirche zu, in Treue zur heiligen Schrift und zur Tradition das Glaubensgut zu verkünden und authentisch auszulegen.
Wiederverheiratete Geschiedene leben demzufolge in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht, und darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, die Kommunion nicht empfangen. Ein Kommunionempfang im Gegensatz zu den kirchlichen Normen ist ein in sich widersprüchlicher Akt. Die sakramentale Gemeinschaft mit Christus beinhaltet den Gehorsam gegenüber der Ordnung der kirchlichen Gemeinschaft, auch wenn das manchmal schwierig sein kann, und setzt diesen voraus. Zum Schluss folgt die Ermahnung: „Die Pastoral wird alle Kräfte einsetzen müssen, um glaubhaft zu machen, dass es nicht um Diskriminierung geht, sondern einzig um uneingeschränkte Treue zum Willen Christi, der uns die Unauflöslichkeit der Ehe als Gabe des Schöpfers zurückgegeben und neu anvertraut hat. Das Mitleiden und Mitlieben der Hirten und der Gemeinschaft der Gläubigen ist nötig, damit die betroffenen Menschen auch in ihrer Last das süße Joch und die leichte Bürde Jesu erkennen können.“10
In diesem Schreiben wird die Diskrepanz zwischen den Gefühlen und Empfindungen der Menschen und der mittlerweile unverständlich gewordenen lehramtlichen Position deutlich. Den Ausschluss von den Sakramenten als „süßes Joch“ zu umschreiben ist biblische Verhübschung einer rigiden kirchlichen Praxis. Eine Betroffene schreibt in diesem Band vom „drückenden Joch“ der Kirche (S. 38).
Antwortschreiben der Bischöfe
Die oberrheinischen Bischöfe richteten daraufhin ein Schreiben an alle hauptberuflich in der Seelsorge tätigen Damen und Herren in den Diözesen Freiburg im Breisgau, Mainz und Rottenburg-Stuttgart. Sie erkennen darin die Prinzipien des Lehramts an, geben allerdings zu bedenken: „Man kann freilich nicht übersehen, dass es sich bei den wiederverheirateten Geschiedenen oft um sehr schwierige und höchst komplexe menschliche Situationen handelt, in denen die konkrete Anwendung dieser Prinzipien pastoral schwierig ist. Wir haben zu zeigen versucht, warum diese Probleme in unseren modernen westlichen Gesellschaften aus verschiedenen Gründen enorm zugenommen haben. Sie stellen eine pastorale Herausforderung dar, die dringend einer Antwort bedarf. Die allgemeine Norm muss ja nach der traditionellen Lehre der Kirche jeweils auf die konkrete Person und auf deren individuelle Situation bezogen werden, ohne dass dadurch die Norm aufgegeben würde […]. Dabei geht es nicht um eine Aufhebung des geltenden Rechts und der gültigen Norm, sondern in schwierigen und komplexen Situationen um deren Anwendung nach Recht und Billigkeit, so dass der Einmaligkeit der jeweiligen Person Rechnung getragen wird. Das hat nichts mit einer sogenannten ‚Situationspastoral‘ zu tun.“11
Nach Ansicht der drei Bischöfe bleiben mit dieser Erklärung der Glaubenskongregation viele pastorale Probleme weiter ungelöst. Letztlich gehe es bei all diesen Fragen um die rechte Verhältnisbestimmung von allgemein gültiger objektiver Norm und persönlicher Gewissensentscheidung. Zum Schluss des Schreibens wird darauf hingewiesen, dass auch die theologische Wissenschaft sich weiterhin mit diesen Fragen beschäftigen müsse.
Eine solche Beschäftigung der Theologie mit diesen Fragen wird in vorliegendem Buch erneut vorgelegt. Die Beiträge kommen zu dem Ergebnis, dass eine Änderung der bisherigen Praxis nicht nur längst angezeigt, sondern theologisch auch möglich ist.
Warnung vor einem vertikalen Schisma
Walter Kardinal Kasper hat in seinem Buch „Katholische Kirche: Wesen – Wirklichkeit – Sendung“ diese Probleme noch einmal aufgegriffen. Seiner Meinung nach ist eine Pastoral dann von pastoraler Klugheit bestimmt, wenn sie der Logik und der Tugend der Klugheit entsprechend ein allgemein gültiges Gesetz nach den Regeln der praktischen Vernunft person- und situationsgerecht auf konkrete Situationen anwendet. Das ist dann keine Situationsethik, welche die Situation zum Schlüssel der Wahrheitserkenntnis macht, sondern eine seelsorgerliche Haltung, welche angesichts der objektiven Komplexität zu einer gewissenhaften Abwägung kommt. Er verweist darauf, dass dieses Konzept von pastoraler Klugheit im Hintergrund des zusammen mit dem damaligen Erzbischof Oskar Saier und dem damaligen Bischof und jetzigen Kardinal Lehmann im Jahr 1993 unternommenen Vorstoßes zur Pastoral der wiederverheirateten Geschiedenen gewesen sei. Dabei sei die Unauflöslichkeit der Ehe nicht in Frage gestellt worden, ganz im Gegenteil. Auch sollte keine generelle Lösung erzielt werden, sondern die Unterschiedlichkeit und Komplexität einzelner Situationen ernst genommen werden, welche eine Abwägung angemessen erscheinen lassen. Kardinal Kasper fährt fort: „Wenn statt solcher pastoraler Klugheit ein rein pragmatisches Verhalten oder umgekehrt ein wirklichkeitsfernes, letztlich gnadenloses und liebloses Prinzipiendenken vorherrscht, dann kann es zu einem vertikalen Schisma kommen, zwischen Prinzipien, welche oben festgehalten und eingeschärft werden, und der Praxis unten, die oft wild und ungeordnet ihre eigenen Wege geht. Wer die gegenwärtige Situation der Kirche realistisch betrachtet, kann die Gefahr einer solchen Entwicklung nicht übersehen; sie ist in vielen Bereichen der Moral und der Pastoral inzwischen Wirklichkeit geworden.“12