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Lebendige Seelsorge 5/2017


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Lutterbach als „christentumsgeschichtliche Vergewisserung“ und als „historische Fundierung“ seiner Überlegungen zur Wertschätzung von Kindern und Jugendlichen in Gegenwartsgesellschaften anführt, möchte ich hier nicht eingehen. Das Thema ist zu komplex, als dass man ihm mit ein paar Sätzen gerecht werden könnte. Ich konzentriere mich auf die Ausführungen zu seinem wichtigsten Stichwort: Partizipation.

      Beginnen möchte ich allerdings mit ein paar Sätzen zum Verhältnis von katholischer Kirche und UN-Kinderrechtskonvention. Von Herrn Lutterbach erfahren wir, dass der Vatikan „diese vom neutestamentlichen Menschenbild mitgeprägte Konvention […] als erster europäischer Staat unterzeichnet“ hat. Das klingt nach mehr Übereinstimmung und Harmonie als tatsächlich gegeben ist.

      Der UNO-Bericht zu Kinderrechten in der katholischen Kirche, der Anfang 2014 der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde, in dem es nicht nur um den Kindesmissbrauch ging, den ja auch Hubertus Lutterbach anspricht, sondern der auch den Umgang der katholischen Kirche mit Homosexualität und Abtreibung anprangert, ist vom Vatikan harsch als grundsätzliche Kritik an der katholischen Sittenlehre, als Einmischung in die Ausgestaltung der katholischen Lehre, abgewiesen worden. Die UNO, das wird hier deutlich, setzt, anders als der Vatikan, die Kinderrechte absolut.

      In meiner Interpretation ist die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 nicht zuletzt ein Dokument, aus dem die Zeit spricht, in der es konzipiert wurde. Eines ist allerdings unbestreitbar: Die Konvention hat ein neues Kapitel in der Geschichte der Kindheit aufgeschlagen. Zum ersten Mal wird Kindern der Status von Rechtssubjekten zuerkannt, wird auf diese Weise die generationale Ordnung von Gesellschaften und Nationen grundsätzlich infrage gestellt.

      Aber die Konvention hat auch Mängel. Als Ergebnis diplomatischer Verhandlungen in einem Zeitraum von 10 Jahren enthält sie eine Reihe von Kompromissen und lässt viel Interpretationsspielraum. Vor allem muss man sich klarmachen, dass die Konvention in den Achtzigerjahren, und damit zu einer Zeit erarbeitet wurde, in der das Verständnis von Kindheit noch ganz entscheidend von den traditionellen Kinderwissenschaften und dem Entwicklungsparadigma dominiert wurde, sowohl in der Forschung als auch in adultistischen, paternalistischen und familistischen Haltungen, in der Politik und im Handeln.

      Schon deswegen ist die Ratifizierung, die inzwischen, mit Ausnahme der USA, alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen geleistet haben, zwar ein entscheidender Schritt, aber doch nicht alles. Mindestens so wichtig ist die Umsetzung, die Implementierung der in 54 Artikeln fixierten Inhalte, deren Gestaltung den Einzelstaaten obliegt. Es leuchtet ein, dass jeder Staat, der die Konvention ratifiziert hat, alle paar Jahre einer Prüfung durch die UNO unterzogen wird. (Im Fall der katholischen Kirche monierte das UN-Komitee 2014, dass trotz aller Absichtserklärungen und Zusagen bei der ersten Überprüfung im Jahre 1996 praktisch nichts geschehen sei.).

      Die Kritik von Kinderrechtlern und sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschern betrifft nicht nur Probleme der Implementierung, sondern entzündet sich vor allem an den bereits angesprochenen paternalistischen Elementen in verschiedenen Artikeln der Konvention.

      In aller Regel erfolgt die Auseinandersetzung mit den Inhalten entlang der „drei Ps“ (protection, provision, participation). Die Begriffe in der Überschrift von Lutterbachs Beitrag kann man – trotz kleiner Unterschiede – als Synonyme dieser Termini betrachten.

      Ich teile die Sicht der Beziehung von Schutz und Partizipation, die er, Gerison Landsdown zitierend, geltend macht. Die Anerkennung von Kindern als selbständig handelnden und partizipationsfähigen Subjekten ist keine Absage an ihren Schutzbedarf: Schutz ohne Geltendmachen von Rechten öffnet dem sozialen und politischen Paternalismus Tür und Tor.

      Skeptischer bin ich, wenn es um Konkretionen von Partizipation geht. Ich werde hier nicht auf Partizipationsstufen und -modelle eingehen. Diese Diskussion wird auf nationaler und internationaler Ebene seit den Neunzigerjahren intensiv geführt.

      Partizipation ist fester Bestandteil der Sozial- und Kulturarbeit, der Kinder- und Jugendpolitik. Ein Blick ins Internet zeigt, dass hierzulande kein Mangel an Partizipationsprojekten herrscht. Und diese Projekte werden nicht selten – wie auch von Hubertus Lutterbach – Roger Harts „ladder of participation“ zugeordnet. Das ist keineswegs im Sinne des Erfinders. Hart hat sich (2008) in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Stepping back from ‘The Ladder’…“ ausdrücklich von denen distanziert, die seine „Leiter“ als fertiges Konzept betrachten, an dem man die partizipative Arbeit mit Kindern „messen“ kann. Er versteht die Leiter, die er zuerst 1992 bei UNICEF vorgestellt hat – zu einer Zeit, in der Kinderpartizipation noch wenig erforscht war –, als „jumping-off point“, als bloßen Denkanstoß für eigenes Nachdenken.

      Interessant ist, wie bereits angedeutet, immer das Kinderbild, auf dem das Nachdenken über und die Praxis von Partizipation basiert. Bei Hubertus Lutterbach fallen mir Wendungen wie die von einer „altersgemäßen Partizipation junger Menschen am gesellschaftlichen Leben“, „kindgemäße Beteiligung“ und „Entwicklungssituationen von Kindern“ auf, Wendungen, die durchaus im Einklang mit Formulierungen der UN-Kinderrechtskonvention sind, aber zum Beispiel mit Gerison Landsdowns Plädoyer für die Anerkennung der „tatsächlichen Partizipationsfähigkeit von Kindern“ nicht ohne Weiteres vereinbar sind.

      Die tatsächliche Partizipationsfähigkeit von Kindern kann man nämlich nicht einfach an deren Alter ablesen. Sie ist immer ein Ergebnis von Erfahrungen in und mit spezifischen sozialen, kulturellen und materiellen Kontexten. Die Sozialforscherin Priscilla Alderson (2003) notiert als wichtigstes Ergebnis ihrer Forschungen, dass sich „Kompetenz und Autonomie von Kindern in der Hauptsache nicht abhängig vom Alter oder den intellektuellen Fähigkeiten entwickeln, sondern durch direkte persönliche Erfahrung“, und dass Kompetenz und Autonomie bei Kindern ebenso schwanken wie bei Erwachsenen, dass die Ausprägung von Kompetenzen sehr viel mehr vom Kontext und den jeweiligen Vorerfahrungen abhängt als von Eigenschaften wie Alter oder Intelligenz.

      Der Philosoph Nida Rümelin sagt zu den Erfahrungen in seinem „Sokrates-Club“: „Viele Kinder tun sich schwer mit abstraktem Denken und kommen im Grunde immer wieder auf das, was sie gerade erlebt haben, zurück. Und andere Kinder im selben Alter sind schon in der Lage, ein ernsthaftes philosophisches Argument zu entwickeln. Diesen Unterschied hatte ich so groß nicht erwartet“ (Interview Deutschlandfunk Kultur, 27.9.2012).

      Da die UN-Kinderrechtskonvention globale Geltung beansprucht, möchte ich diese Beispiele ergänzen und meine Replik mit einem Blick auf Kinderarbeit in der Dritten Welt abschließen. Im Entwicklungsmodell ist Kinderarbeit nicht vorgesehen. Sie ist, wie Norbert Blüm gesagt hat, „eine Schande für die zivilisierte Menschheit, ohne Abstriche“ (Kampagne gegen Kinderarbeit in der Teppichindustrie, Nr.12, S.1).

      Eine solche, im Kern weit verbreitete, Auffassung universalisiert die spezifischen Merkmale des europäischen Kindheitskonzepts. Notwendig ist stattdessen größere Offenheit gegenüber spezifischen Konstitutionsmerkmalen der Dritten Welt, und, damit verbunden, die Verabschiedung der starren Orientierung am vorherrschenden Kindheitsbild der Ersten Welt.

      Unabdingbar ist eine Auseinandersetzung mit arbeitenden Kindern. Deren Interessen sind nur aus ihren Erfahrungen und ihrer Experten-Sicht heraus verstehbar. Es geht um ihre Lebenswelt und ihre Vorstellungen von einem besseren Leben. Es geht um mehr Einfluss der Kinder bei der Konstruktion von Kindheit und bei der Interpretation von Arbeit, als ihnen gemeinhin zugestanden wird.

      Die Propagierung der Kinderrechtskonvention durch Kinderrechtsgruppen und NGOs hat dazu geführt, dass die Kinder sich zunehmend als eigenständige Rechtssubjekte verstehen. Die Kinderbewegungen, so kann man in einschlägigen Erfahrungsberichten lesen, gehen selektiv mit den Inhalten der Konvention um. Sie greifen die Rechte auf, die Bezug zu ihrer Realität haben…

      Eines sollte deutlich geworden sein: Dies ist kein Plädoyer für Kinderarbeit, sondern ein Beispiel für erfahrungsbasierte und kontextsensible Partizipation an der Gestaltung der eigenen Lebenswelt.

      LITERATUR

      Alderson, Priscilla, Die Autonomie des Kindes – über die Selbstbestimmungsfähigkeit von Kindern in der Medizin, in: Wiesemann, Claudia u.a. (Hg.), Das Kind als Patient, Frankfurt/New York 2003, 28–47.

      Hart, Roger, Stepping