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Lebendige Seelsorge 4/2016


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neutestamentlichen Hohenlied der Liebe, das gleichsam die „tägliche Liebe” als Gnadengaben (Langmut, Güte usw.) durchdekliniert, bis hin zu den theologalen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe. Die ganze Stufenleiter der menschlichen Liebe, von der mystischen bis zur erotischen, also bis hin zu den Leidenschaften und großen Gefühlen kommen zur Sprache (AL 145ff.) und werden als dynamischer Weg dargestellt. Es sind vor allem das vierte und fünfte Kapitel, die Papst Franziskus den Eheleuten zur Lektüre empfiehlt und die realistisch, praktisch und spirituell die eheliche Liebe und ihre Fruchtbarkeit in der Vater- und Mutterschaft empathisch umschreiben. Bezüge auf die „vaterlose Gesellschaft”, auf die „Kunst des Liebens” (Erich Fromm) und „Über die Liebe” (Joseph Pieper) runden das Bild ab. Im sechsten Kapitel, das mehr für Seelsorger gedacht ist, geht es um die Erhaltung der Liebe durch pastorale Hilfestellungen wie Ehevorbereitung und Begleitung, besonders in Zeiten von Krise, Trennung und Scheidung, wobei auch die Folgen für Kinder ins Blickfeld kommen (vgl. AL 245). Themen sind auch konfessionsverbindende und religionsverschiedene Ehen. Dieses Paket der mittleren Kapitel (4-6) bilden die Kernkapitel über die Liebe und die Sorge um Erhalt und Wachstum derselben.

      Das letzte Paket von drei Kapiteln (7-9) ist praktisch orientiert. Hier geht es um die pädagogische Praxis (Erziehung), die pastorale Praxis (Begleiten) und die spirituelle Praxis (Gebet). Zunächst geht es um das Megathema der Erziehung, handele es sich um Sexualerziehung oder um ethische und religiöse Erziehung. Hier folgt der Papst dem Prinzip, dass die Zeit Vorrang vor dem Raum habe, gehe es doch darum, Prozesse auszulösen und nicht Räume zu beherrschen (vgl. AL 261). Dann folgt eine neue Perspektive auf Personen, die unter Situationen verletzter oder verlorener Liebe leiden. Bildlich gesprochen begibt der Papst sich ins „Feldlazarett” (AL 291), eine Metapher, zu der ihn Manzonis Roman „Die Verlobten“ angeregt haben dürfte, denn im Pestlazarett, am Ort des Leidens, wo der Kapuziner die Wunden verbindet, begegnet sich das lange getrennte Liebespaar Renzo und Lucia wieder (vgl. Sievernich, 187f.). Die „Logik der pastoralen Barmherzigkeit” (AL 307) spiegelt sich im päpstlichen Schreiben in einer Trias von Handlungen. Es sind die Tätigkeiten von begleiten, unterscheiden und eingliedern. Im letzten, aber grundlegenden Kapitel kommt die spirituelle Praxis der Familie zur Sprache, welche die Liebe und Sorge füreinander verankert.

      Kurzgefasst lautet der Duktus von Amoris laetitia: Die Realität der Familie wird ins Licht der Liebe getaucht, in dem die Aufgaben pädagogischer, pastoraler und spiritueller Praxis in neuem Licht erscheinen.

      SPRACHE UND UNTERSCHEIDUNG

      Die Familiensynode von 2015 war ein Sprachereignis, nicht nur, weil es die vielsprachige Weltkirche widerspiegelte, sondern auch, weil es durch freimütiges Sprechen (Parrhasia) zu neuen Verständigungsprozessen kam und die Forderung nach einer neuen, besser verständlichen kirchlichen Sprache im Raum stand. Da die Vermittlung des Glaubens mehr denn je eine Sprache verlange, die in der Lage ist, die jüngeren Generationen zu erreichen, plädierte die Synode vielstimmig für eine neue und angemessenere Sprache über Ehe, Freundschaft, Liebe und Sexualität (RF 56).

      In seinem Schreiben Amoris laetitia ist es dem Papst wiederum gelungen, eine neue Sprache zu finden und zum “Sprachereignis” beizutragen, weil sein Sprachstil einladend und positiv wirkt, nicht die doktrinelle Zuspitzung sucht (vgl. Koch, 366ff.). Die Sprache schließt keinen aus und verurteilt nicht, der Ton bleibt wertschätzend und schöpft die pastoralen Möglichkeiten im Geist der Barmherzigkeit aus. Der Papst ändert keine einzige Lehre, aber sein neuer Ton macht die Musik. Er spricht die Sprache der Anerkennung des Anderen. Das ABC des post-synodalen Schreibens lautet auf Anerkennung, Barmherzigkeit und Caritas.

      Die neue Sprache aber ist mit Hilfe einer Kategorie voller Zukunftspotential einzuüben, die Amoris laetitia wie ein roter Faden durchzieht. Es handelt sich um die persönliche und pastorale “Unterscheidung” (ital. discernimento), die den Synodentext (vgl. Schönborn, 111-206) und AL prägt. Die „Unterscheidung der Geister” bezeichnet in der Praxis der ignatianischen Exerzitien eine Unterscheidung der inneren Bewegungen, um eine Entscheidung vorzubereiten. Als Kriterium für diese Unterscheidung gilt nach den Regeln des Ignatius u.a. die „innere Freude” (leticia interna), die geistlichen Trost vermittelt (vgl. Ignatius, Nr. 316).

      Nun gilt die Unterscheidung nicht nur im individuellen geistlichen Prozess, sondern auch in der begleiteten pastoralen Unterscheidung, zum Beispiel in schwierigen Ehe- und Familienfragen, in denen objektive Situationen mit subjektiven Vollzügen des Gewissens zu vermitteln sind. Ein Zitat von Johannes Paul II., ein oft zitierter Satz auf der Synode, lautet: „Die Hirten mögen beherzigen, daß sie um der Liebe willen zur Wahrheit verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden” (Familiaris consortio 84; vgl. RF 85; AL 79). In engem Zusammenhang mit der pastoralen Unterscheidung steht die Lehre über die Würde des Gewissens (vgl. GS 16). Das Ineinanderwirken von verbindlicher kirchlicher Lehre und gewissenhaftem Handeln durchzieht vielfältig den päpstlichen Text. Die pastorale Unterscheidung ist eine praktische Urteilskraft, welche die Lehre mit dem Leben der Personen, Biographien und Situationen verbindet und unterscheidet, um ein religiös und sittlich fundiertes Urteil zu bilden.

      Das Ineinander von verbindlicher Lehre und Gewissensentscheidungen durchzieht den Text.

      In der nachhaltigen Ausbildung dieses Urteilsvermögens durch Unterscheidung bei Lehramt, Volk Gottes und Theologen dürfte die größte pastorale Herausforderung für die Kirche liegen. Durch wachsende Verantwortung wächst eine Freude, an der nicht nur der Papst seine Freude hat. ■

      LITERATUR

      Fischer, Heinz-Joachim, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Sept. 2001, Ereignisse und Gestalten III.

      Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 51965.

      Koch, Heiner, Amoris Laetitia. Eine Erläuterung, in: Stimmen der Zeit 141 (2016) 363-373.

      O’Malley, John W., What happened at Vatican II? Cambridge MA / London 2006.

      Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia über die Liebe in der Familie vom 19. März 2016 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 204), hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2016.

      Schönborn, Christoph (Hg.), Berufung und Sendung der Familie. Die zentralen Texte der Bischofssynode, mit einem Kommentar von Michael Sievernich, Freiburg im Br. 2015 (Relatio finalis, RF).

      Sievernich, Michael (Hg.), Papst Franziskus. Texte, die ihn prägten, Darmstadt 2015.

      Sakrament der Nachfolge

      Papst Franziskus setzt in Amoris laetitia neue Akzente für die kirchliche Ehetheologie. Aus dogmatischer Sicht ist seine Beschreibung der Sakramentalität der Ehe weiterführend. Eine sakramentale Ehe zu schließen ist dem Papst zufolge auch für Katholiken keineswegs selbstverständlich, vielmehr Konsequenz und Ausdruck des Glaubens, der auch in der Lebensform Gestalt finden soll. Julia Knop

      Nach einem etwa zweijährigen umfassenden Beratungs- und Diskussionsprozess, dessen Höhepunkte zwei synodale Versammlungen einer repräsentativen Größe des Weltepiskopats waren, erschien am 8. April 2016 die auf den Josefstag 2016 datierte nachsynodale Exhorte Amoris laetitia (AL) von Papst Franziskus. Anders als vormalige Bischofssynoden und anschließende päpstliche Schreiben wurden Prozess und Ergebnis von einer breiten Öffentlichkeit intensiv wahrgenommen und entsprechend der jeweiligen Debattenlage und Erwartungshaltung vor Ort kommentiert. Hierzulande richtete sich das Augenmerk besonders auf Themen der Partnerschafts- und Familienethik, in denen die katholische Kirche bisher und womöglich grundsätzlich hinter den derzeit dominanten Imperativen westlicher Gesellschaften zurückbleibt: dem Imperativ zu einer grundsätzlichen Säkularisierung sozialer Reglements und politischer Entscheidungsfindung und in Konsequenz dem Imperativ, auf allen gesellschaftlichen Ebenen gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung, Lebensform und Lebensentscheidung vorzugehen.

      Im Hintergrund