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Lebendige Seelsorge 4/2016


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Urteil in Fragen legitimiere, die in säkularen Gesellschaften allein der Gewissensentscheidung des einzelnen obliegen. Fragen wie die nach der Akzeptanz homosexueller Partnerschaften, der Öffnung aller kirchlichen Ämter und Funktionen für Frauen und der vollen Integration von in zweiter Zivilehe verheirateten Paaren sind zu neuen Gretchenfragen geworden. Dabei haben sich die Rollen umgekehrt. Heute befragt keine fromme Margarethe einen religionslosen Faust, sondern die säkulare Moderne die Kirche: Wie hältst du, Kirche, es mit den Errungenschaften der Neuzeit?

      Je nach kirchen- oder gesellschaftspolitischem Standort sagt Franziskus den einen zu diesen Fragen in Amoris laetitia zu wenig, den anderen zu viel bzw. zu vieles zu wenig eindeutig. Zu den hermeneutischen Grundregeln im Umgang mit Texten gehört freilich, einen Text nicht zuerst auf eigene Anliegen und Interessen zu durchforsten und am Maß der eigenen Erwartung Defizite zu markieren, sondern sich umgekehrt in die Leserichtung des Textes hineinzubegeben und auf die Anliegen und Schwerpunkte des Autors tatsächlich einzulassen. In Amoris laetitia streift der Papst durchaus die Felder moderner Gretchenfragen – aber sie stehen nicht im Mittelpunkt. Mittelpunkt der Exhorte ist eine Erneuerung und Vertiefung kirchlicher Ehetheologie und -spiritualität. Daraus ergeben sich im Nachgang durchaus Konsequenzen für die eine oder andere Gretchenfrage; zumindest die der kirchlichen Integration wiederverheiratet Geschiedener spricht Franziskus selbst an (AL, Kapitel 8), nicht ohne sie aber zuvor theologisch umfassend grundzulegen.

       Julia Knop

      geb. 1977, apl. Prof. Dr. theol.; z. Zt. Lehrstuhlvertretung am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster; Studium und Promotion in Bonn, Habilitation in Freiburg/Br., weitere Lehrstuhlvertretungen in Wuppertal und Heidelberg.

      Die folgenden Ausführungen gehen einem Aspekt der Erneuerung der Ehetheologie durch Papst Franziskus nach: der Frage der Sakramentalität der Ehe. In der theologischen Rezeption des Schreibens wurde dieser Punkt bisher kaum thematisiert; er dürfte gleichwohl für die Dogmatik und die ökumenische Diskussion durchaus folgenreich sein.

      GRADUALITÄT DER HEILS- UND LEBENS- GESCHICHTE(N)

      Die familienbezogene Ehe gilt in allen christlichen Konfessionen als Gabe und Ordnung des Schöpfers, die menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen entgegenkommt. Die Weitergabe menschlichen Lebens wird in religiöser Lesart der Welt als Zeichen der fortdauernden Schöpfertätigkeit Gottes verständlich. Zu den Sakramenten zählt die Ehe jedoch nicht in allen Konfessionen. Auch innerhalb der römischen Kirche erfolgte ihre Aufnahme in die Reihe der Sakramente erst spät. Die früheste lehramtliche Nennung stammt aus dem zweiten Laterankonzil 1139. Das spricht noch nicht gegen die Sakramentalität der Ehe; die Herausbildung eines präzisen Sakramentsbegriffs war ein langer und komplexer Prozess. Einmal eingereiht, behält die Eheschließung zudem einen Sonderstatus, weil sie sich nicht ohne Weiteres in die Kategorien und Konzepte der v.a. durch die Scholastik geprägten Sakramententheologie einordnen lässt. Die Einsetzung der Ehe, ihre besondere Gnadenwirkung, die Frage des Spenders, die Bestimmung von Form und Materie dieses Sakraments sowie, umfassender, das Verhältnis von Theologie, Liturgie und Kirchenrecht in Sachen Ehesakrament sind bis heute Gegenstand der theologischen Auseinandersetzung.

      Dass die Ehe in protestantischer Lesart kein Sakrament ist, liegt neben der schwierigen neutestamentlichen Fundierung der Ehe als Sakrament im Wesentlichen daran, dass sie von alters her und konfessionenübergreifend zunächst der Schöpfungsordnung zugeordnet wird. Diese Zuordnung bricht Franziskus in Amoris laetitia konstruktiv auf. Weiterhin sieht er den Ehebund zwischen Mann und Frau in der Schöpfung grundgelegt, unterscheidet aber verschiedene heilsgeschichtliche Stationen. Dazu dient die durch die Kardinäle Schönborn und Kasper in Erinnerung gerufene und dann v.a. durch die außerordentliche Synode 2014 (vgl. Relatio Synodi 2014, Nr. 13–16) herausgearbeitete Hermeneutik der Gradualität. Aufs Ganze der Theologie- und Sozialgeschichte, aber auch auf die lebensgeschichtliche Dynamik einer Paarbeziehung gesehen zeigt sich mit Hilfe dieser Optik eine dynamische, graduelle Entwicklung hin zur sakramentalen Ehe. Als Lebensbund in der Schöpfung grundgelegt, zählt die Ehe als Sakrament zur Erlösungsordnung, weil sie unter gläubigen Getauften zum Medium der Heiligung und Weg der Nachfolge Christi werde.

      Gradualität ist in Amoris laetitia einerseits ein phänomenologisches, andererseits ein konstruktives Mittel. Es dient nicht nur zur Wahrnehmung eines Zustands, sondern auch zur gewissenhaften Beurteilung des Potenzials, das einer konkreten Situation innewohnt. Jede Partnerschaft ist Aufgabe (AL 232) und Weg (AL 211), der nicht mit der Eheschließung endet, sondern während ihrer gesamten Dauer begangen wird und entsprechend begleitet werden muss. Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen für eine individuelle und situationsgerechte Begleitung von Paaren und Familien vor (AL 205; 293) und nach der Eheschließung und auch im Falle einer Trennung. Ehepastoral müsse, so Franziskus, „Seelsorge der Bindung“ (AL 211) sein: Unterstützung der psychosozialen und affektiven Reife, Konfliktfähigkeit und Spiritualität der Partner als Paar (AL 205–232). Die Paare selbst ermutigt er zu einer guten Vorbereitung und Entfaltung der eigenen Bindungsfähigkeit, zum ernsthaften gegenseitigen Kennenlernen (AL 209f.) sowie zur bewussten Vorbereitung auf die Trauliturgie (AL 213).

      Er wendet hier wie so häufig den Blick von einer Darlegung der Doktrin zur Optimierung ihrer biographischen Realisierungsbedingungen. Der Papst macht also nicht die objektive Lehre, sondern die jeweilige tatsächliche Möglichkeit eines Paares als diejenige Weise der Nachfolge verständlich, „die Gott selbst inmitten der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen fordert, auch wenn sie noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspricht“ (AL 303). Nicht nur die Situation selbst, auch die Verantwortung der Betroffenen für das Gewordensein, die Gestalt und Zukunft ihrer Beziehung wird auf diese Weise in die Logik der Gradualität einbezogen.

      SAKRAMENT DER NACHFOLGE UND WEG DER HEILIGUNG

      Wer heiratet – und dazu soll auf breiter Basis ermutigt werden (AL 131; 212) – möge dies weder übereilen noch unnötig verzögern (AL 132), es aus guten Gründen, in Freiheit (AL 217) und mit der nötigen psychoaffektiven Reife und Bindungsfähigkeit tun. Andernfalls würde man von einer religiösen Institution und Tradition „gefangen“ werden, die den einzelnen oder das Paar überfordere und Scheitern vorprogrammiere (AL 132; 210; 218). Franziskus rät Brautleuten in Amoris laetitia und zu anderen Gelegenheiten sehr deutlich dazu, im Vorfeld der Hochzeit nicht nur die Tragfähigkeit der Paarbeziehung realistisch zu überprüfen, sondern sich auch in einem geistlichen Prozess der Frage auszusetzen, ob und wie sie im Glauben gelebt und sakramental besiegelt werden könne. Offenbar hält er dies unter den gewandelten gesellschaftlichen Umständen auch unter Christen nicht für selbstverständlich bzw. rät dazu, es nicht für selbstverständlich zu halten.

      Auf der theologischen Grundlage der Synodendokumente, besonders der Relatio von 2014, beschreibt er das Sakrament bzw. den Lebensstand der Ehe analog zum Lebensstand der Ehelosigkeit als eigenständige kirchliche Berufung, als konkrete Form der Nachfolge Jesu Christi, als „christologisches Zeichen“ (AL 161) sowie, trinitarisch geweitet, als Zeichen des göttlichen Lebens (AL 71; 121; 161). Wie jede Berufung, sei auch die Berufung zur sakramentalen Ehe weder eine Selbstverständlichkeit, für die jedermann und jedefrau qua Geschöpf „gemacht“ und befähigt wäre, noch erschließt sie sich ohne Weiteres außerhalb des christlich-kirchlichen Deutungskontextes.

      Die Ehe als Sakrament verstehen und leben zu können, ist Franziskus zufolge daher nicht nur eine Frage des Getauftseins. Es ist auch eine Frage der Beteiligung und Mündigkeit im Glauben, der Deutung und Gestaltung des gemeinsamen Lebens im Licht der Geschichte Gottes mit den Menschen (AL 30; 221). Sakrament ist die Ehe nicht „als gesellschaftliche Konvention, … leerer Ritus oder … bloß äußerliche[s] Zeichen einer Verpflichtung. Das Sakrament ist eine Gabe für die Heiligung und die Erlösung der Eheleute, denn ihr gegenseitiges Sichgehören macht die Beziehung Christi zur Kirche sakramental gegenwärtig“ (AL 72 als Zitat der Relatio Synodi 2014, Nr. 21).

      Von außen, aus der Beobachterperspektive, ist die so bestimmte sakramentale Dimension einer Partnerschaft nicht erschwinglich; sie braucht die Beteiligtenperspektive der Glaubenden, die sich gemeinsam in die Nachfolge Christi stellen und diesen Weg sakramental besiegeln wollen. Sollte diese Dimension